Heidegger für Halbgebildete – Identitäre Heimatideologie zwischen Fiktion und Propaganda

Die „Identitäre Bewegung“ (IB) gilt als jugendlicher Teil der neurechten Bewegung, der rechte Propagandainhalte öffentlichkeitswirksam inszeniert. Im Zentrum der „Identitären“ stehen dabei klassische rechte Schlagworte wie Volk, Identität und Heimat – im Unterschied zu ihren Vorbildern in den 1920er Jahren ist die intellektuelle Fundierung dieser Konzepte aber nur rudimentär gegeben, die meisten Verlautbarungen aus identitären Kontexten sind geradezu trivial. Der identitäre Heimatbegriff steht gleichwohl im Zentrum – wenn auch vor allem als Ideologie der Praxis.

Nein, sie sind weder Intellektuelle noch haben sie rechtes Denken neu erfunden, sie sind rechtsextreme Aktivistinnen und Aktivisten, die es verstanden haben, in einer dauerbeschleunigten Medienöffentlichkeit technischen Fortschritt für die Mobilisierung von gesellschaftlichem Rückschritt zu nutzen: die Postulate von Identität, Heimat und Volk dienen den „Identitären“ für ihre Inszenierung und Propaganda. Eine intellektuelle Substanz haben sie nur rudimentär. Und lebten wir in einer tatsächlich aufgeklärten Gesellschaft, würde man sie auch einfach öffentlich ignorieren, weil ihr mit Uniformen und Transparenten inszenierter Klamauk weit entfernt ist von innovativen Kunstformen, so dass das meiste, was die „Identitären“ tun, eigentlich faktisch nur vor dem Hintergrund der Frage interessant ist, ob es eine strafrechtliche Dimension hat oder nicht.

Es wird sich aber viel zu selten noch die Mühe gemacht, theoretisch anspruchsvolle Literatur zu rezipieren, so dass phrasenhafte Halbbildung schon als intellektuell gilt. Deshalb kommt man auch nicht auf die Idee, dass man sämtliche Erkenntnisse über Rechtsextremismus allein durch intensive Lektüre von Primärquellen und systematische Recherche erlangen kann, ohne dafür auch nur ein einziges Wort mit Rechten wechseln zu müssen – und diese damit aufzuwerten und scheinbar satisfaktionsfähig zu machen. Und so erscheinen schon diejenigen, die selbstbespiegelndes Geraune über Martin Heidegger als Flugschrift in rechten Kleinstverlagen veröffentlichen (vgl. Sellner/Spatz 2015), allein deshalb als gebildet, weil sie sich auf den – aufgrund von dessen umständlicher und verquaster Sprache bereits durch Nennung seines Namens für gemeinhin Ehrfurcht einjagenden – Heidegger beziehen. Insofern ist ein Blick auf das intellektuelle oder theoretische Potenzial der „Identitären“ eigentlich grundsätzlich verfehlt, weil sie als aktivistische Strömung der „Neuen Rechten“ ebenso wenig an intellektuellen Neuerfindungen beizutragen haben, wie fast alle gegenwärtigen neurechten Akteure und Akteurinnen. Und einer der wenigen, die man intellektuell ernst nehmen müsste, nämlich Karlheinz Weißmann, ist in der aktivistischen Szene in Ungnade gefallen, vielleicht auch, weil er den selbstinszenierten Denkerinnen und Denkern zu präsent vor Augen gehalten hat, dass ihre intellektuellen Fähigkeiten letztlich doch auf Küchentischhöhe rangieren.

