Judenhass und der Kampf um männliche Vorherrschaft – Über den Zusammenhang von Antisemitismus, autoritärer Männlichkeit und Weiblichkeitsabwehr

Im folgenden Beitrag wird der Zusammenhang von Antisemitismus und Weiblichkeitsabwehr im Kontext spezifischer Männlichkeitsvorstellungen erörtert. Ausgangspunkt ist der ideologische Hintergrund des Anschlags von Halle (Saale) am 09. Oktober 2019. Es zeigt sich, dass beim Attentäter neben rassistischen vor allem antifeministische bzw. misogyne Einstellungen eng mit seinem Antisemitismus verknüpft sind. Bezugspunkt solcher Einstellungsmuster ist die immer wieder vorgebrachte Notwendigkeit eines Kampfes um männliche, in der Regel männlich-weiße Vorherrschaft. Bezugnehmend auf die weitreichenden Veröffentlichungen eines einflussreichen Protagonisten der weltweiten selbst ernannten Männerrechtsszene werden die soziologischen und sozialpsychologischen Bedingungen des Zusammenhangs von Antisemitismus und Weiblichkeitsabwehr herausgearbeitet.

 

Am 09. Oktober 2019 versuchte der Attentäter Stephan Balliet mit selbst gebauten Waffen und Sprengkörpern in die Synagoge von Halle (Saale) einzudringen, um die anwesenden Personen zu töten. Die rund 50 Menschen in der Synagoge am Tag von Jom Kippur entgingen nur knapp einem Massaker. Als es Balliet misslang, in das Synagogengelände einzudringen, erschoss er davor eine Passantin und später in einem in der Nähe gelegenen Dönerimbiss einen jungen Mann. Aus einem von Balliet ins Internet gestellten Tatplan1 geht hervor, gegen wen und mit welchen Mitteln der „White Man“ im angeblichen Kampf gegen seine Unterdrückung vorgehen soll: Ziel war es, Jüdinnen und Juden zu ermorden. Sie seien, so Balliet vor Gericht, die „Hauptverursacher am weißen Genozid“, sie würden eine „neue Weltordnung errichten“ (democ 2020a). Auch sein rassistischer Hass auf Asylsuchende ist auf das antisemitische Gravitationszentrum bezogen, seien doch letztlich die Juden für die „Zäsur“ (Mascolo 2020) der sogenannten Flüchtlingswelle verantwortlich. Im Kampf gegen die Einwanderung gibt Balliet als Richtung aus: „The only way to win is to cut of the head of ZOG, which are the kikes“2. Dass er Juden als die Strippenzieher bzw. als Ursache und die Muslime und deren Einwanderung als Symptom betrachtet, wiederholt er auch vor Gericht.

An Balliets Aussagen ist auffällig, dass sein antisemitisches Weltbild im Ringen um das eigene männliche Selbstbild mit der Frage des Geschlechterverhältnisses und dem Gegenstandsbereich der Geschlechtsidentität verflochten ist. So macht er den Feminismus für eine sinkende Geburtenrate im Westen und damit in Folge für die „Masseneinwanderung“ verantwortlich. Vor Gericht sagte er aus, der Feminismus sei jüdisch (democ 2020b). Er begreift seine Tat als Kampf gegen die Unterdrückung der Weißen, zentral gegen die Unterdrückung des weißen Mannes. Als Ziele seiner Anschlagspläne gab er an, es sollten so viele „Anti-Weiße wie möglich getötet werden, bevorzugt Jüdinnen und Juden“. Mit der veröffentlichten Aufnahme des Anschlags sollte zudem die „[Kampf-]Moral anderer unterdrückter Weißer“ gestärkt werden. An anderer Stelle sieht er es als einen „spirituellen Leitfaden für unzufriedene weiße Männer“ an, sich zu „entdomestizieren“ und „alle Juden zu töten“. Zur Belohnung, und hier spiegelt sich die Vorstellung von Männlichkeit in Balliets Frauenbild wider, erhält der „Techno Barbarian“ für den Mord an Juden ein „Free Cat-Girl“, ein „Fox-Girl“ oder ein „Waifu“. Cat-Girls, Fox-Girls und Waifus stammen als weibliche Fantasiefiguren aus der japanischen Anime- und Manga-Kultur, beschreiben aber mittlerweile bestimmte Frauenfiguren und Männerfantasien in der globalen Online-Kultur. Diese Figuren werden sehr häufig als infantile, devote, schwache und zugleich stark sexualisierte Frauen mit sehr schlanken, nicht selten beinah kindlichen Körpern (Lolitafiguren/Kindfrauen), knapper Bekleidung, großen Kulleraugen und großen Brüsten dargestellt. Die Vorstellung der eigenen Männlichkeit baut sich an diesen Figuren durch ein idealisiertes, besitzergreifendes und nicht selten misogynes3 Bild von Frauen auf, das maßgeblich durch Unterwürfigkeit, sexuelle Verfügbarkeit, Schutzbedürftigkeit, Naivität und den Widerspruch von Infantilität bzw. Reinheit und Wollust bzw. Triebhaftigkeit charakterisiert ist. Besonders in der Waifu als fantasierte Langzeitpartnerin verknüpfen sich Attribute des Mütterlichen mit der sexuellen Unterwerfung von Frauen.

