Jüdische Existenz in Deutschland – eine jüdische Perspektive auf das bundesweite Feierjahr „1.700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“

Der vorliegende Beitrag plädiert für die Wichtigkeit einer jüdischen Perspektive auf Antisemitismus. Obwohl Juden einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der modernen Gesellschaft und ihrer Geistesgeschichte geleistet haben, wurden sie aus antisemitischer Sicht stets mit den Schattenseiten der Moderne in Verbindung gebracht. Die Ausgrenzung von Juden setzt sich bis heute im Nachdenken über Antisemitismus fort. Nach der Shoah wurden Juden aus meist erneut antisemitischen Motiven aus der institutionalisierten Erforschung und Bekämpfung des nationalsozialistischen und gegenwärtigen Antisemitismus ausgeschlossen. Die Autorin spricht sich gegen die zugeschriebene Objektposition von Juden zugunsten einer aktiven Einmischung aus.

 

Seit etwa 1.700 Jahren gibt es Juden auf dem Territorium, das wir heute als Deutschland bezeichnen. In dieser Zeit lebten und verschwanden hier verschiedene Gruppen und Stämme. Von heute aus betrachtet steckt in dem Wunsch, die Anwesenheit der Juden auf diesem Gebiet im Rahmen eines Feierjahres zu feiern, eine kleine Ironie, denn die Geschichte zeigt auch, dass die Mehrheitsbevölkerung keineswegs als deutsch beschrieben werden kann. Die Juden aber bildeten eine Konstante, und konstant war ebenfalls, dass sie nicht dazugehörten – egal, wer gerade herrschte oder lebte. Es gab Phasen eines ruhigen Zusammenlebens und solche, in denen die Juden zu leiden hatten. Diskriminiert waren Juden in den jeweiligen Unterdrückungssystemen jedoch immer. Diese sehr lange Tradition der Fremdheit, der Ausgrenzung und der Gewalt fand mit der Shoah ihren Höhepunkt. Nach Vernichtungskrieg und dem Zivilisationsbruch der Shoah endete 1945 zwar die rechtliche Diskriminierung der Juden und der Antisemitismus galt als geächtet, doch die wenigen Übriggebliebenen hatten und haben weiterhin Grund zur Sorge. Der Antisemitismus verschwand nicht, er veränderte sich nur. Heute zeigt er sich in vielen Gesichtern.

Die Frage ist also, was das Gedenken an die lange Präsenz der Juden bedeutet und was bzw. wie es gefeiert werden soll. Angesichts der Kontinuität des Antisemitismus scheint es doch schwierig, die besonderen Verdienste der Juden in Deutschland über die Jahrhunderte bis heute zu feiern. Denn macht es nun einen Unterschied, ob die Juden Verdienste haben oder nicht? Ändert das die Art des Gedenkens oder die Erinnerung an ihre Verfolgung und Ermordung? Die Antwort ist: ja und nein. Die Beiträge der Juden zur deutschen Kultur und Geschichte können sehr wohl wertgeschätzt werden. Doch wiegt die Tatsache dieser Wertschätzung die Geschichte ihrer Verfolgung nicht auf. Das eine mit dem anderen zu verrechnen, darf auf keinen Fall zugelassen werden. Im Gegenteil: Ein solches Vorgehen wirft ein inhumanes Licht auf jene, die jüdische Verdienste loben. Dies wäre eine Begründung, als wären diese Verdienste eine Bedingung. Außerdem trägt es dazu bei, Juden ein weiteres Mal zu exotisieren, sie als nicht dazugehörig zu beschreiben und traditionelle Stereotype weiterzuführen.

