Die Normalisierung von Vorurteilen und Diskriminierung in Deutschland
Der MDR Sachsen wollte im April 2018 zum Thema „Darf man heute noch N-Wort1 sagen? Warum ist politische Korrektheit zur Kampfzone geworden“ im Radio diskutieren, u. a. mit Frauke Petry, ehemaliges Mitglied der AfD.2 In sozialen Netzwerken im Internet werden immer öfter gruppenbezogen menschenfeindliche Einstellungen mit Klarnamen geäußert. In den Medien sind die Themen Flucht, ‚Flüchtlinge‘ und Islam überaus präsent. Mit dem Argument des demokratischen Meinungsaustauschs werden fremdenfeindliche Ressentiments und Vorurteile wiederholt in der Öffentlichkeit reproduziert – mit bedrohlichen Auswirkungen für bestehende Werte und Normen unserer demokratischen Gesellschaft. An vielen Stellen, sei es in medialen, parlamentarischen, politischen oder privaten Diskussionen, wird offensichtlich, dass sich das soziale Klima in der deutschen Gesellschaft in den letzten Jahren stärker polarisiert hat (vgl. Zick et al. 2016).
Die zunehmend menschen- und demokratiefeindliche Seite der Klimawende, befeuert durch Rechtspopulismus und neurechte Bewegungen, bleibt nicht ohne Folgen: Sie zieht Diskriminierung und Hasskriminalität nach sich (vgl. u. a. Quent 2017). Schon vor September 2015 zeigte mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausländer_innenfeindliche Einstellungsmuster (Decker et al. 2013). Die Ergebnisse der Mitte-Studie3 2016 zeigen, dass von 2014 zu 2016 in der allgemeinen Bevölkerung insbesondere die Islamfeindlichkeit sowie die Abwertung von Asylbewerber_innen zugenommen haben (vgl. Decker et al. 2016: 50). Vor allem seit der vermehrten Aufnahme von Geflüchteten 2015 werden Vorurteile und Diskriminierung gegen diese offener, direkter und häufiger ausgedrückt (z. B. Zick et al. 2016). Dieser Ausdruck beginnt bei offenen Ressentiments in allen gesellschaftlichen Schichten und reicht bis hin zur gestiegenen Anzahl von Gewalttaten gegen Geflüchtete sowie Übergriffe auf Geflüchtetenunterkünfte durch einzelne oder organisierte Straftäter_innen (z. B. Federl 2016, vgl. Quent 2017). Diese Indikatoren sind Hinweise für einen zugrunde liegenden Shift gruppenbezogen menschenfeindlicher Einstellungen, d.h. eine Verschiebung der durchschnittlichen Einstellungen und Vorurteile der deutschen Bevölkerung.
Stellt man sich das Vorkommen von spezifischen Einstellungen in unserer Gesellschaft entsprechend einer Gauß’schen Normalverteilung4 vor, definieren die von den meisten Bürger_innen geteilten Einstellungen den gesellschaftlichen ‚Normalbereich‘. Einstellungen, die weniger geteilt werden und damit weniger wahrscheinlich vorkommen, liegen auf der Verteilung eher an den Rändern der umgedrehten U-Kurve. Werden gruppenbezogen menschenfeindliche Einstellungen (z. B. rassistische, antisemitische, homophobe) vermehrt geteilt, geäußert und stoßen sie dabei auf positive Resonanz, rücken sie in die Mitte der Verteilung. Sie werden ‚normaler‘, gesellschaftlich akzeptierter. Doch wie kann es dazu kommen?
Ein Schritt in Richtung Normalisierung von Vorurteilen beispielsweise gegenüber Muslim_innen und Geflüchteten ist vollzogen, wenn diskriminierende Äußerungen von Personen des öffentlichen Interesses keine Seltenheit mehr sind, sondern prominent Raum im öffentlichen Diskurs erhalten. Damit sind nicht nur rassistische Äußerungen gemeint, die spätestens seit der Veröffentlichung von Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ (wieder) im Mainstream Einzug fanden (vgl. Cremer 2017).
