Einleitung: Gewalt gegen Minderheiten

"Mein Vater musste sterben, weil er schwarze Haare und eine dunklere Haut hatte als seine Nachbarn, weil auf seinem Auto ein nichtdeutscher Name stand – er musste sterben, weil er Türke war. Diese Erkenntnis hat mich fast zerrissen. Elf Jahre lang hatten die Polizisten uns gesagt, ein fremdenfeindliches Motiv für den Mord komme nicht in Frage, es gebe ja kein Bekennerzeichen. Und nun mussten sie eingestehen, dass er nur deshalb erschossen wurde, weil er Ausländer war. Plötzlich verspürte ich wieder Angst wie in der ersten Zeit nach dem Mord, als wir fürchteten, die Mörder könnten noch jemanden aus unserer Familie im Visier haben. Diese Verunsicherung hatte auch viele andere Türken in Deutschland erfasst. Wir wussten nun, dass es jeden von uns hätte treffen können. Darin lag, bei aller Erleichterung, weil die Ungewissheit von uns abgefallen war, ein neuer Schock." (Semiya Şimşek, Tochter von Enver Şimşek, der 2001 vom NSU ermordet wurde)

Einleitung

Neun Menschen aus Einwandererfamilien und eine Polizistin tötete der in Jena entstandene „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) – ohne dass Behörden und Gesellschaft die Motive des Terrors erkannten. Von 194 Todesopfern rechter Gewalt und 12 weiteren Verdachtsfällen, die die Amadeu Antonio Stiftung seit 1990 zählt, sind nur 83 staatlich anerkannt. In Deutschland gab es im Jahr 2017 nach Erhebungen der Amadeu Antonio Stiftung und von Pro Asyl 1.713 Übergriffe gegen Geflüchtete oder ihre Unterkünfte. Im gleichen Jahr erfasste die Polizei insgesamt 1.453 antisemitische Delikte, das sind durchschnittlich täglich 4 Straftaten dieser Art. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe meldete: 2017 wurden mindestens 17 wohnungslose Menschen getötet. Deutsche Behörden registrierten 2017 300 Straftaten gegenüber LSBTTIQ*1 aufgrund ihrer sexuellen Orientierung bzw. Geschlechtsidentität. Die Beispiele haben gemeinsam: Bei allen Vorfällen handelt es sich um Gewalt gegen Minderheiten.

Die Statistiken bilden jedoch nur das bekannte Hellfeld ab – das Dunkelfeld ist größer. Antisemitische, rassistische, homo- und transfeindliche, obdachlosen- und behindertenfeindliche Straftaten fordern den gesellschaftlichen Zusammenhalt heraus. Wie können gesellschaftlich stigmatisierte und dadurch besonders gefährdete Gruppen gestärkt werden? Wie kann gruppenbezogene Gewalt erkannt und verhindert werden? Welche Vorteile, aber auch Probleme birgt das international zunehmend anerkannte Konzept Hasskriminalität bzw. vorurteilsmotivierte Kriminalität im gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt gegen Minderheiten?

Zur Diskussion dieser Fragen hat das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Kooperation mit dem Bundesverband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) am 20. und 21. September 2018 eine Fachkonferenz realisiert – mit dem Titel „Gewalt gegen Minderheiten: Internationale Perspektiven und Strategien zum Umgang mit Hasskriminalität“. Zentrales Anliegen der bundesweiten Fachkonferenz war es, internationale Sichtweisen und Erfahrungen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen in Bezug auf Gewalt gegen Minderheiten zu verbinden und zu diskutieren. Die Veranstaltung stand unter der Schirmherrschaft von Georg Maier, dem Thüringer Minister für Inneres und Kommunales.2 Der vorliegende Band IV der Schriftenreihe „Wissen schafft Demokratie“ dokumentiert die Beiträge und Diskussionen der Konferenz.


Überblick über die Beiträge in diesem Band


Der zweite Teil des Buches nähert sich dem Thema Gewalt gegen Minderheiten bzw. Hasskriminalität aus juristischer Perspektive und führt Ansätze und Erfassungssysteme sowie grundlegende Definitionen aus der deutschen Gesetzeslage ein.

Julia Habermann und Tobias Singelnstein vom Lehrstuhl für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum beschreiben in ihrem Beitrag das polizeiliche System zur Erfassung politisch motivierter Kriminalität (PMK). Dabei erläutern sie die Entstehung dieses Erfassungssystems, seine Entwicklung sowie die Anwendung durch Polizei und Behörden. Besonderer Fokus liegt auf den viel kritisierten Schwachstellen des PMK-Systems und den aktuellen Zahlen zu politisch rechts motivierten Straf- und Gewalttaten. Julia Habermann und Tobias Singelnstein diagnostizieren Handlungsbedarf, um die statistische Erfassung von politisch rechts motivierter Kriminalität durch die Polizei zu verbessern.

