Die Corona-Pandemie als Katalysator des Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Thüringen, Deutschland und Europa?

Der Beitrag bietet einen Überblick zu den Positionen und Strategien der radikalen und extremen Rechten während der Corona-Pandemie seit dem Frühjahr 2020. Während für Thüringen und in Deutschland vor allem das Agieren der AfD, ihr Zusammenspiel mit der Protestbewegung der „Querdenker:innen“, „Corona-Rebell:innen“ und Maskenverweiger:innen sowie die dabei verbreiteten Narrative relevant sind, zeigt die europäische Perspektive charakteristische analoge Entwicklungen, aber auch einige divergierende Tendenzen auf. Die Muster radikal rechter Krisendeutung und -reaktion sind vor dem Hintergrund der potenziellen Destabilisierung liberaler europäischer Gesellschaften zu interpretieren: Die Pandemie ist ein Lackmus-Test für die Resilienz gegenüber Bestrebungen von Antidemokrat:innen, unter dem Deckmäntelchen der „Freiheit“ für die autoritäre Revolte zu mobilisieren.

Einleitung

Die Corona-Pandemie bot eine willkommene Gelegenheitsstruktur für die Propaganda und das Mainstreaming antiliberaler und antidemokratischer Narrative sowie für das Knüpfen neuer strategischer Allianzen radikaler und extremer Akteur:innen in Europa (vgl. Mulhall/Khan-Ruf 2021). Die Pandemie-Dynamik, die anhaltende Ungewissheit der Situation, die Verlängerung des „Ausnahmezustandes“, verzögerte Entscheidungen, deren partielle Rücknahme sowie uneinheitliche und unbeständige, zum Teil schwer nachvollziehbare Regelungen stellten und stellen die Geduld der Bevölkerungen auf die Probe – sowie ihre Bereitschaft, Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung oder die Krisenpolitik insgesamt zu unterstützen. Insbesondere radikale und extreme Rechte in der Oppositionsrolle waren daher bedacht, das Krisenmanagement der Regierungen in ihrem Sinne als Lackmustest für die Funktionsfähigkeit der liberalen parlamentarischen Demokratie zu interpretieren und scharf zu kritisieren. In Deutschland und in Thüringen versuchte vor allem die AfD, aus der Krisensituation politisches Kapital zu schlagen (vgl. Salheiser/Richter 2020). So war sie erkennbar bemüht, sich als parlamentarisches Sprachrohr von skeptischen Teilen der Bevölkerung zu inszenieren, sich mit der Protestbewegung zu solidarisieren und Probleme und Defizite – wie die Beschränkungen von Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit – zu adressieren.

Jenseits dieser parteipolitischen Repräsentation formierten sich Zweckbündnisse zwischen Maskenverweiger:innen, Corona-Verharmloser:innen, Verschwörungsideolog:innen, Reichsbürger:innen, Neonazis und anderen Protagonist:innen einer Protestbewegung, die ihre Ideologie und Identitätskonstruktion vor allem in den sozialen Netzwerken betrieb und von dort auf die Straße brachte. Das Narrativ einer angeblichen „Corona-Diktatur“ und eines dagegen gerichteten „Widerstands“ war hierbei zentral. Nachfolgend wird diskutiert, inwieweit dies als ein weiterer Vormarsch der populistischen radikalen Rechten in Thüringen und Deutschland gewertet werden muss – und wie im Vergleich dazu die Entwicklung in anderen europäischen Ländern verlief.