Dennoch gelten die Propagandist(inn)en und Aktivist(inn)en um Götz Kubitschek und seine identitären Claqueurinnen und Claqueure dem deutschen Feuilleton als tiefgründig und intellektuell, kaum ein Magazin hat sie noch nicht umfangreich portraitiert. Und dabei gleichermaßen bis heute nicht erklären können, was denn neben der morbiden und destruktiven Faszination, die von dem Bauernhof eines sachsen-anhaltinischen Provinznestes offenbar ausgeht, überhaupt porträtierenswert ist. Ein spannender Bericht über Ziegenzucht und kärglich-primitive Selbstversorgung ließe sich auch über so ziemlich jeden verarmten Landbauern schreiben, der dann allerdings vielleicht noch zu berichten wüsste, warum das neurechts inszenierte Elend, wenn es als wirkliches Elend existiert, vor allem traurig ist – und man insofern sehen könnte, warum man lieber nicht auf neurechte Selbstinszenierungen hereinfallen sollte.

Um das Weltbild der Identitären zu verstehen, muss man insofern zu allererst genau das verstehen: es ist Fassade, die manchmal zur Inszenierung reicht, die aber nicht mit anspruchsvollen Theorien oder gar Intellektualität verwechselt werden darf. Der Kern der völkischen Rebellion der identitären Ideologie ist repressive, aktionistische Praxis, das Denken ist zum Handeln degeneriert, der Streit zum Kampf, der Pluralismus zur Identität – und das ist auch das zentrale, was die „Identitäre Bewegung“ (IB) mit der „Konservativen Revolution“ verbindet: die Hoffnung auf die Zerstörung von Vernunft und Rationalität, die Suspendierung des Verstandes und die reine Fokussierung auf die Ideologie der Praxis – mit dem Unterschied, dass die Vordenker des NS in den 1910er und 1920er Jahren um Carl Schmitt, Arthur Moeller van den Bruck und Oswald Spengler noch dazu in der Lage waren, ihre Verachtung für die Aufklärung und ihren Hass auf das freie Individuum und selbstbestimmende Subjekt in theoretische Formulierungen zu bringen.

Die Kapitulation vor Vernunft und Verstand ist nun bei ihren „Wiedergangstern“ – in Anlehnung an Karl Kraus' gegen Spengler gerichtete Formulierung von den „Konservativen Revolutionären“ als „Untergangster des Abendlandes“ formuliert (vgl. Goetz u. a. 2017, S. 25) – am Beginn des 21. Jahrhunderts real geworden. Die Vernunft wird nicht nur verachtet, sondern sie ist auch tatsächlich aufgegeben, hinter dem völkischen Raunen identitärer Bewegung verbirgt sich kein intellektuelles Weltbild mehr, das auch nur annähernd als diskussionsfähig erachtet werden könnte. Gut hundert Jahre nach ihren großen Vorbildern haben sie sich selbst des Denkens entledigt und betreiben nichts Anderes mehr als das wiederholte Raunen von Parolen, die mäanderhaft ihres Inhalts entleert wurden und zur rein instrumentellen Referenz auf Zerstörung und Vernichtung geworden sind. Identitäre Ideologie hat im Verfall bürgerlicher Öffentlichkeit in radikalster Weise Ernst gemacht mit dem Abgesang auf Intellektualität und Verstand – bei sich selbst.