Juden in Deutschland und ihre Erfahrungen

Aus jüdischer Perspektive waren und sind die Existenz und das Überleben von Juden in Deutschland in hohem Maße ambivalent. Juden auf dem Gebiet Deutschlands waren mit einer „Normalität“ zwischen Verfolgung und Koexistenz konfrontiert. Manchmal erschienen sie nützlich oder wurden ob ihrer vermeintlichen Allmacht gefürchtet, meist jedoch waren sie eine verachtete Minderheit, die abgesondert und in Armut lebte. Die meisten der großen Verschwörungserzählungen über das abgrundtief Böse im Wesen und Handeln der Juden sind in Deutschland entstanden oder fanden hier begeisterte Verbreitung. Die Kirchen als Institutionen der Macht und des Staatswesens spielten dabei eine zentrale Rolle. Und dennoch – trotz der vielen Pogrome und Vertreibungen in Richtung Osten – blieben viele Juden in Deutschland und erlebten Zeiten der Toleranz und einsetzender Emanzipation. Die Haskala, die jüdische Aufklärung, hat sich nach Kräften um eine Annäherung an die christliche Mehrheitsgesellschaft und gegenseitige Öffnung bemüht. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben als möglichst gleichberechtigte Bürger war das Ziel jener aufklärerischen Bewegung.1 Diese Periode war eine Zeit der Hoffnung, aber auch der Anpassung. Viele deutsche Juden ließen ihr Judentum unsichtbar werden oder versuchten, es ganz abzulegen. Wenn heute von einer deutsch-jüdischen Symbiose gesprochen wird, wenn von Wurzeln der Gemeinsamkeit geredet wird, ist diese Zeit zwischen dem 18. Jahrhundert bis zur Wahl Hitlers gemeint. Doch auch hier blieben die Juden Fremde, und von Symbiose oder Gemeinsamkeit konnte – außer in Einzelfällen – gesellschaftlich keine Rede sein. Die jüdische Erfahrung einer immer wieder versuchten Annäherung, die vor allem von den Juden ausging und somit einseitig war und die schließlich mit der Vernichtung endete, lässt sich aus dem kollektiven Gedächtnis nicht wegwischen. Sie bildet auch heute einen Teil der jüdischen Perspektive ab, in der Vertrauen in die Mehrheitsgesellschaft nicht aufgebaut werden konnte. Zu groß war die Katastrophe der Shoah und zu schwach, inkonsistent und aggressiv die Reaktion der deutschen Nachkriegsgesellschaft auf dieses Ereignis.

Die Shoah ist erst einige Jahrzehnte her, ein kurzer Zeitraum im Verhältnis zur Wucht dieser Zerstörung und geschichtlich gesehen nur ein Wimpernschlag. Die Überlebenden und ihre Kinder leiden noch immer unter dem Trauma dieser Erfahrung. Ihre Skepsis, das Fehlen eines grundsätzlichen Vertrauens in das Handeln von Mehrheitsgesellschaften, besonders in das der Deutschen, bildet die eine Seite. Dennoch ist die Hoffnung geblieben, dass nach der Shoah ein Zusammenleben in Respekt und Anerkennung möglich ist. Diese Ambivanlenz in der jüdischen Perspektive zu kennen und zu verstehen, ist die Voraussetzung für eine gegenseitige Annäherung in der Gegenwart. Das gilt für alle Bereiche, einschließlich Nachbarschaft, Politik, Kunst und Wissenschaft.

Die Dialektik der Moderne

Der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn hat Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne bezeichnet (Salzborn 2010, vgl. auch Rensmann 2004). Demnach zeigt sich im Antisemitismus, dass die Idee der modernen und offenen Gesellschaft vor allem von jenen abgewehrt wird, die eine solche Moderne fürchten, die u. a. durch das Ende der Ständegesellschaft und den aufkommenden Kapitalismus entstand. Die Entwicklung einer modernen Gesellschaft erzeugt in der Tat heftige Verwerfungen und Widersprüche, die es in vor- oder frühkapitalistischen Zeiten so nicht gab. Das gilt nicht nur für den globalen Norden, sondern auch für den Süden, dem in seiner Entwicklung sehr lange keine eigenständige, unabhängige Position möglich war. Unrecht und Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Verbrechen an der Menschheit, wie Sklaverei und andere menschenverachtende Ausbeutung, nahmen Ausmaße an, die es zuvor nicht gegeben hatte. Doch die vorkapitalistischen Gesellschaften waren keineswegs emanzipatorisch, gerecht oder frei von Ausbeutung und Verbrechen, im Gegenteil. Anders als antimoderne Ideologien vermitteln wollen, geben die Lebensrealitäten in den vormodernen Verhältnissen keinerlei Anlass für Romantik und Nostalgie. Durch den Kapitalismus und die Moderne eskalierten Widersprüche und Konflikte, und es entstanden gesellschaftliche Gefälle und Machtkonzentrationen, die zu einer gewaltigen Veränderung der Gesellschaften führten. Gleichzeitig entwickelte sich eine Vorstellung davon, nach welchen Werten die Moderne zu streben in der Lage sein sollte und was Unrecht bedeutet. Dieser widersprüchliche Prozess hält bis heute an. Die Demokratie in der Moderne ist bisher die beste Möglichkeit, Freiheits- und Menschenrechte, Emanzipation und Wirtschaft in Bezug zueinander zusetzen und die Widersprüche abzumildern (siehe Adorno/Horkheimer 1947).

