Unsere Gesellschaft auf Rassismus durchleuchtet - Bericht zur 1. Öffentlichen Sitzung der „Enquete Rassismus“ in Thüringen

von Janine Dieckmann

Die erste öffentliche Sitzung der Enquete-Kommission „Ursachen und Formen von Rassismus und Diskriminierungen in Thüringen sowie ihre Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben und die freiheitliche Demokratie“ (kurz: Enquete Rassismus) fand am 15. August 2017 im Thüringer Landtag statt. In dieser Sitzung mit dem ersten Teil der Stellungnahmen der Sachverständigen wurde das Begriffsverständnis von Rassismus ausführlich diskutiert, aber vor allem unsere Gesellschaft in Hinblick auf Rassismus durchleuchtet.

Eine Enquete-Kommission ist ein fraktionsübergreifendes Instrument der politischen Auseinander-setzung, in der sich Wissenschaft und Politik eng über ein spezifisches Thema austauschen. In einer Enquete sind nicht nur Landtagsabgeordnete, sondern auch externe Sachverständige gleichberechtige Mitglieder. Die deutschlandweit erste Enquete zum Thema Rassismus wurde als Schlussfolgerung aus dem Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss von allen Landtagsparteien, außer der AfD, beschlossen. Jede Landtagsfraktion beruft je nach Größe Sachverständige zum Thema ein: Für die Enquete Rassismus sind das drei Sachverständige der Partei DIE LINKE, drei der CDU, eine der SPD, einer von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und einer der AfD. Nach einer langen Findungsphase konnte nun Mitte August die Arbeit der Enquete beginnen.

Als erster Sachverständiger gab Dr. Marwan Abou-Taam (CDU-Sachverständiger) seine Analyse zu Rassismus und Diskriminierung ab: Er wies zunächst auf die unterschiedlichen Ebenen hin, auf denen Diskriminierung stattfinden kann: auf individueller Ebene, auf struktureller Ebene und auf strategischer Ebene. Strategische Diskriminierung verknüpfte er eng mit politischen bzw. extremistischen Ideologien. In Hinblick auf Rassismus in unserer Gesellschaft lokalisierte Abou-Taam rassistische (und andere diskriminierende) Argumente und Handlungen sowohl vereinzelt in der Mitte der Gesellschaft, jedoch vor allem verdichtet in ideologischen Randgruppen. Er betonte, dass die alleinige Konzentration auf die „Ränder der Gesellschaft“ nur Symptombekämpfung sei.

Joshua Kwesi-Aikins (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN-Sachverständiger) fokussierte in seiner Analyse auf den Rassismus als „Strukturmerkmal aller westlichen Gesellschaften“. Für Betroffene werde er sowohl durch alltägliche Mikroaggressionen, als auch durch behördliche Routinen und strukturelle Gegebenheiten spürbar. Er betonte vor allem die Gefahr von Rassismus aus der Menschenrechts-perspektive. Laut Kwesi-Aikins sei die definitorische Engführung des Rassismusbegriffs in Deutschland ein Zeichen für die mangelnde Menschenrechtsbildung im Land. Um die Gefahren für Menschenrechte sichtbar zu machen, forderte Kwesi-Aikins mehr Datenerhebung in Bezug auf Rassismus gegenüber schutzwürdigen Gruppen. Kwesi-Aikins mahnte an, dass eine „unreflektierte Traditionspflege“ auch zur Reproduktion von rassistischen Bildern und Riten beiträgt.

Ozan Keskinkiliç (DIE LINKE-Sachverständiger) stellte heraus, dass sich aktuelle Formen des Rassismus nicht nur auf biologistische Erklärungen von Unterschieden zurückführen lassen, sondern auch auf ein Verständnis von Gruppen, Kulturen oder Religionen als vererbbar mit unaufhebbaren Grenzen und Unterschieden. Keskinkiliç betonte, dass auch wenn andere Begriffe (z.B. „Ethnien“ statt „Rasse“) verwendet oder andere Diskurse („Antizionismus“ statt „Antisemitismus“) geführt werden, die ursprüngliche Bedeutung von Rassismus immer zugrunde liege. Rassismus sei ein Konstruktions-prozess der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft.

Prof. Carl Deichmann (CDU-Sachverständiger) führte den Begriff von Rassismus noch einmal in einem engeren Verständnis aus. Für ihn sei Rassismus eng verknüpft mit dem Nationalsozialismus. Die Entstehung von rassistischen oder extremistischen Einstellungen sei vor allem in der Jugend zu suchen (z.B. Mitgliedschaft in soziokulturellen Gruppen). Rassistische seien von populistisch diskriminierenden Argumenten abzugrenzen bzw. eine Teilmenge dieser. Diskriminierende populistische Aussagen seien gegen Moral, gegen christliche Ethik und gegen Menschenwürde. Sie besitzen gleitende Übergänge zu extremistischen Handlungen.

Zum Schluss fokussierte Koray Yilmaz-Günay (DIE LINKE-Sachverständiger) noch einmal auf die institutionellen Wirkmechanismen von Rassismus: „Rassismus funktioniert auch ohne Rassisten“. Es falle leicht, rassistische Vorgehensweisen in anderen Ländern zu erkennen. In Deutschland bestünden Probleme, ihn im realen Handeln von Menschen und institutionellen Praktiken zu erkennen. Als Ursachen für diese Probleme identifizierte er a) das heutige Verständnis von „Deutschsein“, 2) der fortwirkende „Kolonialismus ohne Ende“ und 3) ein „paradoxer Antifaschismus“ basierend auf einer halbherzigen Entnazifizierung und einer fehlerhaften Aufarbeitung des Nationalsozialismus.

Weitere Analysen folgen zur zweiten öffentlichen Sitzung von Dr. Britta Schellenberg (SPD-Sachverständige), Ayşe Güleç (DIE LINKE-Sachverständige), Prof. Tom Mannewitz (CDU-Sachverständiger) und Dr. Marc Jongen (AfD-Sachverständiger).

Was bisher noch unklar bleibt, ist das Verhältnis zwischen Diskriminierung und Rassismus: Ist Rassismus eine Form von Diskriminierung oder werden darunter die anderen „nicht-rassistischen“ Phänomene zusammengefasst? Wie sehr treten einzelnen Diskriminierungen aufgrund der im AGG geschützten Merkmale in den Fokus? Werden intersektionale Themen behandelt, d.h. das erhöhte Diskriminierungsrisiko, welches z.B. Frauen mit Behinderung besitzen? Eine Fokussierung auf die verschiedenen Formen des Rassismus scheint empfehlenswert und Herausforderung genug. Andere Diskriminierungsformen könnten als intersektionale Themen fokussiert werden, bspw. der Umgang mit LSBTIQ*-Personen mit Fluchterfahrung oder die Benachteiligung von Musliminnen.

Als Quintessenz dieser Enquete-Sitzung bleibt: Um Gesellschaft auf Rassismus durchleuchten, muss dieser Rassismus-Scan losgelöst von einem rein biologistischen Verständnis von „Rassen“, losgelöst von der Suche nach individuellen rassistischen Akteur/-innen und losgelöst vom Nationalsozialismus stattfinden. Rassismus war ein konstituierendes Merkmal von Gesellschaften vor der Machtergreifung der Nationalsozialist/-innen und blieb es auch danach.

Die zweite öffentliche Sitzung findet am 12.09.2017 ab 10.30 im Raum 101 im Thüringer Landtag statt. Die Teilnahme steht allen Menschen offen!