Neurechte Ideologie der Praxis

Um diese Praxeologie zu verstehen, muss man die „Identitären“ als funktionale Bewegung innerhalb der „Neuen Rechten“ kontextualisieren. Das politische Ziel der „Neuen Rechten“ lässt sich seit ihrer Entstehung in den 1970er Jahren im Wesentlichen mit zwei Schlagworten zusammenfassen: die Intellektualisierung des Rechtsextremismus und die Erringung einer (rechten) „kulturellen Hegemonie“. Beim Begriff der Intellektualisierung mag sich, aus einer gesellschaftskritischen Perspektive, spontan Unbehagen einstellen, weil mit ihm umgangssprachlich ein aufgeklärtes, reflektiertes, selbstkritisches Denken verbunden wird – allesamt Kategorien, die nicht nur im Widerspruch zum Rechtsextremismus stehen, sondern auch von Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten abgelehnt werden. „Intellektualisierung“ kann aber eben auch, in einem wertneutralen Sinn verwandt, meinen, dass die eigenen Positionen formal nachvollziehbar formuliert sein sollen und dass sie in ihrer Bezugnahme auf dritte Referenzen dem Anspruch einer intellektuellen Auseinandersetzung genügen. Dies meint Intellektualisierung auch im Sinne der „Neuen Rechten“: dass die völkischen Positionen, die (auch) von der „Neuen Rechten“ vertreten werden, umfangreich begründet und mit Referenzen aus der Geistes- und Ideengeschichte fundiert werden sollen – dass dieser Anspruch auf Intellektualisierung in der Gegenwart passé ist, ist eine andere Frage. Dabei geht es der „Neuen Rechten“ um „kulturelle Hegemonie“, d.h. sie ist eine lose Bewegung, die politische Macht gerade nicht durch Erringung von parteipolitischer Regierungsverantwortung erreichen will, sondern ihre Positionen gesellschaftlich als hegemonial durchsetzen möchte. Das kann dann auch bedeuten, dass eine Partei ihre Positionen (schleichend) übernimmt, orientiert aber mehr darauf, Einstellungen und Werthaltungen auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene zu beeinflussen.

Die „Neue Rechte“ geht dabei, wie alle Teilsegmente des Rechtsextremismus, von einer Ungleichheit der Menschen aus, die nach wie vor ethnisch, aber nicht mehr explizit rassistisch zu begründen versucht wird und deren Antiuniversalismus nicht wie in der NS-Ideologie in der Vernichtungs-, sondern einer Segmentierungsvorstellung mündet, der konsequenten räumlichen Separierung und geopolitischen Trennung von Menschen nach ethnisch-kulturalistischen Kriterien („Ethnopluralismus“). Diese ethnische Kategorialtrennung basiert auf einem homogenisierenden und soziobiologischen Differenzdenken, in dem einerseits Menschen nur in ihrer ethnisch-kulturellen Identität – und nicht in ihrer Subjektivität – gedacht werden, immer nur als Teil eines (unabänderlichen) Kollektivs, das anderen Kollektiven gegenüber- und entgegensteht, im Sinne einer auch kämpferisch und kriegerisch gedachten Freund-Feind-Dichotomie, die sich mit einem homoerotisch-heroischen Männlichkeitsideal zur „männlichen Nation“ (Kämper 2005) amalgamiert. Im identitären Jargon liest sich das folgendermaßen:


Ein kollektives Merkmal unserer Identität bildet hierbei der ethnokulturelle Aspekt, der für uns den Kern des politischen Handelns darstellt und für dessen Erhalt und Bewahrung wir als Identitäre Bewegung tagtäglich aktiv sind. Wir glauben, dass sich jedes Volk dieser Erde durch seine besondere Verschiedenheit auszeichnet und in seiner Lebensart, seinen Wertvorstellungen, seiner Kultur, Herkunft, Religion und seinen sozialen Praktiken immer etwas Einzigartiges ist. Jedes Volk hat demnach auch das Recht, diese Eigenschaften und Merkmale seiner ethnokulturellen Identität zu bewahren und zu verteidigen. (IBD 2018a)