Die Moderne hat auch Bildung für die Breite der Bevölkerung gebracht. Die Loslösung von der Herkunft als einzig möglichem Kriterium für den sozialen Fortschritt ist eine der großen Errungenschaften der Moderne, die dennoch immer wieder in der Geschichte abgewehrt wird. Vor ihre Konflikte und wachsenden Komplexitäten gestellt, suchten die Menschen nach Erlösung und nach jemandem, der verantwortlich für die Schwierigkeiten ist, der die Schuld daran trägt und mit dessen Bekämpfung oder Vernichtung auch das Widersprüchliche verschwindet. Diese Rolle wurde von jeher den Juden zugeschrieben. Mit der Aufklärung eskalierten die Widersprüche: Die „Dialektik der Aufklärung“, wie sie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer formulierten, bedeutet auch, dass das aufklärerische Denken einerseits das freie Bewusstsein zu entwickeln half, womit andererseits mehr Unrecht wahrgenommen werden konnte. Es entstand ein Anspruch an Werte in der Gesellschaft und für jede Gruppe, und beides lag diametral entgegengesetzt zur Realität. Dennoch waren und sind die Aufklärung und die Demokratie gewaltige Motoren des Fortschritts. Nur ihre Schattenseiten zu sehen und die Dialektik dabei nicht gelten zu lassen, sondern ausschließlich die Verwerfungen der Moderne zu bemerken, ist das Kernstück antimoderner Bewegungen, die meist antisemitisch konnotiert sind.

Es ist logisch, dass mit dem Fortschreiten gesellschaftlicher Demokratisierung gebildete Bevölkerungsschichten fortan alle Probleme auf die Juden als Schuldige für diese Entwicklung projizierten und dabei auf mittelalterliche Antijudaismen zurückgriffen und aufbauten. Antisemitismus und Antijudaismus sind älter, hartnäckiger und stärker internalisiert als die Existenz des Kapitalismus. Antisemitismus gab es unter anderem Namen bereits lange vor der Aufklärung und der kapitalistischen Industrialisierung. Der Hass hat die Juden fast während ihrer gesamten Geschichte begleitet. Das Reservoir an historischem und kulturellem Gedächtnis, laut dem die Juden das Übel sind, ist in Europa und im Mittleren Osten groß und reicht mehr als 2.000 Jahre zurück. Der Antisemitismus in der Moderne schöpft aus dieser Tradition.

Jüdische Perspektive

Wenn es nun stimmt, dass Antisemitismus die negative Leitidee der Moderne ist, was ist dann die jüdische Perspektive auf den Antisemitismus? Dem voraus geht auch die Frage, was das Jüdische an jüdischer Perspektive bedeutet. Die Debatte darum, wie sich heute Antisemitismus ausdrückt und wie nicht, wird hart ausgefochten und führt nicht selten zu Gewalt. Diese Gewalt richtet sich gegen Juden und beginnt damit, dass ihnen ihre jüdische Perspektive abgesprochen und Antisemitismus geleugnet wird. In einer anderen Variante dieser Auseinandersetzung finden sich viele, die Antisemitismus nach eigenem Gusto definieren und wissenschaftliche Standards und anerkannte Definitionen ablehnen. In diesem Zusammenhang tauchen regelmäßig reale oder erfundene Juden auf, die ihnen die eigene Ansicht bestätigen. Juden bleiben hier Objekte, denen keine andere Rolle zugebilligt wird, als Zuschreibungen, Antisemitismus und Relativierungen der Shoah zu ertragen.

