Antisemitismus in Thüringen – Erste Erkenntnisse der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen (RIAS Thüringen)

Der vorliegende Beitrag gibt einen ersten Einblick in die Artikulationsformen von Antisemitismus in Thüringen. Dafür wurden alle antisemitischen Vorfälle der Jahre 2014 bis 2019 in Thüringen, die von zivilgesellschaftlichen Quellen gesammelt und erfasst wurden, zusammengetragen und nach zeitlicher und räumlicher Verteilung, nach Art, Medium und Betroffenen des Vorfalls sowie nach der Artikulationsform und dem politischen Hintergrund ausgewertet. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass sich Antisemitismus in Thüringen oft als „Antisemitismus ohne Juden“ ausagiert: Dieser tritt insbesondere im öffentlichen Raum in Form von Versammlungen, Sachbeschädigungen oder verletzendem Verhalten ohne personelle Adressat*innen auf. In den dokumentierten Vorfällen richtet er sich vielmehr in Form eines Schuldabwehr-Antisemitismus in besonderem Maße gegen die Erinnerungskultur. Darüber hinaus sind die Vorfälle überproportional dem rechtsradikalen Spektrum zuzuordnen.

 

Einleitung

In den vergangenen Jahren sind immer häufiger brutale antisemitische Gewalttaten in Deutschland verübt worden – bis hin zum rechtsextremen Terroranschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur am 9. Oktober 2019. Auch in Thüringen ist die Bedrohung durch Antisemitismus akut: Antisemitismus ist Kernbestandteil rechtsradikaler und rechtsextremer Ideologie, die in Thüringen vielfältig präsent ist (Best et al. 2019). Das gilt für den militanten Rechtsextremismus der Kameradschafts- sowie Rechtsrock- und Liedermacherszene (Mobit 2020a) oder für den rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrund und dessen Unterstützer*innen (Quent/Rathje 2019), aber auch für den parlamentarischen Rechtsextremismus, verkörpert in der Thüringer AfD (Salzborn 2019). Auch die Einstellungsforschung des Thüringen-Monitors verzeichnet für 2019 einen Anstieg antisemitischer Einstellungen in Thüringen (Reiser et al. 2019: 62ff. sowie siehe den Beitrag von Friedrich & Lammert in diesem Band). Dass vom Antisemitismus nicht nur konkrete Gefahr für Juden und Jüdinnen ausgeht, zeigte sich drastisch im Januar 2020, als auf dem Gelände der Gedenkstätte Mittelbau-Dora Sprengstoff gefunden wurde. 

Es ist eine dringende Aufgabe für Politik und Zivilgesellschaft, Kenntnisse über das Ausmaß und die Ausprägungen von Antisemitismus auf Ebene der Bundesländer zu erlangen. Nur so können konkrete problemorientierte Präventions- und Interventionsmaßnahmen, aber auch bessere Unterstützungs- und Sicherheitsangebote für Betroffene entwickelt werden. Die flächendeckende Erfassung von Antisemitismus gestaltet sich jedoch als schwierig: Viele antisemitische Vorfälle, die Betroffenen alltäglich widerfahren, erfüllen keinen Straftatbestand und werden polizeilich nicht erfasst. Sie bleiben damit im Dunkelfeld. Hinzu kommt: Viele Betroffene stellen erst gar keine Anzeige, da sie in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht haben, dass Polizei oder Staatsanwaltschaft den antisemitischen Charakter der Vorfälle verkannten oder die Ermittlungen erfolglos blieben, da keine Tatverdächtigen ermittelt werden konnten (European Union Agency for Fundamental Rights 2019).

Antisemitische Vorfälle in Thüringen, die nicht polizeilich erfasst werden, dokumentieren bisher die Chroniken der zivilgesellschaftlichen Beratungsstellen ezra – mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und Mobit e. V. – mobile Beratung in Thüringen für Demokratie – gegen Rechtsextremismus. Beide Chroniken bilden jedoch nur einen Bruchteil der antisemitischen Vorfälle in Thüringen ab: Dem Arbeitsauftrag der beiden Projekte entsprechend erfassen die Chroniken hauptsächlich Antisemitismus im Kontext von Rechtsextremismus und Neonazismus. Meist werden nur Vorfälle dokumentiert, die Gegenstand der eigenen Beratungspraxis sind oder öffentlich werden, weil sie mit Gewalttaten (d. h. körperlichen Angriffen und schwerer Sachbeschädigung) einhergehen oder anderweitig strafrechtlich relevant sind. Doch zum einen ist Antisemitismus nicht auf den Rechtsextremismus beschränkt, sondern in allen politischen Spektren verbreitet – etwa im islamischen Spektrum (siehe die Beiträge von Becker und YIlmaz in diesem Band), im linken Spektrum (siehe den Beitrag von Ionescu) sowie in der „Mitte“ der Bevölkerung. Zum anderen kann Antisemitismus nicht auf die oben genannten Tatbestände reduziert werden, da er sich auch in verschiedenartigen Handlungen mit Botschaftscharakter manifestiert, bei denen sich nicht immer konkrete, direkt betroffene Personen identifizieren lassen. Darüber hinaus sind die in den Chroniken verzeichneten antisemitischen Vorfälle bisher nicht zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Kontextualisierung und Analyse geworden.