Thorsten Mense hat mit Blick auf die Identitären hierbei besonders betont, dass deren Vorstellung von „kollektiver Identität“ eine strukturell gewaltförmige und optional auch gewalttätige Dimension umfasst, da sie mit dem „ethnischen Abstammungsglauben“ verbunden wird (Mense 2017, S. 237) – genau jene fiktionale Verbindung bedingt die Aggressivität der identitären Vorstellungen, bei denen sich (völkische) Kollektive im permanenten Kampf befänden und dementsprechend jede Form von Migration, Integration oder gar nur demoskopischer Veränderung vehement abgelehnt und abgewehrt wird. Antisemitismus ist dabei, trotz gelegentlicher formaler Abgrenzungen, auch wesentlicher Bestandteil identitärer Ideologie geblieben (vgl. Rajal 2017) wie auch insgesamt bei der „Neuen Rechten“ (vgl. Salzborn 2017, S. 78ff. u. 101ff.). Die mit der völkischen Identitätsvorstellung und dem Surrogat eines fortgesetzten (Abwehr-)Kampfes verbundene „Endzeitstimmung“, in der man sich in eine wahnhafte Panik vor dem „Großen Austausch“ in Europa fantasiert, rückt die IB ein heteronormativ-patriarchales Gemeinschaftsverständnis in den Mittelpunkt, in dem feministische Emanzipation nicht nur abgelehnt, sondern im Sinne einer völkischen Geschlechtervorstellung bekämpft wird: Gleichheit ist insofern nicht nur mit Blick auf ein universalistisches Menschenbild im Fokus identitärer Feindbilder, sondern auch mit Blick auf Geschlechtergleichberechtigung oder gar Geschlechtergleichheit (vgl. Goetz 2017, S. 255 u. 263ff.).

Das Ziel des (neu)rechten Kampfes um kulturelle Hegemonie ist, die Grenzen des Sagbaren aufzuweichen und die politische Kultur der Bundesrepublik auf diese Weise schleichend nach rechts zu verschieben. Die Positionierungen erfolgen jeweils lautstark und medienwirksam und werden – wenn sie dann als völkisch oder rassistisch kritisiert werden – nicht zurückgenommen, sondern nur relativiert und so im Diskurs gehalten. Es geht darum, möglichst viele Halb- und Unwahrheiten zu streuen, dabei um jeden Preis zu provozieren und das aggressive Gefühl zu schüren, es gebe keine Wahrheit, sondern nur noch „postfaktische“ Emotionen, um so in einem dichten Nebel der Gerüchte das eigene völkische, rassistische und antisemitische Weltbild schleichend zu verankern.

Ein Teil dieses Kampfes um kulturelle Hegemonie sind visuelle Strategien: mit kurzen Parolen die Öffentlichkeit durch einprägsame Bilder zu erobern. Die politische Gruppe, die sich diesen rechten Kampf um die visuelle Realität zum Hauptanliegen gemacht hat, ist eben die „Identitäre Bewegung“. Die Entstehung der IB in Deutschland, wurde – wie schon die „Neue Rechte“ bei ihrer Entstehung in den 1970er Jahren – zentral von den Entwicklungen in Frankreich inspiriert. Die IB in Deutschland entstand im Oktober 2012 zunächst virtuell – auf Facebook. Sie begriff sich als Ableger der französischen Jugendorganisation Génération Identitaire und proklamierte, getreu der neurechten Strategie der Mimikry, eine formale Abgrenzung gegenüber offen nationalsozialistischen Positionen –und auch gegenüber linken Positionen, aber da dies inhaltlich offensichtlich und evident ist, handelt es sich hierbei auch um eine bewusste Strategie der analogisierenden Gleichsetzung, bei der es mit Blick auf die Rezipient(inn)en vor allem darum geht, nicht den Eindruck einer Nähe zum Rechtsextremismus zu erwecken, die inzwischen nicht nur von der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch von vielen Behörden erkannt worden ist.

Gudrun Hentges u. a. (2014) haben in einer systematischen Untersuchung die Aktivitäten der IB untersucht, die diese virtuell und im wirklichen Leben durchgeführt hat. Der Schwerpunkt der „Identitären“ ist das Internet, das heißt von einer wirklichen sozialen Bewegung kann schon allein aufgrund mangelnder Realpolitik nicht gesprochen werden, gleichwohl ist das Internet als Medium für die Agitation von partizipationsfernen Personen, die allerdings grundsätzlich über eine rechte Weltanschauung verfügen, der ideale Ort für die intensivere Einbindung in neurechte Denkweisen. Carina Book hat beschrieben, dass die „Identitären“ sich in ihren Selbstbeschreibungen dabei an einer metapolitischen Strategie orientieren und den Implikaten der „Konservativen Revolution“ folgen wollen, hierfür aber vor allem den virtuellen Raum besetzen und dort den vorpolitischen Kampf führen (vgl. Book 2017, S. 113ff.).