Die aktuelle Verwendung des Begriffs „Asyltourismus“5 in der Bundesregierung im Zusammenhang mit geflüchteten Menschen zeigt auf, wie Vorurteile gebündelt und mehr oder weniger indirekt verpackt in die Debatten transportiert werden. Äußerungen wie diese verdeutlichen zwei Dinge: Zum einen spiegeln sie, wie die Normalität aktuell beschaffen ist. Sie zeigen, dass Personen sich ermutigt fühlen, menschenverachtende Einstellungen öffentlich kundzutun. Zum anderen beeinflussen solche Aussagen die Normalitätswahrnehmung der Bevölkerung: Eine Person, die derlei Aussagen hört, mag denken, dass Ansichten wie diese zwar extrem seien, sie aber dennoch möglicherweise eine Kernproblematik in der Gesellschaft ansprechen. Die Gefahr eines logischen Fehlschlusses besteht: Wenn etwas Zugang zur Öffentlichkeit findet, kann es so ‚unnormal‘ nicht sein. Bestimmte extreme Aussagen und Handlungen können einen Ankereffekt haben: Sie ‚ziehen‘ die Einstellungen der (restlichen) Bevölkerung an sich heran und verschieben entsprechend die Normalität (vgl. Tversky/Kahneman 1974).
Ein weiteres Anzeichen bzw. eine Ursache der Normalisierung von Vorurteilen und Diskriminierung sind die Manifestationen in der (gesellschafts-)politischen Struktur der letzten Jahre: Die Dresdner Pegida-Bewegung und die AfD boten und bieten einen zunehmend institutionalisierten Rahmen, der Vorurteile gegen Minderheiten nicht nur vermeintlich salonfähiger macht, sondern sie – der Funktionsweise des Rechtspopulismus folgend – zur angeblich sozial geteilten Norm erhebt und Legitimation durch die Mehrheit „des Volkes“ suggeriert (vgl. Müller 2016). Was zuvor bereits latent in den Einstellungen vorhanden war, aber der vormaligen gesellschaftlichen Norm entsprechend als öffentliche Äußerung verpönt war und infolgedessen unterdrückt wurde, hat nun soziale Anknüpfung in einer Gemeinschaft gefunden und ist in dieser gar identitätsstiftend. Von den betreffenden Personen werden Einstellungen und Verhaltensweisen nicht mehr in Frage gestellt und offen gezeigt.
Ein sozialpsychologischer Blick auf Normen und Vorurteile
Soziale Normen sind der Klebstoff einer Gesellschaft, sie ermöglichen den gesellschaftlichen Zusammenhalt (vgl. Grau/Unzicker in diesem Band). Indem sie einen bestimmten Regelrahmen bieten, geben sie Orientierung, wie die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft oder sozialer Gruppen sich verhalten sollten, um dazuzugehören (z. B. Cialdini et al. 1990). Das Befolgen der Normen symbolisiert Zugehörigkeit zur Gruppe.
Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ist ein wichtiger Teil der persönlichen Identität (Tajfel/Turner 1979). Die jeweils geltenden Normen unterscheiden sich dabei für unterschiedliche Gruppen. In der Regel werden Normen durch Autoritäten einer Gruppe oder durch andere Gruppenmitglieder kommuniziert (z. B. Cialdini et al. 1990). Vor allem Medien kommt in der Kommunikation und Reproduktion von Normen innerhalb einer Gesellschaft eine wichtige Rolle zu.
Soziale Normen haben in vielen verschiedenen Bereichen Einfluss auf Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen (z. B. Stangor et al. 2001). Sie werden in Gruppensituationen (durch den Kontakt zu anderen Mitgliedern) geformt und dienen einem Individuum als Standard für die Wahrnehmung und Bewertung auch außerhalb dieser spezifischen Gruppensituationen (u. a. Sherif/Sherif 1953). Normen werden verinnerlicht, sind damit nicht mehr auf einen bestimmten Kontext limitiert und werden nicht bewusst wahrgenommen. Über Gruppennormen werden entsprechend Vorurteile gelernt und übernommen – als Bestandteil unserer Sozialisation. Dabei können Vorurteile sowohl für die Gruppe als auch für ein Individuum identitätsstiftend werden. Die Glaubenssysteme und Ideologien einer Person basieren demnach auf den sozialen Normen der Gruppen, denen eine Person zugehörig ist. Wenn man verstehen möchte, gegen wen und warum eine Person Vorurteile hat und/oder äußert, lohnt sich also der Blick auf die sozialen Gruppen, in denen sie sich bewegt und/oder mit denen sie sich identifiziert.