Eine ehrliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus jedoch braucht die jüdische Perspektive. Ohne sie ist es, als würden allein Männer über Sexismus reden oder ausschließlich Weiße über Rassismus. Eine jüdische Perspektive muss mehr sein als das generöse Angebot von nichtjüdischer Seite, sie nun auch mal gelten zu lassen. Doch wenn beispielsweise einer der Autoren, die zu Antisemitismus oder Rechtsextremismus schreiben, auch Jude ist, bedeutet dies noch nicht, einer jüdischen Perspektive zu folgen. Diese drückt sich dann aus, wenn auch aus dem Jüdischen heraus argumentiert wird oder die Sprach- und Machtverhältnisse aus dieser Minderheitenposition heraus formuliert werden. Aus diesem Grund ist es nicht nur gut, die jüdische Perspektive zur Kenntnis zu nehmen, es ist sogar unabdingbar und zwar aus zwei Gründen: Zum einen wird ohne ihre Perspektive die Sache, um die es geht, nicht deutlich, und zum zweiten wird es Zeit, dass die Juden endlich aus der Objektrolle heraustreten und selbst zu Subjekten, zu handelnden Personen werden. Gerade in der Betrachtung des Antisemitismus ist das wichtig, denn ohne das geringste Verständnis des Jüdischen, ohne jedes Wissen darum bleiben wichtige Elemente des Antisemitismus ungesehen.

Jüdische Studien und Antisemitismus

Antisemitismus kommt ganz ohne Juden aus. Er ist ein Zerrbild, eine Projektion, ja sogar eine Abspaltung, mit der die Welt erklärt werden kann, besonders wenn diese Welt zu komplex zu werden droht. Das Jüdische, die Juden sind dabei nie Subjekte, handelnde Personen oder Gemeinschaften, sondern ein Symbol, eine Zuschreibung (Volkov 2000). Die Theorien über den Antisemitismus und seine Funktionen, besonders in der Moderne, erklären die Mechanismen der Auseinandersetzung damit, was die in Europa christlich geprägten Mehrheitsgesellschaften als jüdisch empfinden. Hierbei bleiben die Juden Objekte, denen der Antisemitismus passiert.

Nach der Shoah hat sich in der Kritik des Antisemitismus ein eiserner Grundsatz herausgebildet. Die Juden sind am Antisemitismus nicht schuld, sie können ihn durch ihr Handeln oder Verhalten nicht beeinflussen. Das Problem liegt ausschließlich bei den Trägern des Antisemitismus. Diese Prämisse ist unbedingt richtig. Doch an dem Punkt kann das Nachdenken nicht für alle Zeiten stehen bleiben.

Das Motiv dieser Auffassung lag darin, dass bei der Bekämpfung von Antisemitismus zunächst die Tätergesellschaft in die Pflicht genommen werden sollte. Dass Juden jedoch lange Zeit und bis heute in der Holocaust- und Antisemitismusforschung kaum vorkommen, ihnen im Gegenteil sogar bedeutet wird, dass sie in dem Bereich nichts zu suchen hätten, ist eine Anmaßung. Juden und Antisemitismus – das darf nicht zusammengedacht werden. Die einzige Rolle, die Juden hier einnehmen dürfen, ist die der Zeugen des Antisemitismus, die des Opfers, des Objekts. Eine eigene Expertise wird ihnen nicht zugestanden.

Die Begründung dafür ist eine Mischung aus Mitleid, Paternalismus und veritablem Vorurteil, der zufolge Juden für diesen Bereich der Reflexion viel zu involviert seien, zu betroffen, also nicht objektiv oder neutral genug, oder dass sie – besonders perfide – eigene Interessen verfolgen würden. Diese Haltung wird nach wie vor vertreten; und in Deutschland, dem Land der Shoah, ist sie besonders absurd, bedeutet sie doch im Umkehrschluss, dass nichtjüdische Deutsche zur Shoah ein vollkommen neutrales und keinesfalls intentionales Verhältnis hätten. So entstanden zwei mit Nachdruck getrennte Bereiche des Denkens und Handelns. Auf der einen Seite die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in Projekten, in der Wissenschaft und in der Politik (Rabinovici et al. 2004; Heilbronn et al. 2019). Auf der anderen Seite sind da die „jüdischen Studien“ (von Braun/Brumlik 2018), die vermittelnd Wissen und Verständnis verbreiten.