Um diesen Problemen der Erfassung antisemitischer Vorfälle zu begegnen, wurde 2015 die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Berlin gegründet. Zum einen bietet die zivilgesellschaftliche Meldestelle einen vertrauensvollen Anlaufpunkt für Betroffene. Ihre alltäglichen Erfahrungen von Antisemitismus werden unabhängig von ihrer strafrechtlichen Relevanz dokumentiert und die Betroffenenperspektive in der Öffentlichkeit sichtbar gemacht und gestärkt (siehe Beitrag von Kopp & Poensgen in diesem Band). Zum anderen informiert und sensibilisiert RIAS staatliche und nicht staatliche Stellen sowie eine breite Öffentlichkeit über die verschiedenen Ausprägungsformen von Antisemitismus, unabhängig vom politischen Motiv der Täter*innen. Seit 2019 werden auch in anderen Bundesländern regionale Dokumentations- und Meldestellen als Teil eines bundesweiten Verbands aufgebaut. Mit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen (RIAS Thüringen) am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft entsteht derzeit eine Anlaufstelle, die das Konzept von RIAS Berlin im Hinblick auf die spezifische Thüringer Situation adaptiert. In Zukunft werden hier antisemitische Vorfälle systematisch dokumentiert, wissenschaftlich analysiert und über Antisemitismus informiert – unabhängig von der strafrechtlichen Relevanz und des politischen Hintergrunds der Vorfälle. Die Zusammenarbeit mit ezra und Mobit sowie weiteren Institutionen und jüdischen Akteur*innen als wichtige Kooperationspartner*innen in einem thüringenweiten Netzwerk ist dabei unverzichtbar.

Um einen ersten Einblick in die Artikulationsformen von Antisemitismus in Thüringen zu gewinnen, ist eine wissenschaftliche Auswertung der bisher durch zivilgesellschaftliche Organisationen erfassten Vorfälle trotz der geschilderten Einschränkungen sinnvoll. Für den vorliegenden Artikel wurden daher alle antisemitischen Vorfälle der Jahre 2014 bis 2019 in Thüringen zusammengetragen, die von zivilgesellschaftlichen Quellen gesammelt und erfasst wurden, und nach zeitlicher und räumlicher Verteilung, nach Art, Medium und Betroffenen des Vorfalls sowie nach der Artikulationsform und dem politischen Hintergrund ausgewertet. Die hier dargestellten Ergebnisse liefern heuristische Orientierungswerte, auf deren Grundlage erste Überlegungen zu Verbreitung, Erscheinungsformen und politischen Hintergründen antisemitischer Vorfälle in Thüringen aus zivilgesellschaftlicher Perspektive angestellt werden können. Für eine präzisere Einschätzung der Situation ist es notwendig, die zivilgesellschaftlich erfassten Daten mit den polizeilich ermittelten Daten der sogenannten Politisch motivierten Kriminalität (PMK) zu antisemitisch motivierten Straftaten abzugleichen. Ein solcher Abgleich ist Bestandteil einer größeren Studie zum Antisemitismus in Thüringen („Problembeschreibung“), die RIAS Thüringen im Mai 2021 veröffentlichen wird.

Vorstellung der Ergebnisse

Die Daten, die dieser Analyse zugrunde liegen, wurden aus verschiedenen zivilgesellschaftlichen Chroniken, Informationsportalen und Quellen zusammengetragen. Neben den Chroniken antisemitischer bzw. rechtsextremer Vorfälle von ezra und Mobit gehört dazu die online verfügbare Chronik antisemitischer Vorfälle der Amadeu Antonio Stiftung. Die dokumentierten Vorfälle wurden den Beratungsstellen und Initiativen über Medienrecherchen, eigenes Vor-Ort-Monitoring oder langjährige lokale Meldestrukturen bekannt. Darüber hinaus flossen in den Datensatz Vorfälle ein, die über das Online-Meldeportal report-antisemitism.de für die Region Thüringen eingingen. Einige wenige Vorfälle wurden im Austausch mit jüdischen Akteur*innen am IDZ dokumentiert. Auf einen Fall aus dem Jahr 2014 sind wir durch das Internetportal blick nach rechts aufmerksam geworden. Die Daten wurden im Sommer 2020 aus den verschiedenen Datenbanken zusammengetragen.

