Einleitung

Es fehlt nicht an öffentlichen Stimmen, die eine Polarisierung des gesellschaftlichen Klimas diagnostizieren. Der Ruf nach gesellschaftlichem Zusammenhalt wird besonders in Krisen lauter, wenn sorgenvoll auf eine unsichere Zukunft geblickt wird und sich politische und soziale Konflikte zuspitzen. Eines scheint gewiss: Unsere Demokratie mag nicht auf tönernen Füßen stehen, aber sie steht eben auch nicht auf ehernen. Kontinuierlich muss um sie gerungen werden, muss sie verteidigt werden, um bisher Erreichtes nicht zu verspielen.

Dem Ideal einer liberalen und offenen Gesellschaft, die den Grundsätzen der Gleichheit, Gleichwertigkeit und Gerechtigkeit verpflichtet ist, stehen in der Praxis gesellschaftliche Strukturen, institutionelle Praktiken und kollektive Einstellungen sowie Handlungsmuster gegenüber, mit denen Ungleichheit reproduziert wird und auf deren Grundlage Menschen benachteiligt, abgewertet, ausgegrenzt werden. Und die Demokratie wird durch radikal rechte Akteur:innen gezielt infrage gestellt, untergraben und angegriffen – zum Beispiel, indem Begriffe wie „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ ausgehöhlt werden, um vernunftgeleitete Appelle an Solidarität und kollektive Verantwortung in Krisenzeiten als „diktatorisch“ zu diffamieren und Menschen zu angeblich legitimem „Widerstand“ aufzuwiegeln. In der anhaltenden Coronakrise haben sich diese Tendenzen verstärkt und zeigen sich z. T. offen – vom Mainstreaming antisemitischer und antidemokratischer Ideologiefragmente über die Radikalisierung im Milieu der „Querdenker:innen“, Pandemieleugner:innen und Impfgegner:innen bis hin zu Anfeindungen und Gewalt gegen jene, die als Vertreter:innen des „Systems“ wahrgenommen werden. Damit haben sich bereits die Beiträge im letzten Band der „Wissen schafft Demokratie“ (WsD 9) auseinandergesetzt.

In den letzten Jahren ist die öffentliche Aufmerksamkeit für die Themenfelder Rassismus und Rechtsextremismus im Kontext von rechtsterroristischen Anschlägen sowie von Provokations- und Geländegewinnen der extremen Rechten in Medien, Parlamenten, auf Straßen sowie in sozialen Netzwerken gewachsen. Auch über Rassismus und Rechtsextremismus in staatlichen Institutionen bzw. Behörden – u. a. Polizei und Bundeswehr – wird infolge einer nicht abreißenden Serie von Vorfällen kontrovers und intensiver als jemals zuvor diskutiert. Die Bundesregierung hat mit einem Kabinettsbeschluss am 25. November 2020 einen Maßnahmenplan mit 89 Punkten verabschiedet, um Rechtsextremismus und Rassismus in Staat und Gesellschaft wirksamer entgegenzuwirken, u. a. mit dem Ausbau von Präventions- und Interventionsprogrammen sowie auf Basis von verstärkter anwendungsbezogener Forschung im Themenfeld. Doch öffentlich werden bisher nur selten die Ursachen von Rechtsextremismus und Rassismus in den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft thematisiert. Dabei ist diese Frage von höchster Relevanz, um geeignete und langfristig wirksame Gegenmaßnahmen zu konzipieren. Als wissenschaftlicher Begriff umfasst „Rechtsextremismus“ unterschiedliche Verständnisse, die Einstellungen, Verhaltensweise und Akteur:innen beschreiben können. Die gemeinsame Basis von Rassismus, Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus sind Ungleichwertigkeitsideologien. In unterschiedlichen Verständnissen und auf verschiedenen Ebenen ist die Frage nach Ursachen und nach erklärenden Faktoren von großer Bedeutung – nicht zuletzt für wirksame Gegenmaßnahmen: zum Beispiel in den Wirkungsfeldern von (Gegen-)Bewegungen, Sozialer Arbeit, Bildung, Erziehung, Sozialräumen, Arbeitswelt, Wissenschaft, Politik, Behörden, Justiz, Kriminalitätsprävention, Wirtschaft und (sozialen) Medien.

