Vorwort der Amadeu Antonio Stiftung

Es hört nicht auf. Es wird geschlagen und getreten, gehetzt, geschossen und gesprengt, mit Steinen und Brandsätzen geworfen. Tausende Menschen, die in Thüringen oder anderswo in Deutschland Schutz suchen, werden zu Betroffenen und Opfern rechter Gewalt. 2016 gab es über 2.500 solcher Attacken auf Menschen, die als Nicht-Deutsche wahrgenommen wurden, und auf Sammelunterkünfte von Asylsuchenden, 217 Angriffe auch auf Hilfsorganisationen und Unterstützer_innen von Geflüchteten.

 

Ezra, die Mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, zählte in Thüringen 2016 so viele Angriffe aus rassistischen Motiven wie nie zuvor. So sind 103 Fälle rassistisch motivierter Gewalt registriert worden, eine Steigerung um 90 Prozent im Verhältnis zum Vorjahr.

Wie reagiert der Rechtsstaat darauf? Ein Großteil der Verfahren wird eingestellt, weil die Tatverdächtigen nicht ermittelt werden konnten. Über viele der Anschläge auf Flüchtlinge oder ihre Unterkünfte wird gar nicht mehr berichtet. Anscheinend werden sie bereits als alltäglich wahrgenommen und haben damit ihren ‚Neuigkeitswert‘ verloren. Dabei ist der Kampf gegen Geflüchtete und ihre Unterstützer_innen eindeutig das dominierende Kampagnenthema der Rechtsextremen, mit dem sie weit in die breite Öffentlichkeit hinein Menschen für rassistische Ressentiments und Proteste auf der Straße mobilisieren können. Trotz der stark abnehmenden Zahl an neu ankommenden Geflüchteten nimmt die rechte Gewalt kein Ende.

Die Amadeu Antonio Stiftung hatte die Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen und rechtsextremen Mobilisierungen gegen Asylsuchende 2016 zum Gegenstand einer Fachtagung in Erfurt in Kooperation mit der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport gemacht. Bei dieser Tagung standen auch die Morde des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) im Raum, da das Kerntrio im Kontext der versuchten Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sowie der nachfolgenden Welle rassistischer Gewalt in den 1990er Jahren maßgeblich auch in Jena sozialisiert wurde. Zu befürchten ist, dass sich heute neue Gruppen von rechtsextremen Gewalttäter_innen und Terrorist_innen bilden. Erste Anzeichen dafür sind bereits jetzt erkennbar. Die Modernisierung und Erneuerung von Ausdrucksformen des Rechtsextremismus, mit denen Rechtsextreme seit einigen Jahren versuchen, sich von ihren traditionellen Erscheinungsbildern abzusetzen, trägt dazu bei, diesen Trend zu verharmlosen. Neue Ausdrucksformen sind der Rechtspopulismus sowie der verbreitete Bezug auf die sogenannte Neue Rechte, deren Ideologien in der rechten Szene Thüringens besonders verankert sind.

Als Resultat der Diskussionen auf dem Erfurter Fachtag über die Kontinuitäten rechten Terrors und die fehlende Wahrnehmung für die Ausgrenzung und Abwertung vieler stigmatisierter Gruppen hat sich die Stiftung entschieden, sich um die Förderung der im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss geforderten Dokumentations- und Forschungsstelle zu bewerben. Die Stiftung engagiert sich seit ihrer Gründung in Thüringen, beispielsweise gegen die mittlerweile erfolgreich verhinderte Nutzung des Schützenhauses in Pößneck als Ort neonazistischer Infrastruktur, mit der Tagung „Kein Ort für Neonazismus. Rechtsextremismusbekämpfung in Thüringen als Aufgabe von Zivilgesellschaft und Staat“ in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung oder mit dem großen Konzert „Rock gegen Rechts“ nach der Aufdeckung des NSU mit Udo Lindenberg unter der Schirmherrschaft der damaligen Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht und Jenas Oberbürgermeister Albrecht Schröter. Für die Arbeit der künftigen Dokumentations- und Forschungsstelle war es uns einerseits wichtig, die bestehenden Kooperationen mit unseren langjährigen Partner_innen wie der Mobilen Beratung MOBIT, der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen oder der Betroffenenberatungsstelle ezra fortzuführen. Andererseits wollten wir vor allem die im Namen „Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft“ (IDZ) verankerten Ziele betonen, die aus unserer Sicht konstitutiv für eine Auseinandersetzung mit menschenfeindlichen Bestrebungen sind. Auffallend ist der Bezug auf Zivilgesellschaft, den sowohl das Institut als auch die Stiftung („Initiativen für Zivilgesellschaft“) in ihrem Namen tragen und der deshalb Erläuterung verdient.