Dabei hat man sich eine visuelle Strategie korrumpierter Trivialisierung zu eigen gemacht, wie die zahlreichen nur für die Bild- oder Videoaufnahme inszenierten Aktionen der Identitären zeigen – deren Strategie aufgeht, sobald über sie visuell in den Medien berichtet wird. Denn ihr einziges Ziel ist die öffentlichkeitswirksame Inszenierung von auf Plakaten und Transparenten formulierten völkischen und antidemokratischen Politikinhalten, die so inszeniert und dargestellt sind, dass virtuell zudem der Eindruck entsteht, eine Handvoll identitärer Aktivist(inn)en sei eine große, machtvolle Masse von Menschen, die filmisch so dargestellt werden, als seien sie eine große Bewegung:

Das Internet ermöglicht mit einem geringeren Organisationsaufwand die Simulation eines kontinuierlichen Protestgeschehens, das überregional – gar transnational und international vernetzt – aufrechtgehalten wird, so dass eine Diskrepanz zwischen den eigentlichen Aktionen ‚auf der Straße‘, die bisweilen von nicht mehr als einem Dutzend Aktivisten durchgeführt werden, und dem virtuellen Echo, das diese Aktionen aufgrund viraler Verbreitung im Internet erfahren, entsteht. (Hentges u. a. 2014, S. 9)

Die IB stellt somit so etwas wie den aktionistischen Arm der Neuen Rechten dar (siehe auch: Blum 2015), der neurechte Themenfelder wie Identitäts- und Heimatpolitik oder Antimigrationsagitation besonders für Jugendliche attraktiv machen soll mit ihrem Primat der Praxis.

Die Ideologie der identitären Heimat

Das Zentrum der völkischen Ideologie der Identitären ist der Fokus auf das soziale Konstrukt Heimat:


Wir brauchen endlich wieder ein gesundes Verhältnis zu Patriotismus und Heimatliebe sowie echte Meinungsfreiheit. Viele Jahre dominierte die politische Linke den Medien- und Kulturbetrieb. Jetzt ist es Zeit, dass eine identitäre Gegenstimme auf die Bühne tritt. Heimatliebe ist kein Verbrechen, sondern etwas völlig Normales. Wir wollen, dass sich jeder offen und ehrlich zu seiner eigenen Kultur und Tradition bekennen kann, ohne dabei Ausgrenzung oder Diskriminierung erfahren zu müssen. (IBD 2018b)


Die identitäre Agitation für den Begriff „Heimat“ als spezifische Sozialkategorie hebt diese von anderen in ihrer historischen Bedeutungsdimension genuin ab und verbindet stets eine integrative Verbindung von geografischem Ort und bevölkerungspolitischer Zuschreibung. Insofern inkorporiert der Heimatbegriff eine strukturell völkische Dimension, da Menschen eine nicht-soziale und damit vorpolitische Verbindung mit einem konkreten Raum zugeschrieben wird, der zugleich nicht das subjektive Zugehörigkeitsgefühl betont, sondern eine kollektive Bindung von Menschengruppen an geografische Orte unterstellt. Dass der neurechte Begriffskampf dabei zu einer erheblichen Anschlussfähigkeit rechtsextremer Positionen geführt hat, zeigt sich daran, dass selbst Teile der Partei Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 2017 meinten, über eine Reaktualisierung des Heimatkonzepts nachdenken zu müssen in dem Irrglauben, der Begriff könne fortschrittlich besetzt werden. Aber auch die Tatsache, dass das Bundesinnenministerium im Frühjahr 2018 um das Aufgabenfeld „Heimat“ ergänzt wurde, verdeutlicht, dass ein rechtes Politikkonzept, für dessen Popularisierung insbesondere die „Identitären“ mit ihren Aktionen gekämpft haben, in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, also ein zentrales neurechtes Anliegen an dieser Stelle erfolgreich war: durch Begriffslancierung die Gesellschaft objektiv nach Rechts zu verschieben.