Wie immer versteht sich unsere Schriftenreihe als ein Forum für Befunde aus der sozialwissenschaftlichen Forschung, Erfahrungsberichte aus der zivilgesellschaftlichen Praxis und kritische Einschätzungen. Es liegt nahe, dass dabei keine synoptischen Gesamtdarstellungen der unterschiedlichen Erklärungsansätze und empirischen Forschungsergebnisse zu Rechtsextremismus und Rassismus geleistet werden können, wie sie beispielsweise Lehr- oder Handbücher bieten. Stattdessen werden Schlaglichter auf das Thema geworfen, die zum Weiterlesen in der zitierten Fachliteratur, zum Nachdenken und zur Diskussion anregen sollen.

Im ersten Teil des Sammelbandes werden Ursachen, Bedingungsfaktoren und Kontexte des Rechtsextremismus und Rechtspopulismus thematisiert. Johannes Kiess, Julia Schuler, Oliver Decker und Elmar Brähler stellen im ersten Beitrag zentrale Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus Studien (LAS) zur Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in Deutschland und zu den Ursachen ihrer Entstehung vor. Sie kommen zu dem Schluss, dass das Vorliegen eines autoritären Syndroms bei Einzelnen der stärkste Einflussfaktor auf die Ausprägung der rechtsextremen Einstellung ist. Juliane Lang geht in ihrem Beitrag davon aus, dass Geschlecht und das Festhalten an einer streng-heteronormativen Geschlechterordnung, allen Modernisierungsschüben zum Trotz, zentral für das Denken und Handeln der zeitgenössischen autoritären und extremen Rechten bleiben. Und so blickt sie in ihrem Beitrag auf die Selbstinszenierungen von Protagonistinnen der autoritären und extremen Rechten und geht der Frage nach, wie diese Protagonistinnen ungleiche Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen adressieren. Leo Roepert möchte mit seinem Beitrag zeigen, dass Rassismus im Zentrum des rechtspopulistischen Weltbildes steht und unterscheidet dafür zwei Ausprägungen des Rassismus, die er am Beispiel der AfD untersucht. Dabei argumentiert er, dass sich das widersprüchliche Verhältnis von liberalem und völkischem Rassismus verstehen lässt, wenn beide als Momente einer konformistischen Krisenverarbeitung interpretiert werden. Christoph Richter und Axel Salheiser analysieren die Wahlerfolge der AfD bei der Bundestagswahl 2021 in Thüringen in Hinblick auf die sozialräumliche Verbreitung ethnozentrischer (d. h. „fremdenfeindlicher“ und nationalistischer) Einstellungen in der Bevölkerung und andere Kontextfaktoren. Sie diskutieren dabei die Ambivalenz des Narrativs der „Protestwahl“ und weisen darauf hin, dass das Erstarken des Rechtspopulismus mit einer langfristigen disparaten Entwicklung der politischen Kultur in den Regionen verknüpft ist. Marius Miehlke stellt in seinem Beitrag die Ergebnisse einer Untersuchung zu den 1.268 Kleinen Anfragen der AfD-Abgeordneten während der 6. Wahlperiode des Thüringer Landtages vor und belegt u. a., dass die Thüringer AfD versucht hat, mithilfe der Kleinen Anfragen aus dem Parlament heraus einen autoritären Gegenangriff auf die Zivilgesellschaft und Demokratie in Thüringen durchzuführen.