Diese Trennung spiegelt das Dilemma jüdischer Existenz in der Moderne und war für die Juden in der Zeit nach der Shoah eine zweischneidige Sache. Einerseits waren sie nicht genötigt, sich selbst zu erklären oder gar zu rechtfertigen, um dem Antisemitismus und seinen Stereotypen beizukommen. Andererseits wurden sie nach der Shoah aktiv daran gehindert, an deren Aufklärung und wissenschaftlicher Aufarbeitung teilzunehmen. Die deutsche „Erinnerungsabwehrgemeinschaft“ (Salzborn 2020) hatte kein Interesse an Aufklärung der Verbrechen, jedenfalls nicht durch die Juden, die nicht durch Abwehr und Schuld blockiert waren. Aus diesem Grunde entstand die Holocaustforschung in Deutschland nur langsam. Jüdischen Wissenschaftlern wurde die Objektivität abgesprochen, ihre Publikationen und Bücher wurden selten verlegt und wenn, dann lösten sie heftige Reaktionen der Schuldabwehr aus.2 Genauso verhielt es sich in der Antisemitismusforschung. Eine jüdische Reflexion zu diesem Thema, eine Analyse aus der Sicht der Juden geriet im besten Fall zu einer subjektiven Opfererzählung, die dann auch Teil einer „ernsthaften“ und „objektiven“ wissenschaftlichen Darstellung sein durfte. Dass deutsche Wissenschaftler als Teil der ehemaligen Tätergesellschaft in diesem Zusammenhang auch eine subjektive Geschichte haben, bleibt ausgeblendet und verdrängt.

Diese Mechanismen wirken bis in die Gegenwart. Die Abwehrgemeinschaft in Deutschland hat über Jahrzehnte den aktuellen Antisemitismus in seinen verschiedenen Formen ignoriert oder kleingeredet. Nach der deutschen Einheit hat diese Entwicklung zu einer verheerenden Ignoranz gegenüber dem Rechtsextremismus geführt. Auch andere Träger antisemitischer Einstellungen blieben unerwähnt und damit für die politische Einschätzung der Situation unerkannt. Gerade die Renaissance des Rechtsextremismus in Ostdeutschland und die offene Äußerung von Antisemitismus haben dazu beigetragen, dass Deutschland insgesamt nun mit einer in fast allen Parlamenten sitzenden rechtsradikalen Partei und entsprechenden Mainstreamdiskursen zu tun hat. Die Radikalisierung der Debatten, die Verbreitung von Hass gegenüber Minderheiten, der Antisemitismus hätten weit weniger Verbreitung gefunden, wenn die Auseinandersetzung damit nach der Vereinigung ehrlich und konsequent geführt worden wäre und politische Folgen gehabt hätte.

Das Unbehagen am Jüdischen und die Antimoderne

Das Judentum hat in seiner Jahrtausende währenden Entwicklung entscheidende Beiträge zu dem geleistet, was wir heute als Moderne bezeichnen. Ohne den jüdischen Beitrag, die jüdische Philosophie und Ethik gäbe es keine Moderne, keine Demokratie, die auf Universalismus, Gleichwertigkeit und Rechtsstaatlichkeit beruht und vernetzt und global zu handeln imstande ist. Die Elemente des Jüdischen darin sollen in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus Erwähnung finden. Nur so wird klar, wie und warum die Abwehr der Moderne auch eine Abwehr des Jüdischen darstellt.

Das „Gerücht über die Juden“, wie Theodor Adorno und Max Horkheimer es formulierten, sagt etwas über den Antisemitismus derer, die ihn reproduzieren (Adorno/Horkheimer 1947). Dem Jüdischen, dem dieser Hass gilt, gebührt dennoch eine genauere Betrachtung. Sie macht deutlich, dass Antisemitismus keinesfalls allein ein Ergebnis der Moderne bzw. der Aufklärung ist, sondern sich durch alle Phasen der Entwicklung seit 2.000 Jahren zieht. Jeder innovative Schritt in Richtung der Moderne war von antijüdischem Hass begleitet. Die Innovation des Jüdischen begann bereits lange davor.

Die Juden, das Jüdische wurden für alles Übel in der Welt verantwortlich gemacht. Die Benennung von Sündenböcken und die Externalisierung jedes Konflikts, jedes Unglücks durch eine nichtjüdische gesellschaftliche Mehrheit war ihr Prinzip. Im Judentum hingegen gibt es keine Externalisierung des Bösen. Im Gegenteil, seine Internalisierung als Bestandteil der realen und daher widersprüchlichen Welt macht das jüdische Denken und Handeln aus. Aus jüdischer Perspektive ist nur so eine ehrliche, pragmatische und lösungsorientierte Bewältigung von Konflikten möglich. Diese grundsätzlich verschiedenen Sichtweisen auf das Leben sind Teil des großen Unbehagens am Jüdischen bis in die Moderne hinein.3 In Abgrenzung vom Jüdischen als einer Perspektive voller Widersprüche, Optionen und Ambivalenzen ist in der nichtjüdischen Welt der Wunsch nach Eindeutigkeit, Dichotomie und manichäischer Klarheit gewaltig und gewalttätig.