Den Zusammenhang zwischen der sozialen Akzeptanz von Vorurteilen und dem Ausdruck von Vorurteilen auf gesellschaftlicher Ebene haben Crandall und Kolleg_innen eingehend untersucht: Sie kommen zu dem Schluss, „geäußerte Vorurteile sind ein direkter Ausdruck ihrer sozialen Akzeptanz“6 (Crandall et al. 2002: 363). Demnach gelten Vorurteile als gerechtfertigt und korrekt, wenn sie dem sozialen Konsens einer spezifischen sozialen Gruppe entsprechen. Personen sind weniger bereit, entsprechende Vorurteile zu unterdrücken, wenn diese als sozial normativ wahrgenommen werden (Crandall/Eshleman 2003). Im Gegenzug haben Personen weniger Vorurteile bzw. unterdrücken sie, wenn diese in ihrer Gruppe nicht sozial akzeptiert sind. Auch in einer deutschen Stichprobe zeigt sich, dass die wahrgenommene soziale Akzeptanz von Vorurteilen gegenüber verschiedenen Gruppen beinahe deckungsgleich ist mit den persönlichen Vorurteilen der Studienteilnehmenden (Jäger 2018). Politisch eher rechts gerichtete Personen haben demnach nicht nur stärkere Vorurteile gegenüber Muslim_innen und Geflüchteten, sondern nehmen diese Vorurteile auch als generell stärker sozial akzeptiert wahr. Jäger und Kessler (2016) zeigen zudem, dass auch politisch eher links gerichtete Studienteilnehmende nicht vorurteilsfrei sind; allerdings unterscheiden sich demzufolge die Zielgruppen: Hier sind es zum Beispiel eher Islamkritiker_innen und Homophobe, denen mit Vorurteilen begegnet wird (siehe Abbildung 1).
Jäger (2018) zeigt: Werden pauschale und abwertende Aussagen gleicher Qualität (z. B. „[Gruppe XY] sind schlechte Menschen“) in Bezug auf eine Gruppe geäußert, gegen die Vorurteile gesellschaftlich als nicht akzeptiert gelten, wird die Aussage als Verzerrung bzw. Vorurteil identifiziert. Wird die gleiche Aussage allerdings mit einer Gruppe präsentiert, gegen die Vorurteile als akzeptiert gelten, wird sie eher als den Tatsachen entsprechend angesehen. Dies zeigt: Vorurteile werden nicht als solche erkannt, wenn sie normkonform sind. Vorherrschende Gruppennormen geben an, ob Aussagen als Fakt oder Vorurteil interpretiert werden. Weitere Studien unterstreichen den Zusammenhang zwischen Gruppennormen und Vorurteilen: Blanchard und Kolleg_innen (1994) zeigen, dass die Akzeptanz von rassistischen Handlungen dramatisch sinkt, wenn nur eine einzige Person (als Indikator für eine Norm) in einer relevanten Situation antirassistische Ansichten äußert. Im Gegensatz dazu steigert die Zustimmung einer anderen Person zu rassistischen Handlungen sowohl die öffentliche als auch die private Akzeptanz. Stangor und Kolleg_innen (2001) zeigen zudem, dass schon einfache Aussagen über den (vermeintlichen) Gruppenkonsens zu Einstellungen gegenüber Afroamerikaner_innen die Vorurteile der Teilnehmenden beeinflussten: Sie passten sich anderen Gruppenmitgliedern nachhaltig an.