Vor dem Ermittlungsrichter bezeichnete sich Balliet auch selbst als „unzufriedener weißer Mann“ (Der Spiegel 2019). Seine Welt- und Selbstbilder sind durch den Konflikt des heroischen Ideals hegemonialer, kämpferischer und geltungsbezogener Männlichkeit mit dem eigenen fragilen männlichen Ich geprägt. Balliets Leben und seine Selbsterfahrung scheinen ganz und gar nicht diesem Ideal zu entsprechen. So soll er laut eigenen Aussagen und nach Aussagen der Ermittler*innen bereits als Kind eher ein Außenseiter ohne Freund*innen gewesen sein. Die Beziehung zu den geschiedenen Eltern offenbart sich als schwierig, er sei immer schon ein Einzelgänger gewesen, so Balliet vor dem Ermittlungsrichter (ebd.). Nach dem gescheiterten Studium und ohne Arbeitseinkommen lebte er ohne engere soziale Kontakte und Partnerschaft bei seiner Mutter, zog sich dabei in die virtuelle Welt des Online-Gamings und der häufig unmoderierten Imageboards zurück. Sein fragiles Selbst kommt auch im Tatvideo immer wieder zum Vorschein, wenn er sich zum Beispiel als NEET4 und nach dem Scheitern seiner Attentatspläne vor dem Hintergrund einer Gemeinde virtueller Gesinnungsgenossen als Versager bezeichnet. Vor Gericht wiederholte er mit Blick auf das Scheitern seines Attentats auf die Hallische Jüdische Gemeinde die Aussage, er sei ein Versager (democ 2020a). Balliet pendelte während seiner Tat zwischen nach innerer Stabilität suchender Geltungssucht und absolutem Scheitern der imaginierten Ich-Größe. Diese noch in seinem versuchten Massenmord erfahrene Erosion des männlichen Ideals am eigenen Selbst ist bei Balliet mutmaßlich eine entscheidende Triebfeder seiner antisemitisch-projektiven und rassistischen Weltdeutung.

Maskulinismus, Androzentrismus und Antisemitismus

Der Zusammenhang aus autoritärer Männlichkeit, Weiblichkeitsabwehr und Antisemitismus ist nicht allein ein Problem rechtsextremer und neonazistischer Kreise. Er findet sich auch bei Vertretern und Anhängern der globalen selbst ernannten Männerrechtsbewegung. Ein prominentes Beispiel ist Daryush Valizadeh, der sich selbst Roosh V nennt.5 Seine Veröffentlichungen sind paradigmatisch für eine Verknüpfung von Antisemitismus und Misogynie unter dem Vorzeichen eines Kampfes gegen die angebliche Unterdrückung von Männern. Die darin vertretenen Ansichten sollen daher im Folgenden eingehender untersucht werden, um von da aus einige sozialpsychologische Aspekte solcher Einstellungen zu beleuchten.