Ort und Zeit

Im Zeitraum Ende Mai 2014 bis Dezember 2019 wurden insgesamt 126 antisemitische Vorfälle in Thüringen registriert. Dies entspricht durchschnittlich ca. 22 antisemitischen Vorfällen pro Jahr. Die geringe Fallzahl in den Jahren 2014 (7) und 2015 (13) (siehe Abb. 1) lässt jedoch nicht notwendig auf einen Anstieg antisemitischer Vorfälle in den Folgejahren schließen, sondern zeigt vor allem, dass antisemitische Vorfälle in den späteren Jahren besser dokumentiert wurden. Die relative Konstanz der registrierten Vorfälle in den Jahren 2016–2019 legt nahe, dass für diesen Zeitraum die mit den eingesetzten Methoden sichtbaren Vorfälle gut abgedeckt wurden. Die Daten, die uns für 2020 vorliegen, zeigen, dass sich der Trend aus den Jahren 2016–2019 fortsetzt.



Schlüsselt man die Vorfälle nach den Orten auf, an denen sie sich ereigneten, so fällt auf: 43 % der Vorfälle wurden in den kreisfreien Städten Erfurt (20 Vorfälle), Jena (14), Weimar (12) und Eisenach (8) erfasst (siehe Abb. 2). Insbesondere Erfurt sticht heraus. Dies ist neben einer intensiveren Dokumentation auch darauf zurückzuführen, dass Erfurt das Zentrum des politischen und jüdischen Lebens in Thüringen ist. Für Weimar ist festzuhalten, dass sich 8 der 12 Vorfälle im Kontext der Gedenkstätte Buchenwald und damit verbundenen Exponaten in der Weimarer Innenstadt ereigneten. Bei 4 der 8 Fälle in Eisenach handelt es sich um Schändungen des Gedenkortes für die 1938 zerstörte Synagoge.



Auch wenn relativ viele Vorfälle im Ilm-Kreis (10), im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt (10) und im Landkreis Gotha (7) registriert wurden, so lassen die registrierten Vorfälle kein Muster erkennen, die die relative Anhäufung von Vorfällen erklären. Anders bei der relativen Häufung im Landkreis Hildburghausen (6): Hier konzentrieren sich die Vorfälle auf die benachbarten Ortschaften Themar (4) und Kloster Veßra (2), die als Zentren rechter Aktivitäten bekannt sind, z. B. als Austragungsort von Rechtsrock-Konzerten (Mobit 2018: 31–33). Ebenfalls 6 Vorfälle wurden im Landkreis Nordhausen registriert, von denen sich die Hälfte im Kontext des ehemaligen KZ Mittelbau-Dora ereigneten. Keine Vorfälle wurden in den Landkreisen Sonneberg, Suhl und im Wartburgkreis registriert. Dies zeigt jedoch nicht an, dass es in den ländlichen Gebieten Thüringens weniger oder gar keine antisemitischen Vorfälle gibt, sondern lediglich, dass bisher keine registriert wurden.

Die meisten Vorfälle ereigneten sich auf Straßen und öffentlichen Plätzen (39), gefolgt von Gedenkorten (26), wozu Gedenkstätten (8), Stolpersteine (4) und sonstige Gedenkzeichen (13) gehören (siehe Abb. 3). Zu letzteren zählen Installationen und Denkmäler, die an die Shoah erinnern. Bei 10 der 11 auf Privatgelände registrierten Fällen handelte es sich um Immobilien u.Ä., die Akteur*innen aus der rechtsextremen Szene gehören (Mobit 2018). Unter den 7 Vorfällen, die sich auf jüdischen Friedhöfen ereignet haben, sind 4 Fälle von Beschädigung, eine Schmiererei, eine neonazistische Kundgebung an einem jüdischen Friedhof und insbesondere ein Angriff durch zwei Männer auf eine Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen zu verzeichnen. Drei Vorfälle richteten sich direkt gegen Synagogen. Unter „Sonstige“ wurden antisemitische Vorfälle registriert, die sich in der Gastronomie (6), in Fußballstadien (5), öffentlichen Grünanlagen (3), im Internet (3), in Bildungseinrichtungen (3) und im ÖPNV (3) ereigneten. Dazu kommen zwei Vorfälle am Arbeitsplatz, einer an einer staatlichen Geschäftsstelle sowie ein Übergriff im privaten Wohnumfeld. Bei 3 Vorfällen liegen keine konkreten Angaben zum Tatort vor.