Die Heimat als „ein in keine andere Sprache übersetzbares deutsches Wort“ (Kohl 1984) ist als politische Parole wie als soziologisches Scheidungskriterium ein bis ins Innerste vergifteter Begriff. Der Begriff der Heimat und das damit verknüpfte Heimatgefühl stehen stellvertretend für das imaginierte kollektive Gedächtnis eines sozialen Zusammenschlusses, der zugleich zwanghaft den aggressiven Willen nach Realisierung des Gefühls in sich birgt. Das Gefühl der Heimat ist nicht eine Empfindung im Sinne eines produktiven Erlebens, sondern der Drang und die Aufforderung nach seiner materiellen Umsetzung außerhalb der Lebensrealität der Individuen oder deren sozialen Gruppen. Wenn Heimatbewusstsein im Gegensatz zu anderen Gefühlen über Generationen hinweg tradierbar ist, wie von rechten Ideologen postuliert, zeigt sich hier der zentrale Unterschied: Ist ein Gefühl wie beispielsweise persönliche Zuneigung an reale zwischenmenschliche Interaktion einerseits und sich im Zuge individueller Entwicklungen stetig wandelnden Wahrnehmungen andererseits geknüpft, so ist das Heimatgefühl gänzlich frei davon, denn es basiert auf der Unterscheidung von vermeintlich Gleichem und Ungleichem. Dabei ist es zwangsläufig vom realen Leben abgekoppelt, denn dieses wiederum besteht aus ständig aufs Neue stattfindenden Erlebnissen und Erfahrungen, die stets sich modifizierende Wahrnehmung und Interpretation erforderlich machen. Heimatgefühl steht allerdings nicht für eine dergestalt Vorurteilen gegenüber sich als resistent erweisende oder von ihnen freie Wahrnehmung, sondern ist in seiner Interaktionslosigkeit auf Identitätsbildung und somit Ab- und Ausgrenzung angelegt: „Heimat ist ein Fantasie- und Wertkonstrukt, mehr Erinnerung, Imagination und Magie als wahrgenommene Gegenwart, mehr Sehnsucht, Hoffnung und Utopie als erfahrene Wirklichkeit und berechenbare Zukunft.“ (Winter 1996, S. 13).

Im Mittelalter sicherte das Heimatrecht dem ansässigen Dorfarmen die Hilfe seiner Gemeinde und stellte somit den Einbezug des (sozial schwachen) Individuums in die personale und genossenschaftliche Ordnung sicher. Es war allgemein üblich, der politischen oder kirchlichen Gemeinde die Verpflichtung aufzuerlegen, alte, arme und gebrechliche Menschen zu unterstützen. Diese konnten sich im Bedarfsfall an die Gemeinde wenden, die durch die Schaffung dieses Unterstützungsverhältnisses zu seiner Heimatgemeinde wurde (vgl. Buy 1974, S. 27). Der Begriff „Heimat“ bezog sich somit auf das menschliche Individuum und hatte dessen Schutz und Integration zum Inhalt. Heimat beschrieb damit den realen und überschaubaren Nahhorizont der Menschen, in dem die zwischenmenschliche Interaktion sich weitgehend im Rahmen des unmittelbaren Verkehrs vollzog. Heimatrecht war ein sozial-ökonomisch motiviertes Recht mit dem Ziel der Übernahme von genossenschaftlicher Verantwortung in diesem gemeinsam von Menschen bewohnten Raum, wobei die Wechselbarkeit der Heimatgemeinde auch zeigt, dass dieser Nahhorizont freilich auch als wechsel- und änderbar angesehen wurde (vgl. Bastian 1995, S. 98ff.). Erst im 18. Jahrhundert wurden die Heimatvorstellungen im deutschen Sprachraum konzeptionell auf den Geburtsort bzw. das Faktum der langen Niederlassung an einem Ort bezogen (vgl. Buy 1974, S. 27). Insbesondere im Rahmen der deutschen Nationswerdung wandelte sich damit der soziale Heimatbegriff in einen kulturellen. Die Heimat galt nun als bestimmbarer und festgefügter geografischer Raum mit regionalen und kulturellen Besonderheiten, als – in den Worten des Volkstumstheoretikers Theodor Veiter (1981, S. 15) – „räumlich eng begrenzte Lebenssphäre“. Hatten bestimmte Momente dieser „heimatlichen Identität“ zuvor einen praktischen Nutzen erfüllt (beispielsweise als Arbeitskleidung, die später zur allein ideologisch sinnstiftenden, aber real nutzlosen Tracht wurde), wandelten sie sich nun zu einer die Vergemeinschaftung und kollektive Identität fördernden Ideologie. In gleichem Maße, wie der reale Nutzen schwand, gewann die sinnstiftende Komponente an Bedeutung. In die historische Begriffsdimension hat sich insofern dieser kulturpolitische Sinn eingeschrieben, der einen „natürlichen“ Zustand der Verknüpfung einer bestimmten Menschengruppe und ihrer „besonderen“ Kultur mit einem fest definierten geografischen Raum unterstellt, also vom individuellen Identitätsangebot (dessen zentraler Kern wie bei jedem Angebot darin besteht, dass man es auch ablehnen kann) zum kollektiven Identitätszwang geworden ist.