Valizadeh ist ein amerikanischer Blogger, Autor und ehemaliger „Pickup-Artist“ mit einer großen Anhängerschaft, auch in Deutschland (Ludwig 2015): Er verkaufte zahlreiche Bücher über aggressive ‚Verführungstechniken‘, um heterosexuellen Männern zu mehr Gelegenheitssex zu verhelfen. Als sendungsbewusster Befürworter eines „Neomaskulinismus“ (Valizadeh 2015a) beteiligt er sich mit diversen Webseiten, Blogs und Foren am Kampf um ‚echte Männlichkeit‘ und gegen ihre angebliche Unterdrückung. Seine androzentrischen6, diskriminierenden Ansichten über Frauen, vor allem die immer wieder auftauchende Legitimierung der sexualisierten Gewalt gegen Frauen, machten ihn weltweit zu einem wichtigen Stichwortgeber der sogenannten Männerrechtsbewegung und der aggressiven Incel-Ideologie (engl. für involuntary celibacy, Kracher 2019). So schlug er vor, Vergewaltigungen auf Privatgrundstücken zu legalisieren (Valizadeh 2015b) und legitimierte misogyne Attentate mit männlichem Sexnotstand, z. B. den vorrangig gegen Frauen gerichteten Amoklauf von Elliot Rodgers in Isla Vista/Kalifornien (Valizadeh 2014). Valizadeh sieht die Ursache für die sozialen Probleme westlicher Gesellschaften vor allem in der angeblichen Unterdrückung ‚echter Männer‘ durch die Übermacht der Frauen (Matriarchat) und in einer kulturellen Degeneration durch linksliberale Haltungen, nicht selten mit Frauen und Feminismus verknüpft, zur Homosexualität und Masseneinwanderung. Man findet bei Valizadeh alle Facetten alter, aber langlebiger Aspekte der Herabwürdigung von Frauen.

Wie bei Stephan Balliet verbinden sich bei Valizadeh Forderungen nach männlicher Hegemonie und Misogynie mit einer vehementen antisemitischen Einstellung. Bezugnehmend auf die antisemitischen Pamphlete des Psychologieprofessors Kevin MacDonald veröffentlichte er 2015 einen Artikel, in dem er den „jüdischen Intellektualismus und Aktivismus“ als Ursache für die Probleme westlicher Gesellschaften beschreibt und den Feminismus als „jewish war on women“ (Valizadeh 2015c) bezeichnet. Fortlaufend zitiert er eine Reihe klassisch antisemitischer Behauptungen aus MacDonalds Buch ‚The Culture Of Critique‘. „Intellektuelle jüdische Bewegungen“ (ebd.), wie die Psychoanalyse Sigmund Freuds und die Kritische Theorie der sogenannten Frankfurter Schule, seien Strategien, um die westliche Kultur im Sinne eines jüdischen Einflusses zu verändern. So würden deren Ideen in der Verleugnung der rassischen Unterschiede die natürlichen Wurzeln des Menschen untergraben und Kosmopolitismus, Individualismus und einen dekadenten Lebensstil propagieren. Der Feminismus sei schließlich ein Instrument, um die natürliche Ordnung der patriarchalen Macht der (nichtjüdischen) Männer zu brechen, um sie dann einer Herrschaft der Frauen bzw. der verweiblichten Männer zu unterwerfen (ebd.).

Auch nach seiner ‚moralischen Wende‘ zum armenischen christlich-orthodoxen Glauben in den Jahren 2018 und 2019 haben sich in Valizadehs Androzentrismus lediglich die Koordinaten verändert. Frauen werden nicht mehr als Ziel beliebiger sexueller Verfügbarkeit abgewertet. Vielmehr begründet sich seine ‚moralische Wende‘ auf einem religiös-patriarchalen Konzept der Sünde und des Kampfes gegen Unzucht. In der angeblichen Gefahr für die männliche Integrität erscheinen dabei Frauen erneut nur als Objekte männlicher Sexualität.