 

Art der Vorfälle, Medien und Betroffene

Um die Charakteristiken antisemitischer Vorfälle in Thüringen beurteilen zu können, werden vorhandene Hinweise auf Art der Vorfälle, die dabei verwendeten Medien und die Betroffenen ausgewertet. Die Art der Vorfälle (siehe Abb. 4) wurde nach folgender Kategorisierung bestimmt:1

Als extreme Gewalt gelten physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können oder die strafrechtlich gesehen schwere Körperverletzungen darstellen. In dieser Kategorie wurden in Thüringen zwischen
2014 und 2019 keine Vorfälle registriert.

- Als Angriffe werden Vorfälle betrachtet, bei denen Personen körperlich angegriffen werden, ohne dass dies lebensbedrohliche oder schwerwiegende körperliche Schädigungen nach sich zieht. In dieser Kategorie wurden 4 Vorfälle registriert.
- Unter einer gezielten Sachbeschädigung wird die Beschädigung oder Beschmutzung jüdischen Eigentums verstanden, etwa durch antisemitische Symbole, Plakate oder Aufkleber. Zu dieser Kategorie zählen darüber hinaus Beschädigungen oder Beschmutzungen von Shoah-Gedenkorten, also von Gedenkstätten, Gedenktafeln, Stolpersteinen, Geschäftsstellen entsprechender Institutionen sowie von anderen Erinnerungszeichen für die Opfer der Shoah. In diese Kategorie fallen 36 Vorfälle.
- Als Bedrohung gilt jegliche eindeutige und konkret an eine Person oder Institution adressierte schriftliche oder mündliche Androhung von Gewalthandlungen. In dieser Kategorie wurden 8 Vorfälle registriert.
- Als verletzendes Verhalten werden sämtliche antisemitischen Äußerungen gegenüber jüdischen oder israelischen Personen oder Institutionen gefasst, aber auch antisemitische Beschimpfungen oder Kommentare gegenüber anderen Personen und Institutionen. Auch online getätigte antisemitische Äußerungen werden zum verletzenden Verhalten gezählt, sofern diese direkt an eine konkrete Person oder Institution adressiert sind. In dieser Kategorie wurden 37 Vorfälle registriert.
- Unter Versammlungen sind Versammlungen aufgeführt, wenn auf ihnen in Reden, Parolen, mitgeführten Transparenten oder im Aufruf antisemitische Inhalte festgestellt werden. In dieser Kategorie wurden 41 Vorfälle registriert.

Hervorzuheben ist die hohe Zahl an dokumentierten Vorfällen – v.a. an Versammlungen und Sachbeschädigungen – in Thüringen, die sich nicht direkt gegen jüdische/israelische oder als jüdisch/israelisch identifizierte Personen richtet (siehe Abb. 4). Stattdessen wird dem Antisemitismus meist in der Öffentlichkeit an Orten mit symbolischer Wirkkraft Ausdruck verliehen, zum Beispiel als Schmiererei auf jüdischen Friedhöfen, als Zerstörung von Gedenkorten und -stätten oder in Form von Aufmärschen, auf denen z. B. der Holocaust geleugnet und der Nationalsozialismus glorifiziert wird. Diese Beobachtung korreliert einerseits mit den verwendeten Medien (siehe Abb. 5): 82 % der Vorfälle richteten sich nicht real oder virtuell gegen eine Person, sondern gingen von Versammlungen aus (45 Vorfälle) oder wurden in Form von Schmierereien (38), Beschädigungen jüdischer Orte oder Gedenkorte (14), Aufklebern (4) oder Flyern/Plakaten (2) getätigt. Gegenüber Personen kam es 8 Mal (6 %) zu direkten Übergriffen („face to face“), 4 Fälle (3 %) von Drohbriefen wurden registriert.