Was bedeutet eigentlich Zivilgesellschaft? Und, was ist an einer Gesellschaft das Zivile? Ist es das Ge- genteil von etwas Militärischem, also Hierarchischem? Oder das Gegenteil vom Unzivilen, also Handlungen und Haltungen, die dem zivilisierten Umgang miteinander entgegenstehen? Nun, vielleicht von Beidem etwas. Zivilgesellschaft zu beschreiben fällt außerordentlich schwer, denn in Geschichte und Gegenwart wurde die Zivilgesellschaft mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Erwartungen ausgestattet und ist als Begriff im Grunde nicht wirklich eine soziologische oder politische Kategorie.

Vielleicht lässt sich die Entwicklung der Zivilgesellschaft stark zusammengefasst als ein Prozess erklären, in dem Individuen und gesellschaftliche Gruppen ihre Möglichkeiten der Freiheit auch außerhalb von Staat und Ökonomie entfalteten. Einige Stufen dieser Entwicklung und die daraus entstandenen gesellschaftlichen Institutionen seien kurz genannt:

  1. Gegen die absolutistische Macht des Königs sprach Locke von Zivilgesellschaft als Schutz des Einzelnen durch ein lebendiges Parlament.
  2. Später meinte Montesquieu, dass es zwischen dem Einzelnen und dem Parlament große vermittelnde Organisationen geben müsse, die ebenfalls zur Zivilgesellschaft gehöre.
  3. Tocqueville sagte, das reiche nicht und lebendige Innovation durch kleine freiwillige Assoziationen gehöre ebenfalls dazu, wir nennen sie heute Nichtregierungsorganisationen.
  4. Gramscis revolutionäres Konzept schloss die Meinungsführer aller Ebenen des kulturellen Alltags ein, und
  5. Habermas schließlich fand, dass es keine Zivilgesellschaft gibt, ohne öffentliche Kommunikation, die es erlaubt, herrschaftsfrei über Werte zu reden.

So unterschiedlich wie die historischen Zusammenhänge waren auch die Interessen der Akteur_innen die den Begriff Zivilgesellschaft gebrauchten. Ihre Gemeinsamkeit besteht wohl darin, dass sie aus unterschiedlichen Motiven doch jeweils die Ausdehnung der Rechte und der Freiheit der Individuen gegenüber der herrschenden Struktur des Staates zum Ziel hatten. Seit der französischen Revolution sind die Demokratie und auch die Zivilgesellschaft verbunden mit den universellen Menschenrechten, die von der Freiheit, Gleichwertigkeit und Würde aller Menschen und ihrer Assoziationen ausgehen. Auf dem Weg zu einer lebendigen Demokratie, auch durch Zeiten der Diktatur hindurch, konnte also die Zivilgesellschaft eine wichtige Dimension des Handelns im Sinne der Menschenrechte sein. Das ist aus verschiedenen Gründen wichtig, wenn man über ihre Möglichkeiten und Aufgaben nachdenkt.