Ohne Maske: Die AfD in Thüringen und Deutschland

Während repräsentative Bevölkerungsbefragungen bis weit in die zweite Pandemiewelle 2020/21 ein Stimmungsbild zeichneten, wonach nicht nur die Befolgung der Hygieneregeln, sondern auch die Akzeptanz den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie (trotz „Lockdowns“ usw.) mehrheitlich hoch war1, zeigte die Zufriedenheit mit der Krisenpolitik der Bundes- und Landesregierungen lange Zeit keine ernsthafte Eintrübung.2 Im Gegenteil dazu stieg zeitweise sogar das Institutionenvertrauen in die Exekutive beachtlich. Vor dem Hintergrund der Umfragewerte für die AfD, die seit Beginn der Pandemie auf relativ niedrigem Niveau verharren, kann das Agieren der Partei als Versuch gedeutet werden, die Krisensituation durch ihr typisches Framing als „systemkritische Oppositionspartei“ zu nutzen und sich in der medialen Öffentlichkeit zu profilieren. Der anfängliche Schlingerkurs der AfD – die vehementen Forderungen nach staatlicher Krisenintervention im März 2020, abgelöst durch das Umschwenken zur (v.a. wirtschaftsnationalistischen und sozialstaatschauvinistischen) Kritik an Lockdown-Maßnahmen usw. im Mai 2020 – offenbart den Kern der rechtspopulistischen Politik der Partei: Wie bereits im Asyl- und Migrationsdiskurs war die AfD in Bezug auf die Corona-Pandemie bemüht, die in einer gesellschaftlich hochrelevanten, kontrovers diskutierten Sachfrage entstehende Polarisierung zu verstärken. Durch kontrafaktische Rede und Zuspitzungen markierte sie ihre „Anti-Establishment“-Position. Aus Sicht der AfD galt es, Signale an die anwachsende Protestbewegung auszusenden und diese für sich zu gewinnen. Dies zeigen u. a. der frühe Brückenschlag der Partei mit „Querdenken“ bzw. die Sympathiebekundungen von AfD-Politiker:innen für jene „basisdemokratischen“ Demonstrationen. Bezeichnend war die pauschale Verteidigung der Teilnehmenden gegenüber berechtigter Kritik, es gebe eine Unterwanderung oder gar maßgebliche Beteiligung durch Rechtsextreme. Die Feindbilder einer angeblich staatlich gesteuerten „Einheitspresse“ bzw. „Lügenmedien“ sowie einer „linksfaschistischen“ Antifa wurden auch 2020 kultiviert, um verschwörungsideologische, antisemitische, rassistische, nationalistische und antidemokratische Äußerungen als Akte „freier Meinungsäußerung“ zu legitimieren und die Partei als Schutzpatronin des „Volkes“ gegen eine vermeintlich übergriffige und diktatoriale Obrigkeit zu inszenieren.3

Da ein Stimmenzuwachs für die AfD ausblieb, ging es darum, das bestehende Unterstützungsmilieu der Partei mit antielitistischen und nationalistischen Narrativen bzw. Krisendeutungen zu binden, was – repräsentativen Umfragen nach – weitgehend zu gelingen schien,4 allzumal AfD-Wähler:innen stärker für pandemiebezogenes Verschwörungsdenken empfänglich sind als Wähler:innen anderer Parteien (Decker et al. 2021). Parteineugründungen aus dem Anti-Corona-Protestmilieu („WIR 2020“ usw.) war kein Erfolg beschieden, was u. a. auf personelle und organisatorische Schwächen der Newcomer:innen zurückzuführen ist (Quent/Rathje 2020). Beispielhaft für die Corona-Strategie der AfD war Björn Höckes Rede in Altenburg im Juli 2020.5 Höcke inszenierte sich wie üblich als „Stimme der Vernunft“ und verfolgte den wirtschaftspolitischen, wohlstandschauvinistischen Argumentationsstrang, der einst den Ruf der Lucke-AfD als vermeintliche Einthemenpartei begründete und bei der die EU-Finanztransfers gegeißelt wurden: „Das alles kostet uns Deutsche Billionen.“ Er sprach von „verantwortungsloser“ Neuverschuldung, die er mit der Alters- und Kinderarmut in Deutschland kontrastierte. Angesichts der Corona-Beschränkungen forderte er: „Wir wollen unsere Freiheit wiederhaben!“ Bemüht scharfsinnig fragte er: „Cui bono? Wem nützt es? Von welchem wirklich richtigen Ereignis wird hier wieder abgelenkt?“ Ohne es zu explizieren, schloss er damit vermutlich an die Behauptungen an, unter Corona käme alles zum Erliegen – außer der „illegalen Massenzuwanderung“. Dies entbehrte allerdings der faktischen Grundlage: 2020 ist ein deutlicher Rückgang der Asylerstanträge gegenüber den Vorjahren zu konstatieren (vgl. BAMF 2021).

