Am Ende kamen mehr Menschen auf Einladung des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) am 8. November 2016 in das Theaterhaus Jena, um über die Bedeutung des 9. Novembers und den zynischen Missbrauch dieses Datums durch Neonazis zu diskutieren, als Anhänger_innen der rechtsextremen Thügida am nächsten Tag demonstrierten: Mit 150 Teilnehmenden waren die Ränge des Theaterhauses voll besetzt, während die 60 bis 80 Neonazis – umringt von tausenden Gegendemonstrierenden – ein ebenso erschreckendes wie kümmerliches Bild lieferten. In Partnerschaft mit dem Online-Nachrichtendienst „Thüringen24“ wurde die Debatte des IDZ live im Internet gestreamt.
An der ersten öffentlichen Veranstaltung des IDZ nahmen Prof. Dr. Norbert Frei (Historiker an der Friedrich-Schiller-Universität Jena), Gabi Ohler (Staatssekretärin im Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport) und Katja Fiebiger (MOBIT – Mobile Beratung für Demokratie – gegen Rechtsextremismus in Thüringen) teil. Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von Dr. Matthias Quent, Leiter des IDZ.
Einleitend beschrieb Quent die Rhetorik und Strategie, mit welcher Thügida für die Demonstration am nächsten Tag mobilisierte. Obwohl Thügida vor Gericht argumentierte, die Veranstaltung habe keinen Bezug zur sogenannten Reichskristallnacht, sondern nur zum Tag des Mauerfalls, stellte Quent klar, dass dies offenkundig nicht der Fall sei und das Gericht sich von den Neonazis habe vorführen lassen. Er bettete die erfolgreiche Anmeldung zur Veranstaltung am 09. November 2016 ein in die unter anderem vom in Jena radikalisiertem NSU verfolgte Strategie: „Während sich die Neonazis in den 1990er Jahren unter dem Druck sahen, trotz der vermeintlichen Verfolgung der Behörden handlungsfähig zu bleiben, blieben die Institutionen in einem statischen Verständnis über den Rechtsextremismus verhaftet […]. Weil die Rechtsextremen annahmen, der Staat sei ihnen dicht auf den Fersen, waren sie ihm bald zwei Schritte voraus. Die Institutionen fielen hinter taktischen Innovationen der Rechtsextremen zurück.“ – zitierte Quent aus seinem Buch über die Entstehung des NSU. Er führte weiter aus: An diesen Mechanismen habe sich offenkundig nichts geändert und dafür brauche es nicht viel. Um das Oberverwaltungsgericht und in zweiter Sequenz somit auch die Stadt Jena vorzuführen, reiche es bereits, wenn Nazis nicht von Pogrom sprechen, sondern Wende – und die Institutionen fielen herein auf die Selbstinszenierung dieser Bewegung, die keine demokratische Veränderung nach vorn anvisieren würde, sondern einen völkisch-nationalistischen Rollback; und die auch keinen Hehl daraus mache, wenn sie morgen in Jena wieder lautstark den „Nationalen Sozialismus“ fordere.
Quent stellte das IDZ in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung und gefördert durch das Thüringer Landesprogramm Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit vor – als eine Konsequenz aus dem umfassenden Versagen im NSU-Komplex. Das IDZ wolle durch empirische Forschung und als Plattform für den Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft die öffentliche Sensibilität, Resilienz und Analysefähigkeit gegen Demokratie- und Menschenfeindlichkeit stärken.
Zu Beginn der Podiumsdiskussion klärte Prof. Frei auf, warum der Tag des 9. Novembers insgesamt viermal im 20. Jahrhundert in der deutschen Geschichte eine schicksalhafte Bedeutung einnimmt. Im Jahr 1918 wurde an diesem Tag die „Deutsche Republik“ ausgerufen sowie zwei Stunden später die „Freie sozialistische Republik Deutschland“ durch Karl Liebknecht. In der Folge begannen harte politische Auseinandersetzungen über die Ausrichtung einer neuen demokratischen Staatsform für Deutschland nach dem 1. Weltkrieg. Am 9. November 1923 ereignete sich der Hitler-Putsch „als einer der prominentesten Versuche, die entstandene Weimarer Republik zurückzunehmen“, so Frei. Im Jahr 1938 markierte die „Reichskristallnacht“ den „Beginn des sozialen Todes der deutschen Juden“. Als jüngstes Ereignis der deutschen Geschichte am 9. November nannte Frei den „Fall der Mauer“ im Jahr 1989.