Die enge Verknüpfung von Menschenrechten und Demokratie aber bleibt in der politischen Realität oft auf der Strecke. Wenn beispielsweise in einer parlamentarischen Demokratie die Mehrheit der Wahlbevölkerung eine Partei wählt, deren Politik Menschenrechte relativiert, dann können sich zivilgesellschaftliche Akteur_innen durchaus gegen ein solches Diktat der Mehrheit in seinen konkreten Folgen wenden. Die Frage, wer nun zur Zivilgesellschaft gehört, ob z. B. grundsätzlich Vertreter_innen der Wirtschaft oder der Politik per definitionem davon ausgeschlossen sein sollen, weil die Zivilgesellschaft außerhalb staatlicher und wirtschaftlicher Macht steht, wird in der praktischen Situation unerheblich. In der modernen Demokratie ist es gerade die Summe aller entstandenen Institutionen und Formen des zivilen Lebens, die eine komplexe Gesellschaft ausmachen. Das Einzige, woran man ihre demokratische Substanz messen kann, ist ihr Handeln im Sinne des emanzipatorischen Gedankens von Freiheit, Gleichwertigkeit und Würde aller.

Das Handeln ist also die Kategorie dessen, was Zivilgesellschaft bedeutet. Die Vielfalt ihrer Interessen und Konflikte allein bedeutet noch keine demokratische, emanzipatorische Potenz. Es ist vielmehr die Erfahrung, dass nur eine grundsätzliche Gleichwertigkeit im Konflikt die Freiheit und Würde der Menschen sichern kann. Dieser Anspruch lässt sich nicht grundsätzlich gegen oder für den Staat formulieren. Er kann sich in bestimmten Konstellationen schützend vor den Rechtsstaat stellen oder, wie in vielen anderen, ihn angreifen. Und manchmal ist beides gleichzeitig nötig.

Engagiertes Eintreten für die Rechte von Minderheiten wird häufig als Zivilcourage bezeichnet. Sie bezieht sich aber auf das Verhalten einzelner Personen, sie ist nicht oder noch nicht zu einer gesell- schaftlichen Kultur oder einer moralischen Instanz herangewachsen. Zivilcourage gab es auch in Zeiten der Barbarei, z. B. während des Nationalsozialismus, doch fehlte die zivile gesellschaftliche Kultur, die in sich selbstverständlich die bürgerliche Errungenschaft der Menschenrechte verkörpert. Zivilcourage reicht also nicht, denn sie individualisiert ein Handeln, das Basis des Gemeinsinns sein sollte. Der Manager eines Unternehmens kann auf der Straße Zivilcourage zeigen, wenn dort einem Flüchtling Gewalt angetan wird. Das allein macht ihn noch nicht zum Teil einer Zivilgesellschaft. Wenn er aber in seinem Unternehmen dafür sorgt, dass neben den Standards einer betrieblichen Gerechtigkeit, dem Rassismus eine klare Haltung entgegengesetzt wird, dann sorgt er für eine Kultur der Zivilität, die sich über die Ansichten seiner eigenen Person hinaus verbreiten kann.

Wenn auch die Gesellschaft ihr spontanes Handeln in eine Art verlässlichen Prozess entwickeln kann und als normative Größe wirkt, dann bleibt die Zivilcourage keine einzelne Tat, sondern wird zu einem Teil der demokratischen Kultur. Dabei können Unternehmer_innen einen ebenso wichtigen zivilgesellschaftlichen Beitrag im Handeln leisten wie Vertreter_innen von Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften oder anderen vermittelnden Institutionen. Es gibt Unternehmen oder Vertreter_innen von Parteien und Verbänden, die so handeln, und es gibt solche, die es nicht tun. Die Zivilgesellschaft ist in höchstem Maße inkonsistent und es braucht viele Bedingungen und Strukturen, damit aus der Masse von Bürger_innen mit unterschiedlichsten Interessen und Motiven Vertreter_innen der Zivilgesellschaft werden, die bereit sind eine demokratische Kultur und deren Standards zu verteidigen. Denn nur in einer lebendigen Zivilgesellschaft wird immer wieder die Öffentlichkeit für menschenrechtliche Themen hergestellt und durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch der Prozess des gesellschaftlichen Diskurses neu angeregt. Im Grunde kann man sagen, dass Zivilgesellschaft in allen ihren Dimensionen bis heute ständig um die Ausformung von Menschenrechten ringt: durch Individuen in ihrer Freiheit und Gleichwertigkeit, durch vermittelnde Organisationen, durch NGO`s und die demokratische, kritische Öffentlichkeit.