Mit der neuen, religiös begründeten Moral und unter Einfluss der Bücher des fundamentalistischen Katholiken und Antisemiten E. Michael Jones (vgl. Van Zile 2019) bildet der Antisemitismus weiterhin das Zentrum von Valizadehs Weltbilds. In einem Gespräch mit Jones behauptet er, die Juden hätten noch nie so viel Macht wie heute. Sie hätten die totale Kontrolle über Institutionen, Unternehmen, Medien, Hollywood und die Wissenschaft (Valizadeh 2020c: ab 59:53min). Auch die „Lobbyisten der Homosexualität, der Unzucht, der sexuellen Sünde und der Masseneinwanderung in die USA“ seien jüdisch (ebd.: ab 6:43min). Dabei begründet sich der Antisemitismus Valizadehs in einem von Jones umgedeuteten christlichen Antijudaismus. So leitet dieser die antisemitische Behauptung, Juden würden das Abstrakte, das Irrationale personifizieren, daraus ab, dass die Juden in der Ablehnung Jesus Christus als Messias auch die Rationalität, die Ordnung des Universums, die politische und die biologische Ordnung ablehnen würden. Daraus erkläre sich auch ihre Hingabe zum revolutionären Verhalten (ebd.: ab 9:10min).

Antisemitismus und Sexismus

Es ist auffällig, dass in Valizadehs Weltdeutungen Juden und Frauen in vielen Aspekten austauschbare Objekte sind. Beide stehen sie für ihn am Anfang einer kulturell-gesellschaftlichen, dem Sozialismus zugeneigten Degeneration, deren Opfer vor allem heterosexuelle, in der Regel weiße Männer sein sollen. Das bedeutet nicht, dass für ihn die Frauen die neuen Juden sind. Vielmehr sind seine misogyne Haltung und sein Antisemitismus ineinander verflochten. Sein Sexismus folgt der ‚Logik‘ einer projektiven antisemitischen Grundeinstellung.

Um zu verstehen, wie Ideologien funktionieren und wie sie sich als gesellschaftliche Verhältnisse im Denken und Handeln der Einzelnen manifestieren, ist es notwendig, die psychosozialen und psychischen Bedingungen solcher Einstellungen zu untersuchen. Für die Weiblichkeitsabwehr finden sich in der Psychodynamik im Wesentlichen zwei Anschlussstellen zum Antisemitismus, die im Folgenden genauer beschrieben werden sollen: Erstens die Furcht vor der eigenen Entmännlichung bzw. Verweiblichung durch die abstrakte Macht des Juden und zweitens der Hass auf die angenommene Schwäche des als ‚weibisch‘ konstruierten Juden. Im Bild des Juden7, der über die angebliche Kontrolle der (Finanz-)Wirtschaft die Geschicke der westlichen Welt lenkt und sie zugleich versucht, mit ‚kulturmarxistischen‘ Ideen zu zersetzen, kommt die vermeintliche Omnipotenz des Juden zum Ausdruck. Der antisemitische Hass auf diese zugeschriebene Omnipotenz wurzelt beim Einzelnen in dem unbewussten und vielschichtigen psychischen Vorgang der Projektion. Darauf machen die Antisemitismus- und die Autoritarismusforschung immer wieder aufmerksam (Grunberger 1962; Stögner 2014; Pohl 2009; Rippl et al. 2000, vgl. auch Beitrag von Kirchhoff in diesem Band).

Unter bestimmten Voraussetzungen8 werden in der frühen psychischen Entwicklung eines Kindes gesellschaftliche Norm- und Moralvorstellungen (zum Beispiel Verbote und Tabus) in rigider und starrer Weise verinnerlicht. Dabei können unter dem Druck ihrer innerpsychischen Repräsentanz Angst-, Scham- und Ohnmachtsgefühle nicht zugelassen werden. Laut der psychoanalytischen Theorie entstehen solche Gefühle in der frühkindlichen Phase vor allem in Triebkonflikten mit väterlicher, hegemonial männlicher Autorität, aber auch mit der zuvor als grandios imaginierten Mutter und ihrem Autoritätsverlust (Stögner 2014: 47ff.). So befindet sich das Kind etwa im Zwiespalt zwischen der Identifikation mit der erlebten Macht des Vaters und der Abwehr von Angst- und Aggressionsimpulsen, die von der Bedrohlichkeit des idealisierten Vaters ausgehen. Dieser innere Widerspruch – der Druck dieser Gefühlsregungen und der gegensätzliche, verinnerlichte Verdrängungsdruck – bedroht die noch fragile Einheit des psychischen Ich des Kindes.