Die AfD gerierte sich als Bastion gegen den „Alarmismus“ und das „Staatsversagen“ der Regierung, das „unser Land zugrunde richtet“. Sie griff dabei – mit Blick auf Mobilisierungspotenziale – nach und nach fast jedes „coronakritische“ Argument auf: von der Einschränkung der Grundrechte über die wirtschaftlichen und sozialen Folgen bis hin zu vermuteten gesundheitlichen Gefahren durch das Maskentragen und einer angeblich drohenden Impfpflicht. Bereits im Mai 2020 beklagte die Thüringer AfD-Landtagsfraktion, es gebe bei der Politik zur Pandemieeindämmung „keine Orientierung mehr an den wissenschaftlichen Fakten“, und behauptete, „am 17. März [sei] bereits absehbar gewesen, dass die Pandemie automatisch abebben würde“.6 Diese Argumentation setzte sich in Höckes MDR-Sommer-Interview vom 25. August 2020 fort. Dort erklärte er süffisant, Corona sei „beendet“ und komme „auch nicht wieder“.

„Freiheit“ und „Widerstand“: Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung

Die seit dem Frühjahr 2020 entstandene Protestbewegung ist heterogen und hat Menschen aktiviert, die vorher politisch wenig in Erscheinung traten. Die Darstellung, dass es sich bei „Querdenken“ und ähnlichen Gruppen um eine breite und spektrenübergreifende basisdemokratische Sammlung handele, entspringt aber nur der propagandistischen Selbstinszenierung oder dem Wunschdenken der Protagonist:innen. Öffentliche Aufmerksamkeit erregten die Befunde der nicht-repräsentativen Befragungsstudie von Nachtwey et al. (2021), die Teilnehmenden an den Stuttgarter „Querdenken“-Demonstrationen oftmals eine Herkunft aus „linksgrünen“ oder „alternativen“ Milieus attestierten. Obwohl die Teilnahme esoterisch, spirituell oder anthroposophisch inspirierter „Sinnsuchender“, Mitglieder von „Freidenker“-Gemeinden usw. unbestritten ist, ist das markante Kennzeichen der Proteste ihre Rechtsoffenheit und Anschlussfähigkeit für Personen aus dem Spektrum der sogenannten Reichsbürger:innen und Souveränist:innen, denen ein Mainstreaming ihrer Ideologeme und Symbolsprache gelungen ist. So fanden bereits Mitte 2020 auch in Thüringen Protestkundgebungen statt, bei denen die zentrale Zurschaustellung schwarz-weiß-roter Fahnen und die Verleugnung der Legitimität der BRD und ihrer Institutionen von den Anwesenden quasi normalisiert wurde. Im Internet – vor allem in sozialen Netzwerken wie YouTube und Telegram – schossen „coronaskeptische“ und „regierungskritische“ Kanäle und Gruppen wie Pilze aus dem Boden, doch schon länger aktive, radikal rechte Akteur:innen und die sogenannten „freien Medien“ (z. B. Compact, PI-News, eigentümlich frei usw.) hatten dabei eine wesentliche Multiplikatorfunktion und prägten den Diskurs mit ihren Inhalten.