Die berichteten sozialpsychologischen Befunde verdeutlichen den deterministischen Zusammenhang zwischen Normen und Vorurteilen. Sie veranschaulichen, wie Normveränderungen zu erhöhter oder verringerter Äußerung von Vorurteilen führen.
Gruppenpsychologische Mechanismen von Normverschiebungen
Ob eine Einstellung oder ein Verhalten als normal, also normentsprechend angesehen wird, hängt neben der schon beschriebenen Orientierung am Verhalten anderer und den jeweiligen Gruppennormen u. a. von folgenden Faktoren ab: der Häufigkeit, in der die Einstellung oder das Verhalten wahrgenommen wird, der Vertrautheit sowie der zeitlichen Reihenfolge der Wahrnehmung verschiedener Verhaltensweisen (z. B. Higgins 1996, Weaver et al. 2007). Diese Faktoren tragen entsprechend zu einer Änderung der Normalitätswahrnehmung bei und bilden die Grundlage für Normverschiebungen. Bereits die einmalige Wahrnehmung eines Reizes, etwa das Hören einer bestimmten abfälligen Aussage (z. B. gegenüber Geflüchteten), führt dazu, dass eine entsprechende Aussage als weniger überraschend und eher normal wahrgenommen wird. Nach Weaver und Kolleg_innen (2007) führt im Weiteren eine häufige Wahrnehmung bestimmter Aussagen dazu, dass diese als vertrauter und normaler wahrgenommen werden – selbst, wenn sie immer wieder von derselben Quelle geäußert werden: „Eine wiederholte einzelne Stimme kann wie ein Chor klingen“7 (ebd. 2007: 1). Das gilt auch für Aussagen, die konsistent von einer Minderheit innerhalb der Gruppe wiederholt werden (Moscovici et al. 1969). Eine oft wiederholte Aussage wird nicht nur als normaler angesehen, sondern auch als „wahrer“.
Beobachten Menschen, dass andere Personen, die sie als nicht grundsätzlich verschieden von sich wahrnehmen, eine bestimmte (z. B. vorurteilsbehaftete) Einstellung oder (z. B. diskriminierendes) Verhalten zeigen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie dieses als akzeptiert und normal ansehen. Sie gleichen ihre eigenen Einstellungen und ihr Verhalten eher an – vor allem, wenn kein Widerspruch gezeigt und keine Gegenmeinung geäußert wird. Dies gilt auch für mediale Darstellungen. Der Raum, der bestimmten Themen, Informationen (siehe z. B. Fake News), Ansichten und Personen im öffentlichen Diskurs, in den klassischen und sozialen Medien gegeben wird, ist entscheidend dafür, was für die Bevölkerung letztendlich Bedeutung und Wahrheitsanspruch hat.
Normverschiebungen als unbewusster Prozess
Normverschiebungen verlaufen in der Regel schleichend und fluide, sind im Prozess selten bewusst wahrnehmbar – oft muss erst ein bestimmtes Maß erreicht sein, damit eine Verschiebung als solche überhaupt erkannt und thematisiert wird. Das ist ein Grund dafür, warum Menschen häufig erst rückschauend aufhorchen und sich fragen: Wie konnte es dazu kommen? Normen werden vor allem dann wahrgenommen, wenn jemand gegen sie verstößt. Die relevanten „Spiegel“ der Normalität sind dabei vor allem das nahe soziale Umfeld (z. B. Jäger 2018). Wenn Menschen im nahen Umfeld ähnliche Einstellungen haben und ähnliches Verhalten zeigen wie man selbst, gibt es keine Widersprüche im Angebot der Normalitätswahrnehmung und keine Brüche bei sich ändernden Normen. Dabei kann eine Meinung, die zwar mehrheitsgesellschaftlich abgelehnt oder kritisch beäugt wird, in einer gesellschaftlichen Subgruppe als normal gelten. Dies kann man zum Beispiel in Kommentaren zu Online-Zeitungsartikeln sowie in rechtspopulistischen und rechtsradikalen Facebook-Gruppen beobachten, wo häufig die Meinungen Gleichgesinnter unkritisch bekräftigt, übernommen und gesteigert werden. Durch Effekte der selektiven Darbietung (selective exposure8;Crocker 1981) fehlt es in gesellschaftlichen Gruppen oft an Meinungsdiversität und kritischen Stimmen. Auch der Bestätigungsfehler (confirmation bias; Nickerson 1998), also Informationen nach einem bestimmten, die bereits bestehende Meinung unterstützenden Denkmuster zu selektieren und zu interpretieren, trägt zu diesem Effekt bei.