Der zweite Teil umfasst Beiträge mit einem Fokus auf Familie, Sozialisation und Bildung. Kurt Möller greift die seit Jahrzehnten geführte Diskussion darüber auf, inwieweit die Elternhäuser extrem rechtsorientierter und Pauschalablehnungen gebrauchender Personen Verantwortung für die politischen und sozialen Haltungen der aus ihnen stammenden Nachwachsenden haben und fasst dazu den Stand der Forschung überblicksartig zusammen: Zum einen erörtert er theoretische Erklärungsansätze, zum anderen führt er zentrale empirische Befunde auf. Alexander Stärck zeigt anhand eines Fallbeispiels aus dem Alltag einer Kita, wie Fachkräfte, Familien und Kinder zu einer Reproduktion von Rassismus beitragen können. Dem stellt er ein Plädoyer für eine intensive Antidiskriminierungsstrategie entgegen. Diese Strategie umfasst, mit den Mitteln, die der Pädagogik zur Verfügung stehen, auch breitere institutionelle Ebenen zu adressieren und gesellschaftliche Dominanzverhältnisse mitzudenken. Ali Cinkaya befasst sich allgemeiner mit Vorurteilen bei Kindern und Jugendlichen und betont die Notwendigkeit, mit einer breit gefächerten Demokratieerziehung und der wiederholten Behandlung der Menschenrechte in verschiedenen Jahrgangsstufen kontinuierlich und konsequent gegen Ungleichwertigkeitsideologien vorzugehen.

Im dritten Teil stehen vielfältige Herausforderungen in Zivilgesellschaft und staatlichen Behörden im Mittelpunkt. Amani Ashour, Daniel Geschke und Janine Dieckmann begreifen Hassgewalt in ihrem Beitrag nicht als isolierte Tat zwischen Täter:innen und Betroffenen, sondern als Kommunikation zwischen Täter:innen, Betroffenen und der gesamten Gesellschaft. Anhand dieses „Kommunikationsdreiecks“, das den gesellschaftlichen Kontext mitdenkt, schlussfolgern sie, warum solidarische Kommunikation seitens der Gesellschaft für Betroffene so bedeutsam ist. Im zehnten Jahr nach der Selbstenttarnung des NSU widmet sich Alexander Bosch in seinem Beitrag der Aufarbeitung des NSU-Komplexes in den Sicherheitsbehörden und argumentiert, dass die Polizei Rassismus weiterhin als ein individuelles Problem versteht, dessen institutionelle wie strukturelle Dimension verkennt und dadurch den institutionellen Rassismus in der Polizei nur schwer fassen kann. Er plädiert u. a. dafür, unabhängige wissenschaftliche Studien in Auftrag zu geben, die sich rassismuskritisch mit den polizeilichen Praktiken beschäftigen und analysieren, an welchen Stellen in der Polizei Rassismus (re-)produziert wird. Kai Seidensticker beschäftigt sich auf Grundlage eigener empirischer Forschung mit genau diesen Reproduktionslogiken und betrachtet die Ungleichheit erzeugenden und stabilisierenden Praktiken als Produkt und gleichzeitig Ergebnis polizeiorganisationaler Strukturen. Er zeigt, dass sie die Vermittlung von Ungleichheit (re-)produzierenden polizeilichen Handlungsstrategien an unterschiedlichen Stellen innerhalb der Polizei wiederfindet. Emily Bandt, Max Hemmann und Paul Zschocke setzen sich in ihrem Beitrag am Beispiel des Projekts chronik.LE mit den Potenzialen und Grenzen zivilgesellschaftlicher Dokumentationspraxis von Diskriminierungen und extrem rechten Aktivitäten auseinander. Auf Basis gesammelter Erfahrungen benennen sie Voraussetzungen guter Dokumentationsarbeit und präsentieren Anknüpfungspunkte für weitere Gegenaktivitäten zu extrem rechten Praxen. Im Fokus des Beitrags von Kai Richarz steht die These, dass es im Bezirk Suhl (Südthüringen) bis zur sogenannten Wende hin keine rechte Skinheadszene gab, dafür aber Vorläufer einer pluralistischen Zivilgesellschaft sowie eine relativ stark ausgeprägte antifaschistische Gegenkultur. Auf der Suche nach Ursachen und Folgen dieser Konstellation beleuchtet er regional spezifische Entwicklungen im Stadt-Land-Vergleich und historische Kontinuitäten von politischen Kulturen der 1980er- und 1990er-Jahre in der Mitte der Gesellschaft sowie bei Ordnungs- und Sicherheitsbehörden.

Der Sammelband schließt mit der Rubrik Aktuelles aus der Forschung, in der ausgewählte wissenschaftliche Publikationen aus der Forschung zum Schwerpunkt des Bandes zu Rechtsextremismus, Ungleichwertigkeitsideologien und zu gesellschaftlicher Diversität vorgestellt werden.