Warum ist das so wichtig? Veränderungen in unserer Gesellschaft stellen eine Herausforderung für ein demokratisches Miteinander dar. Insbesondere in ländlichen Regionen fühlen sich offenbar immer mehr Menschen abgehängt, allein gelassen, nicht beachtet. Teilhabe und Sicherheit scheinen nicht mehr allerorts gewährleistet. Es besteht zunehmend weniger Vertrauen in staatliche Vorsorge, Sozialbindungen werden brüchiger. Das findet seinen Ausdruck auch in radikaleren politischen Ansichten. Tatsächlich verbuchen rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien überdurchschnittliche Stimmenanteile in jenen Regionen, in denen Wirtschaftskraft und Einkommensniveau eher niedrig sind, wo Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge immer stärker infrage stehen. Auf die Frage nach den Ursachen rechtsextremer und fremdenfeindlicher Einstellungen gibt es meines Erachtens aber keine einfachen Antworten. Rechtspopulistische Bewegungen und Parteien sind eben nicht nur an den gesellschaftlichen Rändern zu verorten, sondern agieren umso erfolgreicher, je ländlicher und „abgehängter“ die Region empfunden wird. Wir haben offensichtlich ein Demokratieproblem. Rund 70 % der Thüringerinnen und Thüringer, so die Befunde des aktuellen Thüringen-Monitors 2018, sind der Auffassung, dass die Interessen und Meinungen der Bevölkerung in der bestehenden Demokratie keine Rolle mehr spielen. Es stimmt nachdenklich, dass mit der Normalisierung rechtspopulistischer, fremdenfeindlicher Äußerungen die Aggressionen gegenüber Andersdenkenden und ethnischen Minderheiten zunehmen. Pauschale Ablehnungen von Anderslebenden und Migrant*innen sind verstärkt in den ländlichen Regionen verbreitet, wo die Lebensqualität mehr denn je vom Engagement der Menschen vor Ort abhängt.
Doch trifft diese Perspektive auf den ländlichen Raum zu? Aus meiner Tätigkeit als Ministerin weiß ich: Der viel diskutierte ländliche Raum ist in der Realität so vielfältig wie unterschiedlich. Natürlich herrscht nicht überall Perspektivlosigkeit, Leerstand, Rückständigkeit, ein rechtsextremes Umfeld. Trotzdem scheint es schwierig, solchen Fremd- und Selbstzuschreibungen im Alltag etwas entgegenzusetzen. Gegenteilige Erfahrungen – etwa erfolgreiche wirtschaftliche Unternehmungen, eine hohe Lebensqualität in vielen Städten und Dörfern, gelebte soziale Nähe – zeichnen ein ermutigendes Bild. Aktuelle Romane wie „Unterleuten“ von Juli Zeh oder „Mittagsstunde“ von Dörte Hansen thematisieren das Landleben von heute, ohne es zu idealisieren. Diese Perspektive wird durch den Umstand gestützt, dass die Thüringerinnen und Thüringer sehr heimat- und ortsverbunden sind. Eine starke regionale Identifikation, das soziale Umfeld, aber auch biografische Prägungen motivieren Menschen zum Bleiben und Wiederkommen. Das ist eine Chance für den ländlichen Raum. Die Zukunft des Dorfes, der Klein- und Mittelstädte entscheidet sich vor allem durch die Arbeit der Kommunen und das Mitwirken ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die Dörfer, die Städte, die Landkreise sind Keimzellen der Demokratie. Jedes Dorf, jede Kleinstadt ist ein Unikat für sich – mit eigenen Potenzialen, aber auch mit eigenen Defiziten und Problemen. Es gilt vor Ort, Ansätze zu entwickeln, um Rechtspopulismus und der Hoheit einfacher Antworten an den Stammtischen entschieden zu begegnen. Wichtiger denn je sind dabei intakte öffentliche Räume, in denen man sich austauschen und um die Zukunft streiten kann.
Der vorliegende Band der Schriftenreihe „Wissen schafft Demokratie“ widmet sich aufschlussreich Fragen der stärkeren Engagement- und Demokratieförderung aus unterschiedlichen Perspektiven. Staatliche wie zivilgesellschaftliche Kräfte sind hier in der Pflicht. Wir müssen Demokratie und Prävention wieder stärker in den Blick nehmen. Neben der Ursachenforschung für Demokratiedefizite gehen einzelne Beiträge den Fragen nach: Was kann eine Zivilgesellschaft dem entgegenstellen? Wie lässt sich bürgerschaftliches Engagement konkret unterstützen und stärken? Wie funktioniert letztlich ein solidarisches Miteinander vor Ort? Die Regionen, die Städte, die Dörfer müssen dafür ihren eigenen Weg finden. Die Internationale Bauausstellung in Thüringen, Bundesförderprogramme wie das MORO-Aktionsprogramm oder die Modellvorhaben „Neulandgewinner“ und „MUT-Interventionen“ zeigen viele neue Wege von Beteiligung und Engagement auf. Für die Aushandlung der vielfältigen Interessen und Perspektiven braucht es neue Formen des Dialogs, der Anerkennung, wie auch Geduld im Aushalten von Meinungsverschiedenheiten. Das kann erlernt werden, denn Politik ist Freiheit. Dafür braucht es, nach Hannah Arendt, Mut. Dafür braucht es Menschen, die diesen Mut haben und die wir nach Kräften unterstützen und anerkennen. Jeden Tag.
Anja Siegesmund
Thüringer Ministerin für Umwelt, Energie und Naturschutz des Freistaates Thüringen