Große Verbreitung fanden 2020 somit in Thüringen und Deutschland verschwörungsideologische Inhalte. So wurde die sektenähnliche QAnon-Bewegung (vgl. Rafael 2021) aus den USA erstmals in Deutschland einem breiteren Publikum bekannt und gewann zahlreiche neue Anhänger:innen. Auffällig bei der Agitation im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie war die Renaissance, die antisemitische Äußerungen erlebten, bzw. solche, die erkennbare Anleihen an die Argumentationsmuster antisemitischer Verschwörungsideologien nahmen. Bei einer AfD-Kundgebung in Gera am 16. Oktober 2020,7 auf der u. a. die Bundestagsabgeordneten Brandner und Schlund sprachen, redete Frank Haußner (Zeulenroda-Triebes) von einer „Globalistenclique“, der BRD als „Staatssimulation“, die „seit 1945 zu keinem Zeitpunkt souverän“ gewesen sei, und „noch immer kein Friedensvertrag“ habe. Dem folgten Formulierungen wie „Lügenkonstrukt“, „Schuldkult“ und Ausführungen über eine „korrupte, hochkriminelle und satanische Parallelstruktur“, die „sich wie Krebsgeschwür“ über den ganzen Globus ausgebreitet“ habe und „die Menschheit in einer neuen digitalen Weltordnung versklaven“ wolle. Auch auf einer größeren Kundgebung in Erfurt am 23. Januar 2021 zog Haußner die Souveränität der Bundesrepublik in Zweifel, bezeichnete die Bundesregierung als „illegal im Amt“ und rief zum Widerstand gegen eine „Verschwörung“ durch eine „satanische Globalistenclique“ und „dunkle Mächte“ auf. Vom Publikum wurde er dafür euphorisch beklatscht. Ähnliche Sympathiebekundungen galten seiner Nachrednerin, einer homöopathischen Ärztin aus Thüringen, die behauptete, dass die Regierung beabsichtige, Kinder „krank- und totimpfen“ zu lassen. Redebeiträge wie jene zeigen: Bei einem relevanten Teil der Proteste in Thüringen und Deutschland hatte Kritik an den politischen Entscheidungen und Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung eine Türöffnerfunktion, um zu einer generalistischen, radikalen „Systemkritik“ mit erkennbar rechtsextremen und antisemitisch-verschwörungsideologischen Inhalten auszuholen. Auch auf etlichen kleineren Kundgebungen in der Thüringer Provinz wurden die Klage über Eintrübungen der wirtschaftlichen Situation, psychosoziale Beeinträchtigungen von Teilen der Bevölkerung, die Belastungen von Familien mit schulpflichtigen Kindern, die Maskenpflicht usw. als Argumente gegen eine vermeintlich in Gänze sinnlose und schädliche Politik angeführt. Begleitet wurde dies von Unterstellungen, dass die Regierung dem Wohl der Bevölkerung wohlwissend oder sogar intentional schade. Auf den Kundgebungen erfolgte die Inszenierung eines keimenden „Volksaufstandes“ gegen das „System“, dessen Ende man kommen sieht, wünscht oder aktiv herbeiführen will und dessen Repräsentant:innen – allen voran Angela Merkel – man Bestrafung, Vertreibung oder Vernichtung anzugedeihen trachtet. Damit wurde bei den Anti-Corona-Protesten 2020 nahtlos an die asylfeindlichen und rassistischen Massenmobilisierungen von 2015 und 2016 angeschlossen. Im November 2020 konstatierte Höcke in einem Kommentar zur Kritik an der Radikalisierung der „Querdenken“-Bewegung: „Denunziantentum und Diffamierung spalten unser Land! […] Von Beginn an wurde durch Politik und Medien versucht, die Kritiker der Corona-Maßnahmen als ‚Coronaleugner‚ ‚Verschwörungstheoretiker‘, ‚Aluhüte‘ und natürlich als ‚Rechtsextremisten‘ zu diffamieren. […] In einem Rechtsstaat, der noch immer das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit kennt, haben derart entstellende Behauptungen nichts zu suchen.“8