In der heutigen Moderne, die ohne Abstraktion, Rationalität, Gleichwertigkeit, rechtliche Standards, Konflikt- und Organisationsfähigkeit nicht denkbar wäre, erlebt der Antisemitismus eine Renaissance. Alte Mythen mit neuen Gesichtern lehnen auf verschiedene Weise die Moderne ab. Sie reproduzieren Verschwörungslegenden über die Schuld der Juden an den Problemen der Moderne, wie wir es gerade beispielhaft in den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen erleben. Sie externalisieren Probleme, verweigern Verantwortung und reagieren mit Hass auf Vernunft.

Nach dem Massenmord an den Juden, der als singuläres Menschheitsverbrechen anerkannt wurde, entstanden neue Formen des Antisemitismus. Einige von ihnen nehmen die Anerkennung der Singularität sogar zum Anlass, weiterführende Antisemitismen zu entwickeln. Dies hat, neben der Fortsetzung der Verfolgungstraumata, weitere Auswirkungen auf die in der Moderne lebenden Juden. Sie erleben, wie eine modernere und vermeintlich jüdischere Welt sie weiterhin nötigt, zwischen Unsichtbarkeit bzw. Anpassung und Hass zu wählen.

Es ist notwendig, die Elemente des Jüdischen in der Moderne genauer zu beschreiben und zu betrachten, wie sie auf die Genese des Antisemitismus wirkten. Es ist wichtig, eine jüdische Perspektive zum Thema Antimoderne und Antisemitismus deutlich zu machen, auch wenn das Judentum eine extrem kleine Minderheit darstellt. Im Antisemitismus geht es weder um eine reale, von Juden ausgehende Gefahr noch um eine Bedrohung durch sie, sondern um die obsessive Fixierung auf das Jüdische als eine „negative Leitidee der Moderne“ (Salzborn 2010). Was genau aber die Leitideen des Jüdischen sind, seit wann und wie sie wirken, wurde in diesem Zusammenhang bisher selten diskutiert.
Es ist Zeit zu erklären, worauf die Obsession des Hasses auf Juden reagiert. Antisemitismus ist nicht selbst verschuldet. Doch Juden sind eben heute auch nicht nur Objekte von Hass, sondern Subjekte, die ihre Auffassungen einbringen und als solche wahrgenommen werden wollen.

 

1 Ein eindrückliches Beispiel dafür sind die jüdischen Freischulen Ende des 18. Jahrhunderts, die zum Ziel hatten, eine junge jüdische und nichtjüdische Generation gemeinsam zu beschulen, um so Vorurteilen von klein auf vorzubeugen.

2 Als Beispiel sei die Geschichte der deutschsprachigen Ausgabe von Raul Hilbergs Standardwerk über die Ermordung der europäischen Juden genannt (Hilberg 1990). Sie wurde 1961 fertiggestellt. In der Bundesrepublik erschien sie zum ersten Mal in einem kleinen Verlag 1982.

3 Siehe dazu auch Freud 1974 [1930].

 

Literatur

Adorno, Theodor/Horkheimer, Max (1947): Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. Querido Verlag: Amsterdam.
Freud, Sigmund (1974 [1930]): Das Unbehagen in der Kultur. Studienausgabe. Band IX. Fischer: Frankfurt, S. 191–­270.
Heilbronn, Christian/Rabinovici, Doron/Sznaider, Natan (2019): Neuer Antisemitismus. Suhrkamp: Berlin.
Hilberg, Raul (1990): Die Vernichtung der europäischen Juden. 3 Bände. Fischer Verlag: Frankfurt a. M.
Rabinovici, Doron/Speck, Ulrich/Sznaider, Natan (2004): Neuer Antisemitismus? Suhrkamp: Frankfurt a. M.
Rensmann, Lars (2004): Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.
Salzborn, Samuel (2010): Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Campus: Frankfurt a. M.
Salzborn, Samuel (2020): Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Hentrich & Hentrich: Leipzig.
Volkov, Shulamit (2000): Antisemitismus als kultureller Code. C. H. Beck: München.
von Braun, Christina/Brumlik, Micha (2018): Handbuch Jüdische Studien. UTB: Stuttgart.