Die im Heimatbegriff kulminierende Verknüpfung eines ethnischen Moments kollektiver Prägung mit der kulturschöpfenden Implikation konstituiert somit eine ethno- und raumpolitische Vorstellung, bei der das jeweilige Kollektiv („Volk“, „Nation“, „Volksgruppe“ etc.) zum integrativen und unverzichtbaren Element der entsprechenden Regionen verklärt wurde und dessen kulturbringende Tätigkeit als untrennbar an den jeweiligen Raum gekoppelt erscheinen sollte. Aus der vormodernen Heimat als einem individuellen Raum zum Leben wurde so der völkisch-kollektive Lebensraum, in dem Heimat zur Narration und Fiktion geworden ist. Insofern spiegelt sich in den identitären Heimatvorstellungen, wie Judith Goetz und Alexander Winkler (2017, S. 63) sagen, insbesondere ein „Bedürfnis nach Grenzziehung und damit verbundenem Ausschluss“ wider, zugleich aber auch „das Verlangen nach Herstellung von Eindeutigkeit durch Unterordnung in ein harmonisches, wärmendes Kollektiv“.

Die rechte Heimatideologie greift insofern auf eine über Jahrhunderte hinweg konstruierte, partikularistisch orientierte Geschichte und Gesinnung als Grundlage zurück. Volk und Territorium gehören in diesem Sinne unmittelbar zusammen. Dieser Partikularismus geht davon aus, dass es Völker und Volksgruppen gibt, die erstens völkisch und damit „rassisch“ oder kulturell bestimmt über eine gemeinsame Identität verfügen (in Wahrheit stellt er diese her, denn ethnisch definierte Gruppen sprechen sich selbst ihre kollektive Identität zu, sind folglich also imaginierte Konstrukte); die zweitens in einer Jahrhunderte langen und damit als natürlich und unabänderbar betrachteten Tradition und Geschichte stehen; die drittens schützens- oder wiederbelebenswert sind und viertens in der Ausübung ihres so verstandenen Rechtes auf Selbstbestimmung und ihres – nun völkisch-kollektiv und antidemokratisch verstandenen – Heimatrechtes behindert werden. Das rechte Heimatparadigma setzt die historische Anti-Versailles-Ideologie der „Konservativen Revolution“ in einer Anti-Potsdam-Ideologie des europäischen Nachkriegsrechtsextremismus fort: als revisionistischer und geopolitischer Wille zur Zerstörung einer demokratischen Ordnung Europas, die völkerrechtlich mit dem Potsdamer Abkommen unter einem antinazistischen Primat entstanden war. Damit steht das rechte Heimatparadigma nicht nur im Widerspruch zu modernen Migrationsbewegungen, sondern opponiert auch gegen zentrale völkerrechtliche Grundlagen Europas.