Auch wenn die Protestbewegung in Thüringen und Deutschland nur Minderheiten mobilisiert und überwiegend friedlich geblieben ist: Sie zeigt die Gefahr, die insbesondere in Krisen von antidemokratischen Radikalisierungsprozessen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ausgeht. Es ließe sich konstatieren, dass eine zunehmende Unzufriedenheit mit dem Krisenmanagement und den Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung in Verbindung mit sozioökonomischen Einbußen bzw. Statusverlustängsten das Institutionenvertrauen und die Demokratieunzufriedenheit beeinträchtigt. Mittelfristig kann dies die Tendenz nach antidemokratischer Radikalisierung und die Unterstützung des „Rechtspopulismus“ begünstigen, allerdings gibt es derzeit keine ausreichende empirische Evidenz für einen weiteren „Rechtsruck“ über die AfD-Klientel hinaus. Vielmehr zeichnet sich ab, dass die negativen Entwicklungen, die mit der Pandemie verbunden sind, vor allem die in Ostdeutschland bereits längerfristig bestehende Distanz in einem antidemokratischen Protestmilieu der Frustrierten („Wutbürger:innen“) verstärken, weil die Pandemiefolgen – nach den gesellschaftlichen Transformationsschocks seit 1990, der „Asylkrise“ usw. – nur als weiterer Beleg für die angeblichen Unzulänglichkeiten des Systems bzw. demokratischer Governance gedeutet werden.

Die europäische Rechte als Krisenprofiteur:in?

Die Ausgangsbedingungen, die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und die nationalen Handlungsbedingungen der Parteien der radikalen Rechten unterscheiden sich teilweise erheblich (Wondreys/Mudde 2020). Daher kann auch nicht von einer einheitlichen und synchronen Reaktion auf die Corona-Krise ausgegangen werden. Dennoch lassen sich einige Gemeinsamkeiten aufzeigen. Zu Beginn gab es vielfältige Versuche der Rechtsaußenparteien, die Pandemie im Sinne ihrer migrationsfeindlichen Agenda nutzbar zu machen. Unter Le Pen in Frankreich, Salvini in Italien, der rechtspopulistischen Fidesz-Regierung in Ungarn sowie von Vertreter:innen der AfD, FPÖ und SVP in Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden Zusammenhänge zwischen dem Infektionsgeschehen und den globalen oder nationalen Migrationsdynamiken hergestellt. Vielerorts wurden Regierungsparteien für ihren „laschen“ Umgang mit der neuen Bedrohung und fehlenden Grenzschließungen in der Anfangsphase der Krise attackiert. Allerdings wurde die radikale Rechte in ihren Forderungen bald von dem anlaufenden Krisenmanagement der Regierungen eingeholt. Mit steigenden Infektionszahlen, die zeitversetzt quer durch Europa in vielen Ländern in die Höhe schnellten, schlug die Stunde der Exekutive. Häufig in nationalen Alleingängen wurden Ländergrenzen geschlossen und eine Vielzahl unterschiedlicher Lockdown-Maßnahmen angeordnet. Viele Oppositionsparteien – auch einige aus dem Spektrum der radikalen Rechten – versammelten sich zumindest kurzfristig hinter den nationalen Lockdown-Strategien der jeweiligen Regierungen. Die radikale Rechte sah sich für kurze Zeit eines ihrer mobilisierungsstärksten Themen beraubt, während neben den nationalen Regierungen auch die Wissenschaft und die etablierten Medien in das Zentrum politischer Auseinandersetzungen über den Umgang mit der Pandemie rückten.