Heike Kleffner hat als Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) einen Beitrag zur Reform des Definitionssystems der politisch motivierten Kriminalität (PMK) verfasst. Sie setzt sich mit den seit 2017 veränderten Aspekten der PMK-Definition auseinander und stellt Ausschnitte der entsprechenden Gesetzestexte vor. Heike Kleffner kritisiert die nach wie vor bestehenden Wahrnehmungsdefizite und Erfassungslücken, die zur systematischen Unterschätzung rechter Gewalt führen, und fordert konkrete Verbesserungen.

Marc Coester, Professor für Kriminologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, thematisiert in seinem Beitrag das Konzept der Hasskriminalität bzw. Vorurteilskriminalität. Er greift die historische Entwicklung, die Übertragung nach Deutschland sowie aktuelle Diskussionen und Entwicklungen auf. Er beschreibt, wie das Konzept zunächst in den 1980er Jahren in den USA entwickelt wurde und sich dann zunehmend international etabliert hat. Neben den entsprechenden juristischen Details werden die Auswirkungen von Hasskriminalität auf die Betroffenen geschildert sowie zukünftige Entwicklungen in diesem Bereich betrachtet.

 

Der dritte Teil des Buches dokumentiert eine Podiumsdiskussion zu Kontexten und Erfahrungen von Gewalt gegen Minderheiten. Als Vertreter_innen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, die potenziell von Hasskriminalität betroffen sind, diskutierten Paul Neupert (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V.), Jenny Renner (Lesben- und Schwulenverband Deutschland), Onur Özata (Rechtsanwalt) und Eva Drubig (Zentralrat der Juden in Deutschland). Moderiert wurde die Diskussion von Janine Dieckmann (IDZ).

 

Der vierte Teil widmet sich internationalen Perspektiven auf Gewalt gegen Minderheiten. Der Blick über den deutschen Tellerrand lohnt, da das Konzept Hasskriminalität in seiner jetzigen Form schon vor etwa 40 Jahren in den USA entstanden ist und auch in anderen Ländern, z. B. Kanada und Großbritannien, seit Jahrzehnten juristische, praktische und gesellschaftliche Relevanz hat.

Barbara Perry, Professorin an der Universität Ontario (Kanada) und international renommierte Expertin zum Thema, berichtet in ihren Beitrag „Hasskriminalität: Erfassung und Kontexte aus internationaler Perspektive“ aus nordamerikanischer bzw. kanadischer Perspektive zunächst über die Entstehung des Konzeptes Hasskriminalität in den USA. Anschließend wird die Erfassung entsprechender Straftaten beschrieben. Das gesellschaftliche und politische Klima beeinflusst das Auftreten von Hasskriminalität und kann schlimmstenfalls eine „Legitimation zum Hass“ nach sich ziehen, also eine Rechtfertigung vorurteilsmotivierter Gewalt.

Professorin Barbara John hat sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Integration beschäftigt und arbeitet u. a. für die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI). Die Konferenzmoderatorin Melanie Bittner hat sie zu ihren Erfahrungen im Bereich der Integration von Migrant_innen und zu ihrer Arbeit bei ECRI interviewt. Barbara John schildert ihre Erlebnisse als Deutschlehrerin für Migrant_innen und später als Integrationsbeauftragte des Landes Berlin. Sie stellt die Arbeit von ECRI vor und beschreibt deren Vorgehensweise, Instrumente und Ergebnisse.

Chris Allen, Professor für Kriminologie an der University of Leicester im Center for Hate Studies, berichtet über aktuelle Entwicklungen der Hasskriminalität in Großbritannien. Dort wurden im Jahr 2017 Höchstzahlen dokumentiert. In seinem Beitrag werden mittels empirischer Belege drei kausale Faktoren zur Erklärung diskutiert: das Brexit-Referendum, die beispiellose Anzahl von Terroranschlägen und das Anwachsen des Extremismus. Anschließend betrachtet Chris Allen den Einfluss der britischen Mainstreammedien auf das politische Klima im Land und konstatiert eine Spaltung der britischen Gesellschaft in ein WIR gegen SIE.

 

Barbara Perry referierte in einem gut besuchten öffentlichen Vortrag im historischen Rathaus der Stadt Jena über „Hasskriminalität als Herausforderung für Inklusion und Vielfalt“. Der Beitrag thematisiert aus kanadischer Sicht einige der Ergebnisse ihrer langjährigen Arbeit: die Auswirkungen von Hasskriminalität auf die Gemeinschaften bzw. Communitys der Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt. Barbara Perry zeigt auf, wie auch nicht direkt Betroffene durch Hasskriminalität eingeschüchtert werden und infolge dessen mit Schock, Angst, Wut und Unglaube zu kämpfen haben. Zugleich weist sie darauf hin, dass solche Vorfälle zu einer gemeinsamen Mobilisierung gegen Hass und Vorurteile führen können.