Andererseits spiegeln sich die Befunde auch in der Tatsache, dass bei einer Gesamtzahl von insgesamt 126 Vorfällen zwischen 2014 und 2019 lediglich in 61 Fällen Betroffene identifiziert wurden (siehe Abb. 6). Bei 62 Vorfällen liegen keine Angaben über konkrete Betroffene vor. Bei einem Großteil der identifizierten Betroffenen handelt es sich um Institutionen (75 %), darunter insbesondere jüdische Institutionen (Synagogen, Friedhöfe, jüdische Gedenkorte) (22 Vorfälle) und sonstige Gedenkstätten (17), aber auch Parteien. Bei 5 der 7 Vorfälle, bei denen Personen individuell betroffen waren, hatten die Personen einen jüdischen Hintergrund. 4 der 7 Vorfälle, bei denen Gruppen antisemitisch adressiert wurden, ereigneten sich in Fußballstadien. Dabei handelt es sich um die Verwendung der antisemitischen Schmähung „Juden Jena“, die auf den FC Carl Zeiss Jena bzw. seine Fans zielt. Dass „nur“ in 14 von 126 antisemitischen Vorfällen konkrete Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen betroffen waren, zeigt: Die Mehrheit der dokumentierten antisemitischen Artikulationen in Thüringen kommt ohne direkt adressierte Juden und Jüdinnen aus.



Dieser Befund darf jedoch nicht als Ausweis für einen vermeintlich „harmloseren“ Antisemitismus missverstanden werden. Vielmehr kann dieser „Antisemitismus ohne Juden“ als ein Spezifikum von Regionen ohne größere jüdische Bevölkerung begriffen werden, zu denen auch Thüringen gehört. Dieser „Antisemitismus ohne Juden“ tritt nicht minder gefährlich oder militant auf – im Gegenteil. Die Antisemitismusforschung hat dieses Phänomen mit dem Auseinanderfallen von antijüdischer Projektion und der Realität erklärt (Salzborn 2010): Für die antisemitische Weltanschauung ist es geradezu konstitutiv, dass sie unabhängig vom tatsächlichen Verhalten realer Juden und Jüdinnen existiert.

Ideologische Hintergründe

Eine weitere Möglichkeit, die Spezifik antisemitischer Artikulation in Thüringen konkreter zu benennen, ist, die antisemitischen Topoi und Motive zu untersuchen, die im Rahmen des Vorfalls in Erscheinung treten (siehe Abb. 7). Es kann sich um mündliche oder schriftliche Äußerungen der Täter*innen, um verwendete Symbole, um spezifische Merkmale der Tat oder um spezifische Merkmale des Täters bzw. der Täterin handeln. Dabei ist es möglich, dass sich in einem Vorfall mehrere Motive zeigen.
In der vorliegenden Untersuchung wurden die Topoi gemäß den RIAS-Standards folgenden möglichen Ausprägungen von Antisemitismus zugeordnet:

- moderner Antisemitismus (Aussagen, die Juden und Jüdinnen eine besondere politische oder ökonomische Macht vorwerfen, z. B. in Form von Verschwörungsmythen)
- israelbezogener Antisemitismus (Aussagen und Aktivitäten, die sich in antisemitischer Weise auf den jüdischen Staat Israel beziehen)
- Antisemitisches Othering (Juden und Jüdinnen werden als fremd und nicht dazugehörig beschrieben, z. B. in Form des Ausdrucks „Du Jude!“ als Schmähung)
- völkisch-rassistischer Antisemitismus (rassistisch begründeter Antisemitismus, darunter direkte Bezüge auf die Ideologie des Nationalsozialismus)
- Schuldabwehr-Antisemitismus bzw. sekundärer Antisemitismus (Formen von Antisemitismus, die auf die Shoah und die Erinnerung an die Shoah bezogen sind, z. B. Holocaustleugnung, Schlussstrichforderungen)
- Antijudaismus (religiös begründeter Antisemitismus bzw. Ressentiments gegen die jüdische Religion).

Auffällig ist der hohe Anteil der dokumentierten Vorfälle (60  %), die sich dem Schuldabwehr-Antisemitismus zurechnen lassen. Der Schuldabwehr-Antisemitismus ist ein Phänomen, das nach 1945 als Abwehrreaktion auf die nationalsozialistische Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen bzw. die Erinnerung daran entstand (siehe den Beitrag von Salzborn in diesem Band). Dieser Antisemitismus artikuliert sich „nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“. Er diffamiert Juden und Jüdinnen als „Störenfriede“ einer ersehnten positiven deutschen Identität und Normalität, da sie angeblich unablässig an den Holocaust erinnerten. Charakteristischerweise artikuliert sich der Schuldabwehr-Antisemitismus jedoch über rhetorische Umwege und ohne direkten Bezug zu Juden und Jüdinnen – zum Beispiel über die Relativierung oder Leugnung des Holocausts, über Schlussstrichforderungen, Aufrechnungsfantasien oder die Umkehr von Täter*innen und Opfern.