Teilweise sofort, teilweise zeitversetzt schwenkten viele Rechtsaußenparteien auf eine radikale Kritik der nationalen Lockdown-Strategien ein (Wondreys/Mudde 2020), was einer bemerkenswerten Kehrtwende gleichkam.9 In Italien, in der Schweiz, Österreich und Deutschland geißelten deren Protagonist:innen nun in steigendem Maße die politische „Inkompetenz“ der amtierenden Regierungen und die wirtschaftlichen Folgen der Lockdown-Maßnahmen, die sie bis vor Kurzem vehement eingefordert hatten. Mitte April 2020 rief US-Präsident Trump zur „Befreiung“ US-amerikanischer Bundesstaaten von den Lockdown-Maßnahmen auf. Das Narrativ des „Freiheitskampfes“ gegen die staatlichen Maßnahmen entwickelte sich in rechten europäischen Social-Media-Plattformen und unter Vertreter:innen radikal rechter Parteien in der Folgezeit zum Dreh- und Angelpunkt ihrer „Krisenkritik“. Doch die ideologische Umdeutung von Solidarität und vom Schutz von Betroffenengruppen zu „diktatorischen Maßnahmen“ und die Stilisierung der Missachtung dieser Maßnahmen zum „Freiheitskampf“ ist keine inhaltliche Neuausrichtung – bewegt sie sich doch im populistisch-autoritären und sozialdarwinistischen Gestus vieler dieser Parteien. Vielmehr handelt es sich um einen rhetorischen Anpassungsversuch an die veränderte politische Großwetterlage, um sich weiterhin als Opposition zum demokratischen „Mainstream“ zu positionieren. Eine Ausnahme sind Parteien der radikalen Rechten, die selbst die Regierung bilden oder ein Teil von ihr sind. Hier richtet sich ein Teil der Kritik stärker auf höher gelegene Instanzen, bspw. die EU, aus. Dass aber auch die Rolle der Opposition und der Regierungsverantwortung gleichzeitig von einer Partei übernommen werden kann, zeigt sich am Beispiel der Schweizer SVP (Betz 2020). Die populistische und verschwörungsaffine Fundamentalkritik der Krisenstrategien ( „Corona-Diktatur“), EU-Skepsis und die Gegnerschaft zur Globalisierung, Multilateralismus und Multikulturalismus, die als originäre Quellen der Krise gesehen werden, sind zentrale Elemente der „Corona-Politik“ von Rechtsaußen.

Ein Blick auf die Wahlprognosedaten von 30 europäischen Ländern (EU-27 zzgl. Schweiz, Norwegen und England) plausibilisiert den oben geschilderten Verlauf im Wesentlichen.10 In der ersten Welle der Coronakrise11 konnten viele Regierungsparteien in der Wähler:innengunst zunächst moderate Zuwächse verzeichnen oder stagnierten. Ausnahmen sind geringfügige Abwärtstrends in Spanien und England und stärkere in Rumänien. Die Parteien der radikalen Rechten konnten hingegen bis Anfang Juni 2020 kaum zulegen. Im Gegenteil fielen die Umfragewerte in den meisten Fällen eher moderat oder sie stagnierten rund um das Vorkrisenniveau.12 Eine Ausnahme bildeten die Länder, in denen die radikale Rechte selbst an der Regierung beteiligt oder in alleiniger Regierungsverantwortung ist. Das betrifft neben Polen und Ungarn Regierungskoalitionen in sechs weiteren europäischen Staaten.13 Hier konnten Regierungen und Regierungskoalitionen mehrheitlich geringe Zugewinne verzeichnen. Mit dem Fortlauf der Krise, steigender Unzufriedenheit mit den Krisenbewältigungsstrategien und der Überlagerung durch weitere innen- und außenpolitische Themen verändert sich dieses Bild in der zweiten Pandemie-Phase (Juni 2020–Februar 2021) deutlich. Während Regierungsparteien mehrheitlich wieder an Zustimmung verloren, stagnierten radikal rechte Oppositionsparteien in der Wähler:innengunst, teilweise stiegen sie wieder leicht an. Einige konnten sich sogar oberhalb ihres Vorkrisenniveaus stabilisieren. Dort, wo die radikale Rechte die Regierung stellte, verloren deren Parteien dagegen längerfristig an Zustimmung (Polen und Ungarn).

