„Eine virtuelle soziale Bewegung“

Goethe Institut / Interview mit Matthias Quent

Was zieht junge Menschen zur Alternative für Deutschland (AfD) und wie sieht es in anderen Ländern Europas aus? Ein Interview mit dem Soziologen Matthias Quent vom Thüringer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft.

Helen Sibum führte das Gespräch. Sie ist Redakteurin in Frankfurt am Main.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion
Dezember 2016
; siehe auch www.goethe.de 

 

Herr Quent, Jung, männlich, bildungsfern – beschreibt das den „typischen“ AfD-Wähler?

Was zutrifft: Bei den zurückliegenden Landtagswahlen haben mehr Männer als Frauen die AfD gewählt. Zudem war der Anteil der eher gering Gebildeten höher als unter den Wählern anderer Parteien. Mit den Jugendlichen ist es komplizierter: Die Wähler der AfD verteilen sich auf alle Altersgruppen. Noch sind die Jungen nicht besonders anfällig, aber ihr Anteil an den Wählern der Partei steigt. So wie beim Front National in Frankreich: Dort zählte früher vor allem die ältere Landbevölkerung zu den Stammwählern. Das hat sich stark gedreht – 2015 gab jeder dritte unter 25-Jährige an, die Partei wählen zu wollen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die AfD diese Entwicklung nimmt. Anfangs waren ihre Wähler eher älter und besser gebildet, das verschiebt sich nun.
 
Warum wählen junge Menschen AfD?
 
Einer der Gründe ist natürlich, dass Jungwähler eher bereit sind, ihre Stimme experimentell zu vergeben. Sie haben keine langjährigen Bindungen zu Parteien, wie ältere Generationen etwa zur Linkspartei in Ostdeutschland, zu den Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen oder zur Christlich-Sozialen Union (CSU) in Bayern. Auffällig ist allerdings auch, dass die AfD stärker als andere Parteien mit den sozialen Medien arbeitet. Die Bundes-AfD hat bei Facebook mehr als 300.000 „Freunde“, SPD und CDU jeweils nur etwa 120.000. Die AfD nutzt dieses Instrument sehr intensiv und erfolgreich.  

„Inszenierte Aufbruchsstimmung“

So erfolgreich, dass sie damit Wahlentscheidungen beeinflussen kann?
 
Beim einzelnen Nutzer auf jeden Fall. In den sozialen Medien ist eine direkte Ansprache möglich. Das wissen auch die Landes- und Ortsverbände der Partei: Auf Facebook können sie zeigen, dass sie mit den Sorgen der Leute vor Ort verbunden sind, ohne sich am Wahlkampfstand die Beine in den Bauch zu stehen. Dieses populistische Gebaren als Kümmerer funktioniert offenbar, die Mobilisierungskraft im Internet ist groß. Die AfD inszeniert eine Aufbruchsstimmung und hat damit so etwas wie eine virtuelle soziale Bewegung geschaffen.
 
Warum sind junge Frauen dafür weniger anfällig als junge Männer?
 
Die AfD ist in ihrer ganzen Programmatik eine Partei der männlich-weißen Vorherrschaft der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sie will zahlreiche gesellschaftliche Errungenschaften rückabwickeln. Meiner Ansicht nach basiert ihr Erfolg auf tief sitzenden Ressentiments, die aus wachsender Gleichberechtigung und einer modernen politischen Kultur entstehen. Vor allem Arbeiter und Arbeitslose, und insbesondere Männer, fühlen sich abgehängt. Im Rennen um die besten Plätze starten sie jetzt nicht mehr mit fünf, sondern nur noch mit drei Metern Vorsprung vor Frauen und Menschen aus Einwandererfamilien. Das nehmen sie als ungerecht wahr und diese Frustration ist politisierbar.

„Für liberale Parteien nicht mehr erreichbar“

Was müssten die liberalen Parteien tun, um AfD-Wähler zurückzugewinnen?
 
Es sind vor allem frühere Nichtwähler, die ihr Kreuz bei der AfD machen. Sie waren schon vorher für die liberalen Parteien im Grunde nicht erreichbar. Im Umkehrschluss macht es für diese Parteien keinen Sinn, die AfD in ihren Positionen zu imitieren. Ihre erste Reaktion müsste sein, Haltung zu bewahren und die eigene Linie zu verteidigen.
 
Auch auf die Gefahr hin, dass sie diese Menschen dann gar nicht mehr erreichen?
 
Ich bezweifle, dass das überhaupt noch möglich ist. Deshalb ist es geboten, bei den eigenen Überzeugungen zu bleiben und im Notfall die zehn bis 15 Prozent AfD-Wählerschaft in Kauf zu nehmen, die wir derzeit bei Wahlen beobachten. Diese Gruppe gab es auch schon vor dem Auftauchen der Partei. Während der Debatte um Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab 2010 sagte in Umfragen jeder Fünfte, er würde eine rechtspopulistische Partei wählen.

„Nationale Identität im Vordergrund“

Könnte mehr politische Bildung helfen?
 
Politische Bildung ist wichtig. Allerdings sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass das in der Schule oder an der Universität Gelernte nicht überformt werden kann durch reale Erfahrungen. Natürlich muss man darauf hinweisen, welch katastrophale Geschichte Deutschland hat, dass die Demokratie ein Fortschritt ist und dass die soziale Gleichheit zugenommen hat. Wenn die Menschen sich im Alltag aber als benachteiligt empfinden, ist das ein kaum auflösbarer Widerspruch.
 
Wie verhält es sich in anderen Ländern Europas mit der Jugend und rechtspopulistischen Parteien?
 
Vor allem in Osteuropa gibt es eine neue Generation, die sich selbstbewusst nationalistisch abgrenzt. Sie bezieht sich nicht mehr auf Russland oder die EU, sondern stellt ihre nationale Identität in den Vordergrund und holt damit nach, was die Generation vor ihr abgelegt hat. Dieses Phänomen gibt es auch in anderen Ländern. Außerdem gewinnen in ganz Europa außerparlamentarische Gruppen an Bedeutung. Die Identitäre Bewegung etwa wächst enorm. Sie macht nationalistische, rassistische Angebote und tritt in den sozialen Medien als modern und provokativ auf. Gleichzeitig steigt die Zahl rechter Gewalttaten. Wir beobachten eine Radikalisierung, die Schlimmes vermuten lässt.