In Thüringen äußert sich der Schuldabwehr-Antisemitismus in der Zerstörung, Beschädigung oder Schändung von Gedenkorten, -zeichen oder -initiativen sowie in der absichtlichen Störung von Gedenkfeiern, die an die nationalsozialistischen Verbrechen erinnern. Wie die Tatortanalyse zeigt, ist die Gedenkstätte Buchenwald bzw. Orte in Weimar, an denen die Gedenkstätte aktiv ist, ein zentraler Tatort antisemitischer Angriffe. So wurde etwa im Jahr 2019 das Weimarer Projekt „1000 Buchen“, das an die Todesmärsche des Konzentrationslagers Buchenwald erinnerte, mehrfach zerstört. Im selben Jahr wurden überlebensgroße Zeitzeugen-Porträts von Überlebenden des KZ Buchenwalds geschändet, die als Tafeln im Weimarer Innenstadtbereich aufgestellt waren. Auch 2020 wurde die Ausstellung erneut zur Zielscheibe von Vandalismus, diesmal mutmaßlich von Protestierenden gegen die Corona-Maßnahmen, die die Tafeln mit z. T. geschichtsrevisionistischen Botschaften beschädigten. Die Gedenkstätte Buchenwald selbst wurde seit 2014 wiederholt zum Schauplatz geschichtsrevisionistischer oder NS-verherrlichender Parolen, Flugblätter, Schmierereien und sogar Musik. Neben den zum Teil sehr gewalttätigen Angriffen auf alle Arten von Gedenkorten in Thüringen, darunter auch Stolpersteine und ehemalige Synagogen, artikuliert sich der Schuldabwehr-Antisemitismus vor allem in Form geschichtsrevisionistischer Versammlungen und Veranstaltungen, z. B. Solidaritätsmärsche für die verurteilte Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck sowie Treffen der Europäischen Aktion, einer vorgeblich aufgelösten Dachorganisation von Holocaustleugner*innen. Die zum Teil an den Tag gelegte Brutalität und Zerstörungswut, mit der die Gedenkorte in Thüringen zerstört werden, machen zweierlei deutlich: Zum einen wird die Erinnerung an die Shoah offenbar als derart störend empfunden, dass sie im wortwörtlichen Sinne ausgelöscht werden muss. Zum anderen belegen die Vorfälle eindringlich, dass der „Antisemitismus ohne Juden“ nicht minder gefährlich ist. Dies zeigen die eingangs erwähnten Beispiele NSU und der Sprengstofffund auf dem Gelände der Gedenkstätte Mittelbau-Dora im Januar 2020.

Die geschichtspolitische Abwehr, Relativierung und Umdeutung der Erinnerung an Nationalsozialismus und Shoah ist eine ideologische Hauptkomponente radikal und extrem rechter Politik und im gesamten rechten Spektrum verbreitet (siehe Beitrag von Botsch in diesem Band). Dies wird auch durch die hier erhobenen Zahlen zum politischen Hintergrund der Vorfälle unterstützt: Ca. 59 % aller Fälle konnten aufgrund der Täter*innen oder der Tat eindeutig als politisch rechts motiviert identifiziert werden(siehe Abb. 8). Viele Schmierereien, Sachbeschädigungen oder antisemitische Kommentare konnten nicht eindeutig einem Spektrum zugeordnet werden, da die Täter*innen oder das antisemitische Motiv unbekannt bleiben. Die Art der Vorfälle, deren politischer Hintergrund nicht eindeutig feststellbar sind und deswegen hier mit „Unbekannt“ vermerkt sind (24 %), lässt vermuten, dass es sich hierbei größtenteils ebenfalls um Täter*innen aus dem rechten Spektrum handelt. Zusätzlich ist zu vermuten, dass die 13 % der Vorfälle, die dem Hintergrund „Fußball“ zugeordnet wurden, auf das Konto rechter Hooligans gehen. Zusammengenommen lässt sich sagen: Knapp 60 % der zwischen 2014 und 2019 dokumentierten antisemitischen Vorfälle waren nachweislich politisch rechts motiviert. Mutmaßlich lag der Anteil der politisch rechts motivierten Vorfälle in Thüringen deutlich höher.