Der Konflikt erzwingt schließlich die Projektion der verpönten Gefühle auf ein als äußerlich erfahrenes, nicht selten imaginär errichtetes Objekt. Die widersprüchlichen Gefühle werden als Bedrohung der innerpsychischen Stabilität auf ein Ersatzobjekt verschoben. Die nun außerhalb seiner Selbst liegende Bedrohung kann durch den Affekt des Hasses abgewehrt werden (Pohl 2009: 9). Da dadurch dem Konflikt projektiv ‚ausgewichen‘ wird, kann das psychische Ich die väterliche Autorität als Ideal verinnerlichen und sich daran selbst Größe verleihen. Es gewinnt durch die idealisierende Identifikation mit der väterlichen Autorität und durch den Vorgang der Projektion eine Beständigkeit, die jedoch stets fragil bleibt. Zwar kann sich das psychische Ich des Kindes im destruktiven Impuls gegen das Ersatzobjekt und in entsprechenden destruktiven Fantasien von den inneren Widersprüchen zeitweilig Entlastung verschaffen. Die rigide und starre Repräsentanz internalisierter Normen und Moralvorstellungen führt aber auch im weiteren Lebensverlauf dazu, dass verpönte Angst-, Scham- und Ohnmachtsgefühle immer wieder verdrängt und im Vorgang der „pathischen“ Projektion (Horkheimer/Adorno 1998/1944: 211ff.) auf Ersatzobjekte übertragen werden.

Verhindern die fortgesetzten Sozialisationsbedingungen das Erlernen eines bewussten und reflektierten Umgangs mit Beziehungs- und Gefühlskonflikten, können sich die frühkindlichen projektiven Muster zu einem unbewussten und zwingenden psychischen Abwehrmechanismus entwickeln. Sie bilden dann gewissermaßen die Blaupause für Situationen und Beziehungsmuster im Erwachsenenleben, die das infantile Gefühlsdilemma reaktivieren und aktualisieren. An die Stelle der kindlichen Ersatzobjekte, die vor allem Affekten und Fantasien entspringen oder sich an den primären Bezugspersonen orientieren, treten beim Erwachsenen politisch-ideologische, häufig antisemitische Weltdeutungen. Mit der gesellschaftlichen Konstruktion ‚des Judens‘ als Feindbild besteht ein kulturell verbreitetes Ersatzobjekt, welches mit seinem projektiven und identitätsstiftenden Gehalt besonders im Zuge der Adoleszenz verinnerlicht wird. Dabei wird auch die Bedrohlichkeit der frühen Ersatzobjekte auf das neue übertragen. Dem Fantasiegebilde der den Juden zugeschriebenen Macht liegen nicht selten frühkindliche Ohnmachtsgefühle, Kastrationsängste und unbewusste Hassgefühle zugrunde. Damit ist das Feindbild ‚des Judens‘ in zweifacher Weise mit den beschriebenen infantilen Mustern tiefenpsychologisch verknüpft. Es figuriert als die projizierten bedrohlichen väterlichen Anteile und dessen gefürchtete Omnipotenz. Zugleich gilt im Antisemitismus ‚der Jude‘ als das Gegenbild zum väterlichen Ideal bzw. zu kollektiven Autoritätsfiguren (etwa Führer und Volk), die an seine Stelle treten und dem fragilen Einzel-Ich vermeintliche Größe verleihen (das ‚Wir‘ als identitätsstiftendes Moment des Ich). Beides ruft starke Affekte, etwa Hass, hervor.