 

 

 

Literatur

Bastian, Andrea (1995): Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, Niemeyer-Verlag: Tübingen.

Book, Carina (2017): Mit Metapolitik zur ‚Konservativen Revolution‘? Über Umfeld und Strategie der ‚Identitären Bewegung‘ in Deutschland, In: Goetz, Judith/Sedlacek, Joseph M./Winkler, Alexander [Hrsg.]: Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen ‚Identitären‘, Marta Press: Hamburg, S. 113 –131.

Buy, Frans H. E. W. du (1974): Das Recht auf die Heimat im historisch-politischen Prozeß, VZD-Verlag für zeitgenöss. Dokumentation: Euskirchen.

Goetz, Judith (2017): „Aber wir haben die wahre Natur der Geschlechter erkannt …“. Geschlechterpolitiken, Antifeminismus und Homofeindlichkeit im Denken der ‚Identitären‘, In: Goetz, Judith/Sedlacek, Joseph M./Winkler, Alexander [Hrsg.]: Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen ‚Identitären‘, Marta Press: Hamburg, S. 253 – 284.

Goetz, Judith/Winkler, Alexander (2017): „Identitäre Grenzziehungen“ – Bedeutung und Funktion von Identitätsangeboten im modernisierten Rechtsextremismus (am Beispiel der Identitären), In: Psychologie & Gesellschaftskritik 41, Heft 3/4, S. 63 – 86.

Goetz, Judith/Sedlacek, Joseph M./Winkler, Alexander [Hrsg.] (2017): Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen ‚Identitären‘, Marta Press: Hamburg.

IBD/Identitäre Bewegung Deutschland (2018a):

 Was heißt für euch eigentlich „Identität“?. Online: www.identitaere-bewegung.de/category/faq/ [14.02.2018].

IBD/Identitäre Bewegung Deutschland (2018b):

 Verteidigung des Eigenen. Online: www.identitaere-bewegung.de/category/politische-forderungen/ [14.02.2018].

Kohl, Helmut (1984): Rede beim „Tag der Heimat“ 1984, zit. n. Hermann L. Gremliza: Gremliza’s Express, In: konkret, Heft 10.

Mense, Thorsten (2017): „Jugendliche ohne Migrationshintergrund“. Ethnische Identität und völkischer Nationalismus bei den ‚Identitären‘, In: Goetz, Judith/Sedlacek, Joseph M./Winkler, Alexander [Hrsg.]: Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen ‚Identitären‘, Marta Press: Hamburg, S. 227 – 251.

Rajal, Elke (2017): Offen, codiert, strukturell. Antisemitismus bei den ‚Identitären‘, In: Goetz, Judith/Sedlacek, Joseph M./Winkler, Alexander [Hrsg.]: Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen ‚Identitären‘, Marta Press: Hamburg, S. 309 – 349.

Salzborn, Samuel (2017): Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten, Beltz Juventa: Weinheim.

Sellner, Martin/Spatz, Walter (2015): Gelassen in den Widerstand. Ein Gespräch über Heidegger, Antaios Verlag: Schnellroda.

Veiter, Theodor (1981): Sprache als Heimat, In: ders. [Hrsg.]: Volk und Volkstum im Donauraum. Festgabe für Prof. Dr. Franz H. Riedl zum 75. Lebensjahr, Braumüller-Verlag: Wien.

Winter, Gerhard (1996): Heimat, was ist das? In: Berg, Wolfgang/Göllner-Scholz, Antje/ Orlovius-Wessely, Anita [Hrsg.]:Identität und Heimat – interkulturelle Zugänge, SSIP-Verlag: Hilden.