Einigkeit wird suggeriert und sowohl offline als auch online kursieren in „Echokammern“ immer wieder die gleichen Informationen und Meinungen (z. B. Del Vicario et al. 2016). Entsprechend einseitig verläuft die (unbewusste) Bildung der Normalitätswahrnehmung. Individuen überschätzen in der Folge die Repräsentation ihrer Meinung in der Gesamtgesellschaft und bezichtigen Personen mit abweichenden Meinungen verzerrter Realitätswahrnehmung und/oder des bewussten Täuschens (z. B. Ross & Ward, 1996). Eine Zunahme der gesellschaftlichen Polarisierung und die Abnahme des gesellschaftlichen Zusammenhalts können folgen. Doch wie kann all den oben beschriebenen Faktoren entgegnet werden?
Interventionen gegen Normverschiebung
Normen klar definieren und „rote Linien“ markieren
Wenn sich Normen gefestigt haben, die das Äußern von Vorurteilen und Ressentiments akzeptieren oder sogar fordern, ist es sinnvoll, menschenrechtsorientierte Normen sichtbar entgegenzusetzen, nach denen entsprechende Äußerungen nicht akzeptiert werden. Beispiel: In einem Verein oder einer Schulklasse sind Situationen von Diskriminierung aufgetreten. Nun wird gemeinsam über diese Vorfälle und geltende Normen diskutiert und es werden sichtbare Zeichen gesetzt (z. B. neue Vereinsrichtlinien, Plakat im Klassenzimmer).
Zivilcourage zeigen
Vorurteilsäußerungen, Beschimpfungen und Diskriminierungen sollte direkt und entschieden entgegengetreten werden. Das Benennen einer Äußerung oder Handlung als nicht-normative
Diskriminierung bewirkt, dass die Ungleichbehandlung nicht ‚normal‘ wird. Beispiel: Wird in der Straßenbahn ein Mensch syrischer Herkunft rassistisch beleidigt und niemand äußert sich dazu, wird angezeigt, dass die Beleidigung normal und womöglich berechtigt ist. Interveniert eine Person, ist diese Normalitätssicht nicht mehr haltbar und eigene zukünftige Erwiderungen werden gefördert.
Selbst nicht pauschalisieren
Es ist ratsam, auch selbst der Versuchung bewusst zu widerstehen, bestimmte Personen(-gruppen) einseitig und pauschal zu verurteilen. Hier besteht einerseits die Gefahr, unterschiedliche Motivationen innerhalb einer vielfältigen Gruppe zu unterschätzen (z. B. durch Vorurteile ‚Alle Nazis sind dumm‘ oder ‚Alle Reichsbürger_innen spinnen‘) und damit das Finden geeigneter Gegenmaßnahmen zu erschweren. Andererseits besteht die Gefahr, selbst gesellschaftlich schwächere Gruppen zu diskriminieren (z. B. Frauen, Schwule, Lesben, Menschen mit Behinderungen, obdachlose Menschen).
Reflexion der eigenen Vorurteile
Die eigenen bzw. die Normen und Vorurteile der eigenen Gruppe sind ständig kritisch und mit Mut zu Kritik und Widerspruch auch innerhalb der eigenen sozialen Gruppe (z. B. gegenüber Vertreter_innen einer ähnlichen politischen Ideologie) zu hinterfragen. Die Prägung bzw. Sozialisation im Leben durch bestimmte soziale Normen ist keine Rechtfertigung für das Ausdrücken und
Anwenden dieser Vorurteile.