Das IDZ erforscht, wie sich Zivile Gesellschaft und antidemokratische Strömungen bzw. soziale Bewegungen in Thüringen zueinander verhalten, und geht auch der Frage nach, wie es mit der Zivilgesellschaft im Osten Deutschlands bestellt ist.

Die autoritäre, kollektive Substanz der DDR-Gesellschaft, selbst in ihrem Widerstand gegen das Regime und die Fremdbestimmung bei der Transformation, hatte auch schon vor der Wende ein Gemeinschaftsgefühl bestärkt, das sich nationalistisch und ethnisierend aufladen konnte und nach der Vereinigung zu einer sozialen Bewegung gegen Ausländer_innen heranreifte. Das antikapitalistische Element steht dazu in keinerlei Widerspruch, es symbolisiert auf geradezu leidenschaftliche Weise die Ablehnung einer offenen Gesellschaft. Um das Kollektive zu erhalten, auch gegen soziale Ausdifferenzierungen, die bald nach der Wende eintraten, entstand eine Abwehr der drohenden Auflösung früherer Homogenität, eine Abwehr gegen das Fremde. Die wenigen Möglichkeiten, aus den eigenen Reihen eine Zivilgesellschaft hervorzubringen, brachen mit der Abwicklung nahezu der gesamten Wirtschaft und der Arbeitslosigkeit großer Teile der qualifizierten Bevölkerung ab. Damit verringerten sich die Chancen, gegen die völkischen Stimmungen zivilgesellschaftliche Barrieren aufzubauen. Dies war einer der Gründe, weshalb sich hier ungebremst rechtsextreme Strukturen verbreiten konnten und entsprechende Einstellungen an vielen Orten mehrheitsfähig waren. Es gehört zu den Lebenslügen der deutschen Wiedervereinigung, diesen Vorgang vom Westen her nicht zu bemerken. Er wurde bagatellisiert und als Ostfolklore psychologisiert. Auch die Gegenprojektion aus dem Westen blieb nicht aus, der alle eigenen Probleme mit Rassismus nun auf den Osten verschieben konnte.

Die Strategie der kulturellen Subversion, einst entwickelt von Gramsci im revolutionären Kampf um die Umwertung aller Werte im Sinne der kommunistischen Idee, wurde schon vor Jahren von Rechtsextremen in Deutschland aufgegriffen und konnte unter den Bedingungen der Transformationsgesellschaft in den neuen Bundesländern besonders erfolgreich angewandt werden. In einem ausgedehnten Flickenteppich informeller Bezüge und Interaktionen hat sich gerade in Ostdeutschland eine kulturelle und politische Landschaft rechtsextremer Organisationsformen und Werte gebildet, die aber nur kurzzeitig nach der Selbstenttarnung des NSU als gesellschaftliche Gefahr gesehen wird. Da sich die Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit zu lange ausschließlich auf Wahlergebnisse konzentrierte, konnte es geschehen, dass die Gefahr der Vergiftung des Klimas durch rassistische Einstellungen zu lange übersehen wurde. So war mit der Diskussion um die Flüchtlinge das Erschrecken groß, als die AfD zu so hohen Umfrage- bzw. Wahlergebnissen kam.

Das IDZ wird den Fragen nachgehen, wie dominant solche Tendenzen wirklich sind und wie sie zurückgedrängt werden können. Aus wissenschaftlicher Perspektive werden hier Analysen und Handlungsempfehlungen entstehen, die über den Freistaat Thüringen hinaus relevant sein werden. Wir wünschen dem IDZ für seine Arbeit gute Ideen, inspiriertes Forschen und viel Erfolg!

 

DOI des Beitrags: 10.19222/201701/1