Onur Özata, der als Rechtsanwalt u. a. Opfer von Hasskriminalität vertritt, kommentierte den öffentlichen Vortrag von Barbara Perry. In seinem Beitrag werden die Auswirkungen der Mordserie des NSU auf die türkische und migrantische Bevölkerung Deutschlands festgehalten. Anhand seiner Arbeit mit Betroffenen und im Gerichtssaal illustriert er anschaulich das staatliche Versagen, diese Menschen zu schützen, und verweist zugleich auf den virulenten institutionellen Rassismus in den verantwortlichen Behörden.


Im fünften Teil des Buches wird die soziale, juristische und wissenschaftliche Praxis beim Umgang mit Gewalt gegen Minderheiten betrachtet. 

Christina Büttner von ezra, der Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, erläutert, was unter rechter Gewalt zu verstehen ist, wer davon betroffen ist und welche Folgen sie für Betroffene haben kann. Sie legt dar, wie die bundesweiten Strukturen zur Opferberatung entstanden sind und sich zunehmend etabliert haben. Zudem wird ausgeführt, welche Möglichkeiten der Unterstützung die Beratungsstellen anbieten.

Kati Lang arbeitet als Rechtsanwältin und hat zum strafrechtlichen Umgang mit vorurteilsmotivierten Straftaten promoviert. Sie plädiert in ihrem Text für die offene Thematisierung entsprechender Vorfälle durch Politik und Zivilgesellschaft. Kati Lang erläutert darüber hinaus rechtliche Rahmenbedingungen, beschreibt die tatsächliche Rechtspraxis und konstatiert erhebliche Veränderungsbedarfe in deutschen Behörden.

Eva Groß, Professorin für Kriminologie an der Akademie der Polizei in Hamburg, Arne Dreißigacker und Lars Riesner, beide Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e. V., stellen in ihrem Beitrag die erste deutsche repräsentative Dunkelfeldstudie zu Hasskriminalität vor. Diese wurde in Niedersachsen und Schleswig-Holstein mit insgesamt 65.000 Untersuchungsteilnehmenden durchgeführt. Sie berichten zentrale Ergebnisse der Studie, welche sie auf theoretischer Ebene und in ihren Auswirkungen für unsere Gesellschaft diskutieren. Unter anderem belegen sie die erhöhte Kriminalitätsfurcht von Betroffenen durch Hasskriminalität und ein signifikant verringertes Vertrauen in die Polizei – im Vergleich zu Betroffenen von Kriminalität ohne ein erkanntes Vorurteilsmotiv.

 

Im sechsten Teil werden Schlussfolgerungen der Konferenz erörtert. Im hier dokumentierten Abschlusspodium diskutierten Felix Klein (Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus), Timo Reinfrank (Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung), Maria Scharlau (Völkerrechtsexpertin im deutschen Sekretariat von Amnesty International) und Martin Thüne (Forschungsstelle der Thüringer Polizeihochschule) unter Moderation von Matthias Quent (IDZ) Anforderungen und Schlussfolgerungen für den Schutz von Minderheiten in Deutschland. Zusammenfassend formulieren sie konkrete Forderungen für Reformen und Verbesserungen für die Bereiche Politik, Justiz, Polizei und Zivilgesellschaft.

Die Konferenz und der vorliegende Konferenzband bündeln Expertisen, Wissen und Bedarfe. Die Diskussionen zum Thema Gewalt gegen Minderheiten bzw. Hasskriminalität sind bei Weitem nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: Die Konferenz hat viele Fragen offengelegt und einen hohen Reformbedarf in Deutschland verdeutlicht. Das Thema wird auch in Deutschland künftig weiter an Relevanz gewinnen – nicht nur wegen des hohen Ausmaßes vorurteilsmotivierter Gewalt und der massiven Auswirkungen auf Betroffene und ihre Communitys, sondern auch, weil europäische Institutionen auf bessere Erfassung und Schulung drängen. 

Wir hoffen, mit diesem Band einen Beitrag zu den sich aktuell entwickelnden Debatten zu liefern, und wünschen den Lesenden eine spannende und lehrreiche Lektüre.

 

Das IDZ-Redaktionsteam

 

 

1 LSBTTIQ* steht für: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender, intergeschlechtliche und queere Menschen. Das Sternchen verweist auf weitere nicht-heteronormative Identitäten und Lebensweisen, die mit dem Akronym nicht benannt werden.

2 Gefördert wurde die Konferenz von der Bundeszentrale für politische Bildung, vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, von der Deutschen Stiftung Friedensforschung, der Sebastian Cobler Stiftung für Bürgerrechte und der Stadt Jena. Wir danken den Fördermittelgebern.

Literatur:


Şimşek, Semiya/Schwarz, Peter (2013): Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater. Berlin: Rowohlt.