Juden werden im Antisemitismus aber nicht nur als mächtige, weltbeherrschende, destruktive und quasi übermenschliche Figuren behauptet. Sie werden zugleich als vermeintlich kastrierte Männer mit verweiblichter Schwäche assoziiert (Stögner 2018: 71; Hödl 1997: 164ff.). Neben Kränkungserfahrungen sowie Verlust- und Ohnmachtsgefühlen, die sich gegen die Mutter wenden, spielt laut Psychoanalyse hierbei vor allem die Entwicklung der kindlichen Psychosexualität eine zentrale Rolle. Besonders in der männlichen Sexualentwicklung kommt es unter den Bedingungen des patriarchalen Geschlechterverhältnisses häufig zu einer narzisstisch-aggressiven Besetzung des männlichen Genitals, an dem sich ein fragiles Ich stabilisiert. Die imaginäre Verwandlung des Penis zum geschlechtlichen Phallus und seine obsessive Aufwertung werden zum psychischen Ort, an dem das kindliche Selbst die Macht des idealisierten Vaters erlangen kann (Pohl 2004: 219ff.). Vor diesem Hintergrund erscheint die Mutter umso mehr als Gegenprinzip zur väterlich, nun männlich erscheinenden Grandiosität. Das Geschlecht der Mutter, das heißt ihre vermeintliche Phalluslosigkeit, versinnbildlicht für das männliche Kind die Gefahr, die erstrebte väterliche Macht und die daran geknüpfte Größe des eigenen Ichs wieder zu verlieren. Weiblichkeit wird so mit Gefühlen der Furcht (Verlust des Phallus), Kleinheit, Ohnmacht und Scham assoziiert.

Abhängig von den gesellschaftlichen Sozialisationsbedingungen und der erzieherischen Praxis werden vor diesem Hintergrund auch andere verpönte Triebimpulse und Regungen entsprechend als ‚weiblich‘ bzw. ‚unmännlich‘ besetzt, vom eigenen Ich abgespalten und mit Gefühlen des Hasses und der Verachtung beladen. Das können homosexuelle Begehrensanteile, schambesetzte Anteile der (erotischen) Lust, aber auch Gefühle der Zärtlichkeit und Nähe sein. Diese verdrängten, damit unbewussten Triebregungen und Begehrensanteile bleiben jedoch weiterhin wirksam oder werden immer wieder situativ angeregt. Wo die psychische Verdrängung dieser Anteile nicht mehr funktioniert und damit die fragile Stabilität des psychischen Ich gefährdet ist, müssen die ‚verweiblichten‘ Eigenanteile umso aggressiver auf ein Außen projiziert und zum Beispiel im ‚jüdischen Körper‘ und in einer ‚jüdischen Sexualität‘ abgewehrt werden. ‚Der Jude‘ erscheint dem Antisemiten in dem projizierten Begehren dann geradezu als Sinnbild für die unkontrollierbaren, häufig als weiblich assoziierten Bestandteile menschlicher Triebnatur.

Schlussbetrachtung: zwischen erlebter Scham und imaginierter Größe

In den Aussagen und Parolen von Stephan Balliet und Dayrush Valizadeh treten die Ambivalenzen zwischen imaginierter männlicher Größe und eigener Fragilität im Horizont ihrer antisemitischen Einstellung zutage. Darauf weisen im Falle von Balliet auch die psychiatrischen Gutachten im Zuge seines Gerichtsprozesses hin (democ 2020c). Einer Befragung für eines der beiden Gutachten stimmte er nur zu, weil er glaubte, ansonsten in der Öffentlichkeit als psychisch krank und damit nicht als Herr seines Handelns (und seiner Tat) dargestellt zu werden. Dabei ließ er sich nicht auf Fragen um seine Persönlichkeit und sein Inneres ein, sondern sprach nur über seine Tat und seine politischen Ansichten. Offensichtlich sei aber, dass es Balliet als „beschämenden Makel“ (ebd.) empfinde, keine Beziehungen mit Frauen führen zu können. Auch die zweite Gutachterin wies darauf hin, „dass der Proband versuche, unangenehme Charakterzüge zu verschweigen“ (ebd.) und sich häufig in ein überzogenes Lachen9 flüchte.
Geradezu beispielhaft projektiv verhielt sich Balliet im Falle einer offensichtlich verunsichernden Beschämung im Bereich der Sexualität. So reagierte er nicht nur aggressiv-abwehrend auf die gutachterliche Aussage, er besitze eine Pornosammlung, sondern behauptete, die gesamte amerikanische Pornoindustrie sei jüdisch und es verletze ihn in seiner Ehre als Antisemit, ihn damit in Verbindung zu bringen (ebd.). Daran wird deutlich, dass die antisemitisch-projektive Aggression und die Geltungssucht in der männlich-patriarchalen Kategorie der Ehre eine stabilisierende Funktion für sein psychisches Ich haben.