Alte und neue Allianzen: Protest in den sozialen Medien und auf der Straße

Zwar variieren die Motive und soziostrukturellen Hintergründe der Protestteilnehmenden, dennoch fällt die Offenheit nach Rechtsaußen auf. Allgemeine Unzufriedenheit, populistische „Elitenskepsis“, die Kritik an demokratischen Institutionen wie den Parteien, Medien und Wissenschaft und die Absage an allgemeine Solidaritätsnormen fungieren in sozialen Medien und bei den Protesten auf der Straße als eine Art Brückenkopf zu Verschwörungsnarrativen und radikal rechter Ideologie. Diesen Umstand hatte die radikale Rechte relativ früh für sich entdeckt14 und strategisch den Schulterschluss zum Protest gesucht. Unübersehbar sind die Versuche europäischer Rechtsaußenparteien, die Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung zu kanalisieren und sich als Spitze der außerparlamentarischen Protestbewegung gegen die Maßnahmen zu inszenieren, zumindest dort, wo sie nicht selbst Regierungsverantwortung trugen. Von Deutschland über England, die Niederlande, die Schweiz und Österreich bis nach Spanien, Italien und Rumänien fanden größere Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen unter Beteiligung oder Federführung der Protagonist:innen radikal rechter Parteien statt. Soziale Medien spielten dabei eine zentrale Rolle in der Mobilisierung, Vernetzung und Verbreitung von Falschinformationen, Verschwörungserzählungen und Protestevents rund um die Epidemie. Schon früh nach Bekanntwerden der ersten Fälle in China zeigen Untersuchungen im Zeitraum von Januar bis März 2020 einen deutlichen Anstieg an Desinformation und Falschinformationen rund um das Thema Corona in internationalen Beiträgen auf (auf 4Chan, Telegram, Gab, Facebook, Instagram usw.). Die Palette reicht von Kritik an den staatlichen Einschränkungsmaßnahmen bis hin zu den großen Verschwörungserzählungen, die teilweise mit rassistischen und antisemitischen Ressentiments aufgeladen werden (Velásquez et al. 2020). Ähnliche Befunde liefern internationale Analysen der Desinformationsnetzwerke auf Twitter (Smith et al. 2020). Besonders im deutschsprachigen Raum spielte Telegram eine große Rolle (Salheiser/Richter 2020): Telegramkanäle mit coronakritischen, rechtspopulistischen und verschwörerischen Inhalten konnten im Zeitraum von März bis Anfang Mai 2020 hohe Zuwächse der täglichen Aufrufzahlen verzeichnen.15 Viele dieser Verschwörungserzählungen auf den unterschiedlichen Plattformen greifen antisemitische Erzählungsmuster auf und richten sich gegen Jüd:innen und andere Minderheiten als angebliche Drahtzieher:innen hinter dem Virus oder den Regierungsmaßnahmen (Rocha Dietz/Rathje 2020). Der QAnon-Kult, der im Lauf der Krise starke internationale Verbreitung erfahren hatte, wurde seit der Abwahl Trumps als populäres Leitnarrativ von der Verschwörungsgroßerzählung des „Great Reset“ abgelöst. Ursprung ist der Tagungstitel des jährlichen Davos-Treffens im Sommer 2020 und die dort vertretene These, die Corona-Pandemie müsse als Anstoß zur Neuorganisation der globalen Wirtschaft hinsichtlich der Klimakatastrophe gedacht werden. Obwohl die dort vertretenen Organisationen und Akteur*innen bisher als wenig verdächtig galten, „Sozialismus“ und radikalen Klimaschutz zu propagieren, laufen seither neoliberale, libertäre und radikal rechte Netzwerke in den sozialen Medien Sturm und unterstellen einer „kleinen globalen Elite“ einen geheimen Plan zum weltweiten Umbau der Nationalstaaten im Sinne eines „Klima-Sozialismus“. Seit November 2020 ist die Nennung des „Great Reset“ auf den verschwörungsaffinen Kanälen der Plattform Telegram sprunghaft angestiegen.