Wissen erlangen
Wissen aneignen zu Vorurteilsprozessen, den Fragen, was Vorurteile sind, wie sie mit dem persönlichen sozialen Umfeld zusammenhängen und wo Diskriminierung beginnt, kann eine weitere hilfreiche Maßnahme zur Reduktion von Vorurteilen sein.
Vielfalt als Norm etablieren
Eine weitere Möglichkeit, die Verbreitung und Vehemenz von Vorurteilsäußerungen gegenüber zum Beispiel Geflüchteten und Muslim_innen zu ändern, besteht darin, Vielfalt (oder Multikulturalität etc.) als ‚Normalität‘ zu etablieren und sichtbar zu machen. Diese Norm der Vielfalt würde zum einen als direktes Gegenbild gegen die genannten Vorurteile wirken und zum anderen dazu führen, dass Herkunft, Ethnie und Religion nicht mehr ständig als Kategorien zur Unterscheidung von Menschen herangezogen werden.
Gemeinsame Basis schaffen
Die gesellschaftliche Polarisierung wird durch die Verfestigung unterschiedlicher Normalitätswahrnehmungen gefördert. Um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, ist es wichtig, Kontexte zu schaffen, in denen verschiedene gesellschaftliche Gruppen gemeinsam Realität erleben und Erfahrungen teilen können. So können sich Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster angleichen und es kann eine gemeinsame menschenrechtsbasierte Lebensrealität entstehen. In Bezug auf den Umgang mit Neuen Rechten in diesen Kontexten empfiehlt Volker Weiß den „souveränen Ausschluss“ (Weiß 2018: 44).
Für den Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft ist es wichtig, diese normativ als vielfältig und inklusiv zu definieren. Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse von Normen bedürfen Zeit, Reibung und Diskussion, welche jedoch demokratische Grundprinzipien nicht durch falsch verstandene Freiheit der Meinungsäußerung infrage stellen darf:
Eine Demokratie kann und muss vieles aushalten, und sie lebt von der Aushandlung gesellschaftlicher Kompromisse. Aber ihr Zusammenhalt und ihre Stabilität bemessen sich eben auch daran, wie, trotz aller Divergenzen und Differenzen zwischen Gruppen, die Gleichwertigkeit insbesondere ihrer gesellschaftlichen Minderheiten gesichert und gestärkt wird. (Zick 2016: 203)
Normen der Gleichwertigkeit aller Menschen müssen verteidigt und dort, wo sie nicht gelten,
erstritten werden. Dazu müssen bedrohliche Prozesse, die innerhalb einer Gesellschaft ablaufen, erkannt und minimiert werden. Bedrohlich sind nicht nur rechtspopulistische oder neu-rechte Bewegungen. Bedrohlich ist auch fehlendes Bewusstsein für die enormen individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Vorurteilen und Diskriminierung und fehlendes (individuelles) Intervenieren gegen die Normverschiebungen innerhalb unserer demokratischen Gesellschaft.
1 Ausgeschrieben in der Sendungsankündigung.
2
www.sz-online.de/nachrichten/kultur/nach-neger-tweet-mdr-sagt-sendung-ab-3919569.html [09.05.2018].
3 In den repräsentativen „Mitte-Studien“ veröffentlicht die Universität Leipzig seit 2002 alle zwei Jahre Messungen zu u. a. rechtsextremen Einstellungsmustern in der deutschen Gesellschaft. Seit 2013 werden auch Dimensionen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit erhoben (u. a. Einstellungen gegenüber Muslim_innen und Geflüchteten).
4 Eine Wahrscheinlichkeitsverteilung in Form einer umgedrehten U-Kurve.
5 http://www.sueddeutsche.de/kultur/framing-check-asyltourismus-als-waere-flucht-eine-kreuzfahrt-mit-pina-colada-1.4038595 [06.07.2018].
6 Übersetzung der Beitragsautor_innen.
7 Übersetzung der Beitragsautor_innen.
8 Die höhere Wahrscheinlichkeit, im eigenen Umfeld auf Personen zu treffen, die einem ähnlich sind, und mit diesen zu interagieren.
Literatur
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