Die mit Schuldabwehr-Antisemitismus verbundenen Vorfälle lassen sich zu 74 % dem rechten bzw. rechtsextremen Lager zuordnen; in 22 % dieser Vorfälle ist der politische Hintergrund der Täter*innen nicht bekannt. Die übrigen 4 % stammen aus der politischen „Mitte“, also von Personen oder Gruppen, die sich weltanschaulich weder rechts, links noch islamistisch positionieren und sich zugleich positiv auf den demokratischen Diskurs beziehen. Gerade für Thüringen gilt, dass der aggressive Schuldabwehr-Antisemitismus auf politischer Ebene durch die geschichtspolitische Agenda der AfD sowohl legitimiert als auch forciert wird. Mit dem rechtsextremen Fraktionsvorsitzenden der Thüringer AfD, Björn Höcke, sitzt ein Politiker im Thüringer Landtag, der bundesweit als zentrales Sprachrohr eines „geschichtsrevisionistische[n] Antisemitismus“ sowie eines „ahistorischen und wahrheitswidrigen Glauben[s] an eine deutsche Opferidentität“ agiert (Salzborn 2019: 205).

Es zeichnet sich zudem ab, dass antisemitische Positionen, die den Holocaust bzw. Nationalsozialismus relativieren und unzulässige Täter-Opfer-Umkehr betreiben, im Kontext der Corona-Proteste weiterhin zunehmen und innerhalb breiterer Bevölkerungsschichten normalisiert werden (Bundesverband RIAS 2020). Dies gilt auch für eine weitere gefährliche Variante des „Antisemitismus ohne Juden“: die Verschwörungsideologien. Beide Varianten der antisemitischen Argumentation wurden bereits im Zuge von Thüringer Protesten gegen die Corona-Maßnahmen registriert (Mobit 2020b); eine detaillierte Analyse antisemitischer Vorfälle für das Jahr 2020 steht noch aus. Festzuhalten bleibt: Antisemitische Handlungen müssen sich nicht immer der direkten Adressierung oder expliziten Benennung von Juden und Jüdinnen bedienen. Dennoch bleiben sie im Kern gegen Juden und Jüdinnen gerichtet und können mit großem Gewaltpotenzial einhergehen.

Fazit

Die Ergebnisse dieser ersten Bestandsaufnahme deuten darauf hin, dass sich Antisemitismus in Thüringen als „Antisemitismus ohne Juden“ insbesondere im öffentlichen Raum und insbesondere in Form von Versammlungen, Sachbeschädigungen und verletzendem Verhalten ohne personelle Adressat*innen ausagiert. Die dokumentierten antisemitischen Vorfälle können dabei häufig als Schuldabwehr-Antisemitismus kategorisiert werden, der sich gegen die Erinnerungskultur richtet. Darüber hinaus sind die dokumentierten Vorfälle in Thüringen überproportional dem rechten Spektrum zuzuordnen.

Die aus den zivilgesellschaftlich dokumentierten Vorfällen gewonnenen Erkenntnisse haben jedoch, wie eingangs erläutert, nur eine begrenzte Aussagekraft. Die Fokussierung der Dokumentationsarbeit vor allem auf das rechtsextreme Spektrum lässt den Antisemitismus aus anderen politischen Spektren oder in anderer Darstellungsform – etwa als israelbezogener Antisemitismus – bisher im Dunkelfeld. Dabei hat es in Thüringen auch diese Formen von Antisemitismus in den letzten fünf Jahren gegeben (siehe den Beitrag von Friedrich & Lammert in diesem Band), z. B. in Form von Boykottaufzügen der antisemitischen linken Boykott, Divestment & Sanctions (BDS)-Bewegung in Jena oder in Form antiisraelischer Flugblattaktionen der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) auf dem Gelände der Gedenkstätte Buchenwald. Neben dem linken bis linksradikalen Spektrum standen auch Personen aus der bürgerlichen „Mitte“, z. B. der ehemalige Jenaer Oberbürgermeister Dr. Albrecht Schröter, aufgrund als antiisraelisch bewerteter Aussagen und Betätigungen in der Kritik jüdischer Verbände.5 Das erklärte Ziel von RIAS Thüringen ist es, künftig alle antisemitischen Vorfälle ungeachtet ihres politischen Hintergrunds und ihrer Motive zu dokumentieren und ihnen entgegenzutreten.