Fazit

Nach eher moderaten Einbrüchen während der ersten Krisenphase befinden sich radikal rechte (Oppositions-)Parteien 2021 in vielen europäischen Ländern wieder leicht im Aufwind, während Regierungsparteien eher mit sinkenden Prognosewerten zu kämpfen haben. Die bisher anhaltende Schwäche der AfD auf Bundesebene sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der ungewisse Ausgang und die Folgen der Pandemie längerfristig ein enormes Potenzial für gesellschaftliche Polarisierung und antidemokratische Mobilisierung bieten. Die vorübergehenden Anpassungsprobleme der radikalen Rechten während der Krise können als ein Beleg ihrer fortgeschrittenen Normalisierung betrachtet werden. Die reflexhaften nationalen Alleingänge in puncto Grenzschließungen, die Debatten um die Finanzierung der europäischen Krisenmechanismen und die fehlgeleitete Impfkoordination offenbaren den desolaten Zustand der europäischen Solidargemeinschaft. Nicht-rechte Regierungen zahlreicher Mitgliedstaaten forcierten nationale Partikularinteressen gegen multilaterale europäische Kriseninterventionsstrategien ganz im Sinne der Agenda der radikalen Rechten – und auch Parteien des demokratischen Spektrums trieben Debatten über den Zusammenhang von Migration und Infektionsbedrohung voran (Stavrakakis et al. 2020). Daneben konnte die radikale Rechte, wo sie sich in Regierungsverantwortung befand, ihre illiberale und demokratiefeindliche Politik teilweise vorantreiben (Kim 2020; Wondreys/Mudde 2020). Schon seit Jahren, verstärkt aber in jüngster Zeit, rüstet die europäische Rechte rhetorisch für kommende Konfliktszenarien auf. Sie hat in vielen Ländern die Debatte um den Klimawandel zum Teil ihrer Agenda erklärt, ist in der Klimapolitik allerdings gespalten. Großerzählungen wie die des „Great Reset“ sind anschlussfähig und könnten ideologische Unterschiede zumindest oberflächlich überbrücken. In den Behauptungen, Corona sei eine Art „Probelauf“ für den „totalitären Umbau“ der globalen Gesellschaft, zeigt sich, wie eng radikal rechte Ideologie und Verschwörungsmentalität aufeinander bezogen sind.

 

1

Vgl. projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/ [22.02.2021].

2

Vgl. www.zdf.de/politik/politbarometer sowie www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/ [22.02.2021].

3

Vgl. www.afd.de/meinungsfreiheit/ [22.02.2021].

4 Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz am 14. März 2021 musste die AfD allerdings deutliche Verluste hinnehmen.

5

www.youtube.com/watch [29.03.2021].

6

„Blauer MUT“, 2. Ausgabe, Mai 2020, S. 3, afd-thl.de/download/10131/ [29.03.2021].

7

Vgl. www.youtube.com/watch [29.03.2021].

8

„Blauer MUT“, 5. Ausgabe: „Sonderausgabe zur Corona-Krise“, November 2020, S. 2, afd-thl.de/download/19069/ [29.03.2021].

9 Das gilt nicht für alle Parteien der radikalen Rechten: Beispielsweise traten die „Schwedendemokraten“ längerfristig für die Maskenpflicht und für härtere staatliche Pandemiebekämpfungsmaßnahmen. Sie positionierten sich damit gegen die schwedische Regierungspolitik, die v.a. auf freiwillige Schutzmaßnahmen setzte (Jungar 2020).

10

Quelle: www.politico.eu/europe-poll-of-polls.

11 Da die Ausbruchsphasen in der ersten Welle relativ stark variierten, haben wir uns für einen längeren Betrachtungszeitraum vom Vorkrisenzeitraum Anfang Februar 2020 bis zum langsamen Abklingen in vielen europäischen Ländern bis Anfang Juni 2020 entschieden.

12 Veränderungen im Intervall von +1/-1 Prozentpunkten wurden als konstant bewertet.

13 Bulgarien, Lettland, Estland (bis Anfang 2021), Slowenien, die Slowakei und Schweiz.

14

Exemplarisch hierfür der Appell des österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner in der neurechten Zeitschrift „Sezession“: sezession.de/63203/coronademos-proxythema-lucke-effekt [15.03.2021].

15

Joseph Holnburger: twitter.com/holnburger/status/1274956380554825736 [10. 03. 2021].

 

 

 

Literatur

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