Bei Valizadeh zeigt sich paradigmatisch die Abwehr von Schwäche besonders in frauenfeindlicher Aggressivität, die beständig antisemitisch untermauert wird. In seinen Vorstellungen schließen sich das ambivalente Bild des Juden und der Hass auf Frauen in einem Szenario einer von Juden installierten matriarchalen Herrschaft zusammen. In dieser Fantasie hasst er an der matriarchalen Macht der Frauen die heimliche patriarchale Omnipotenz der Juden. Daher rücken Frauen in seinen politischen Weltdeutungen häufig in den Mittelpunkt. Zugleich sind in seinem Hass auf Juden Aspekte der Misogynie und Weiblichkeitsabwehr dominant. An den Juden agiert sich eine tiefe Furcht vor dem Weiblichen aus. Der Antisemitismus offenbart sich dabei gewissermaßen als Trägerideologie, die bei Valizadeh, besonders nach dem Ende seiner aggressiven Jagd auf Frauen als „Pickup-Artist“, mehr und mehr in den Vordergrund rückt.
An den Einstellungen beider wird erkennbar, inwiefern psychische Faktoren und gesellschaftliche bzw. politische Ideologien ineinander verknüpft sind und sich gegenseitig bedingen. Davon ausgehend ist darauf aufmerksam zu machen, dass der Kampf gegen Antisemitismus und Misogynie auf verschiedenen Ebenen – etwa im Bereich der Erziehung und im Bereich der Politik – geführt werden muss.

 

1 Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Zitate aus diesem „short pre-action report“ von Stephan Balliet, das sogenannte Manifest, welches Balliet vor seiner Tat neben weiteren Dokumenten ins Internet gestellt hat.

2 „ZOG“ steht für „Zionist Occupied Government“ und dient als häufige Chiffre der antisemitischen Behauptung, Juden würden zum Beispiel über die Beherrschung der Finanzmärkte die Regierungen von Nationalstaaten kontrollieren. „Kike“ ist ein vor allem im US-amerikanischen Raum gebrauchter diskriminierender Begriff für Juden.

3 Misogynie bezeichnet die Einstellung von Menschen, Frauen zu verachten und zu hassen.

4 NEET steht für ‚Not in Education, Emplyoment or Training‘ und bezeichnet Jugendliche und junge Erwachsene, die sich aus verschiedenen Gründen nicht in Ausbildung befinden und keiner Arbeit nachgehen. Ein großer Teil dieser Gruppe ist außerdem dadurch charakterisiert, dass sie sich sozial isolieren oder isoliert werden. Für diese Teilgruppe sind verschiedene Gründe der sozialen Isolation, etwa soziale Phobien, mangelndes Selbstwertgefühl und andere innerpsychische Faktoren, zu nennen. Stephan Balliet scheint sich in den Phasen des Scheiterns mit dieser Teilgruppe der NEETS zu identifizieren.

5 Valizadeh hegt allerdings trotz der armenischen und iranischen Einwanderungsbiografie seiner Eltern große Sympathie für die auf weiße Vorherrschaft zielende Alt-Right-Bewegung.

6 Androzentrismus beschreibt eine Haltung, die den Mann zur gesellschaftlichen Norm erklärt und die Frau als Abweichung von der Norm betrachtet. Oft geht mit dieser Haltung die politische Forderung nach einer vermeintlich natürlichen Dominanz des Mannes in Politik, Wirtschaft etc. einher.

7 Juden werden dabei in der Regel als männlich imaginiert. Es existieren aber auch antisemitische Konstruktionen jüdischer Frauen, etwa das Bild der sexuell triebhaften Jüdin.

8 Solche Voraussetzungen sind autoritär-repressive oder vernachlässigende Erziehungsstile, die zum Beispiel im Kontext sozialer Problemlagen entstehen und stattfinden können.

9 Auf die psychodynamisch-stabilisierende Funktion des Lachens der Täter hat auch Klaus Theweleit (2015) hingewiesen.





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