Darüber hinaus ist bisher wenig bis gar nichts über die Antisemitismuserfahrungen von Juden und Jüdinnen in Thüringen bekannt. Der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen gehören derzeit rund 850 Mitglieder an, sie gehört damit zu den kleineren Gemeinden in Deutschland. Da davon ausgegangen werden muss, dass den meisten dieser Mitglieder in den letzten fünf Jahren Antisemitismus widerfahren ist, unsere Datenlage aber nur wenige Vorfälle enthält, bei denen konkrete Einzelpersonen betroffen waren, lässt sich erahnen, dass die Dunkelziffer hoch ist. Oberste Priorität für unsere weitere Arbeit hat es deswegen, ein vertrauensvolles Verhältnis zu den in Thüringen lebenden Juden und Jüdinnen aufzubauen und ein funktionierendes zivilgesellschaftliches Meldenetzwerk zu entwickeln.

 

1 Die Kriterien orientieren sich an der Erfassungssystematik des Bundesverbands RIAS e. V. vgl. Feldmann/Steinitz (2019: 6).

2 www.tagesspiegel.de/politik/ich-fuehle-mich-wie-sophie-scholl-querdenken-rednerin-vergleicht-sich-mit-widerstandskaempferin/26647396.html [17.11.2020].

3 www.otz.de/politik/israelkritische-bds-bewegung-in-jena-nur-lose-organisiert-id223488171.html [17.11.2020].

4 Dies teilte der Sprecher der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Rikola Gunnar Lüttgenau, den Autor*innen in einem Interview mit.

5 www.deutsch-israelische-gesellschaft.de/dig-news/dig-erfurt-stellungnahme-zu-albrecht-schroeter/ [17.11.2020].

 

Literatur

Best, Heinrich/Miehlke, Marius/Salheiser, Axel

(2019): Topographie 2019: Phänomene des Rechtsextremismus und der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Thüringen. KomRex – Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration der Friedrich-Schiller-Universität Jena: Jena. Online: www.komrex.uni-jena.de/komrexmedia/literatur/projektbericht_topografie_dez2019.pdf [12.11.2020].


Bundesverband RIAS

(2020): Antisemitismus im Kontext der Covid-19-Pandemie. Online: report-antisemitism.de/documents/2020-09-08_Rias-bund_Antisemitismus_im_Kontext_von_covid-19.pdf [17.11.2020].


European Union Agency for Fundamental Rights (FRA)

(2019): Experiences and perceptions of antisemitism. Second survey on discrimination and hate against Jews in the EU. Online: fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2018-experiences-and-perceptions-of-antisemitism-survey-summary_en.pdf [17.11.2020].


Feldmann, Dorina/Steinitz, Benjamin

(2019): Problembeschreibung: Antisemitismus in Brandenburg. Online: report-antisemitism.de/documents/2019-08-15_rias-bund_Problembeschreibung-Antisemitismus-in-Brandenburg.pdf [30.11.2020].


Mobit e. V.

(2020a): Keine harmlosen Heimatmelodien: Kontinuierliche Zunahme von rechten Liederabenden in Thüringen. Online: mobit.org/rechtsrock-statistik-2019/ [17.11.2020].


Mobit e. V.

(2020b): Die extreme Rechte in Thüringen und Corona: Zwischen Verschwörungstheorien, Antisemitismus und Nachbarschaftshilfe. Online: mobit.org/neonazis-in-thueringen-und-corona/ [17.11.2020].


Mobit e. V.

(2018): Nach den rechten Häusern sehen. Immobilien der extrem rechten Szene in Thüringen. Online mobit.org/Material/MOBIT_Nach_den_rechten_Häusern_sehen_2018.pdf [19.11.2020].


Poensgen, Daniel/Steinitz, Benjamin (2019): Alltagsprägende Erfahrung. In: Salzborn, Samuel [Hrsg.], Antisemitismus seit 9/11. Ereignisse, Debatten, Kontroversen. Nomos: Baden-Baden, S. 13–28.
Reiser, Marion/Best, Heinrich/Fürnberg, Ossip/Hebenstreit, Jörg/Salheiser, Axel/Vogel, Lars

(2019): Gesundheit und Pflege in Thüringen. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2019. Online: www.komrex.uni-jena.de/komrexmedia/Publikationen/TM2019-p-955.pdf [17.11.2020].


Quent, Matthias/Rathje, Jan (2019): Von den Turner Diaries über Breivik bis zum NSU: Antisemitismus und rechter Terrorismus. In: Salzborn, Samuel [Hrsg.]: Antisemitismus nach 9/11. Nomos: Baden-Baden, S. 165–178.
Salzborn, Samuel (2019): Antisemitismus in der „Alternative für Deutschland“. In: Ders. [Hrsg.]: Antisemitismus seit 9/11. Ereignisse, Debatten, Kontroversen. Nomos: Baden-Baden, S. 196–215.
Salzborn, Samuel (2010): Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich. Campus: Frankfurt a. M.