Anschließend diskutierte das Podium, was es bedeutet, wenn sich Thügida genau dieses Datum zum Marschieren in Jena wählt. Alle Diskutant_innen sahen den NS-verherrlichenden Bezug zum Datum der Reichskristallnacht am 09. November 1938 bei dem Aufmarsch von Thügida als offensichtlich. Darüber hinaus sei es gegenüber der Jenaer Zivilgesellschaft „Provokation, Provokation, Provokation“, so Fiebiger; es sei ein „Demonstrieren von Macht: ‚Seht her, wir dürfen an diesem Tag in Jena laufen‘“, so Ohler. Frei stellte fest, es sei „mehr als nur die Verherrlichung des Nationalsozialismus. Es geht vielmehr um die Verachtung von Menschenrechten.“
Auf die Frage nach den Ursachen des „Rechtsrucks“ und der vermeintlichen Verrohung in Sprache und Handeln unserer Gesellschaft betonte Fiebiger, dass man in der Vergangenheit in Thüringen immer wieder Symbole und Veranstaltungen zur Verherrlichung des Nationalsozialismus finde; was momentan augenscheinlich werde, sei die Aufweichung von Grenzen zwischen ‚normalen‘ Bürger_innen („Tante Erna von nebenan“) und politisch rechten Personen. Nachdem Ohler die nationalsozialistisch gefärbte Rhetorik von AfD-Abgeordneten im Landtag thematisierte, umschrieb Frei das strategische Vorgehen der AfD als „experimentelles Austesten und Erweitern der Grenzen des Sagbaren“; die AfD wolle den politischen und öffentlichen Diskurs Stück für Stück radikalisieren. Auch den sozialen Netzwerken schrieb Frei eine bedeutende Rolle für die „populistischen Selbstermächtigung“ zu: „Stammtische sind heute elektronisch verbunden.“ Durch dieses einfach zugängliche Gefühl der gegenseitigen Bestärkung würden Enthemmungsprozesse intensiviert.
Als Beispiel für einen spürbar enthemmteren Umgang mit NS-verherrlichender Symbolik nannte Ohler den Anstieg von rechtsmotivierten Vorfällen an Schulen. Daraufhin diskutierte das Podium auch die Rolle von Schulen und historischer Schulbildung. Geschichtsunterricht dürfe an allen Schulen Deutschlands nicht abwählbar sein – das war das einhellige Credo des Podiums mit Blick in das Nachbarbundesland Sachsen. Doch all zu leicht schiebe man die komplette Verantwortung den Schulen und Lehrer/innen zu, so Fiebiger: „Demokratiebildung ist ein Anliegen aller gesellschaftlicher Bereiche.“ Eine Teilnehmerin aus dem Publikum ergänzte, die Zusammensetzung der Pegida-Demonstrationen zeige deutlich, dass nicht nur die Jugend, sondern auch viele ältere Menschen den rechtspopulistischen Aufrufen folgen.
Die Podiumsdiskutant_innen wendeten danach ihren Blick auf die Möglichkeiten des zivilgesellschaftlichen Protestes am folgenden 9. November 2016 in Jena und betonten ihren Wunsch: Möglichst viele Menschen sollten sich friedlich dem Aufmarsch von Thügida entgegenstellen, ihn zum Stoppen bringen, um ein spürbares Zeichen für die demokratischen Werte unserer Gesellschaft zu senden. Fiebiger ergänzte, dass „zivilgesellschaftlicher Gegenprotest vielfältig sein müsse. Jede Gruppe solle ihr eigenes ‚Patentrezept‘ umsetzen und zum Gesamtbild beitragen.“ Als Aufruf an die Zeitzeug_innen in unserer Gesellschaft warf eine 81-Jährige aus dem Publikum die Frage auf: „Wo sind bei Veranstaltungen wie dieser Podiumsdiskussion die Menschen, die die Nacht vor 78 Jahren miterlebt haben?“ Die Podiumsdiskussion endete mit der Vorstellung der geplanten Gedenk- und Gegendemonstrationsveranstaltungen am folgenden Tag in Jena.
Twitternachricht von den Gegenprotesten am 9.11.16 in Jena
Am Tag des 9. Novembers 2016 setzte die Jenaer Zivilgesellschaft dann – anders als die Gerichte – ein deutlich sichtbares Zeichen. Mehrere tausend Menschen nahmen an den Gedenkveranstaltungen und Protesten gegen den Fackelmarsch der Neonazis teil. Diese hetzten gegen Politiker_innen und Polizei und führten unter anderem einen Sarg mit der Aufschrift „Demokratie“ mit sich – eine unmissverständliche Botschaft dafür, dass es Thügida nicht um die Fortführung einer demokratischen Wende geht, sondern darum, die Demokratie zu Grabe zu tragen.