Zurecht wurde die Arbeit des I. und II. NSU-Untersuchungsausschusses in Thüringen sowie die sehr detaillierten Abschlussberichte oft gelobt – ursächlich dafür waren mehrere Komponenten. Die gemeinsame und einstimmige Einsetzung des I. Untersuchungsausschusses durch alle Fraktionen und ein weit gefasster Untersuchungsauftrag bildeten den Rahmen, dem sich alle Mitglieder und Mitarbeiter*innen verpflichtet fühlten. Der Ausschuss arbeitete weitgehend abseits von parteipolitischen Interessen und verfolgte über mehrere Jahre das gemeinsame Ziel, ein Maximum an möglicher Aufklärung zu erreichen. Dabei scheuten sich die Mitglieder nicht, in Konfrontation zu Ministerien oder Zeug*innen zu gehen, unliebsame Fragen zu stellen und mit einer intensiven Aktenrecherche und Vorbereitung wichtige Komplexe darzustellen und öffentlich zu machen.
Die (wahrscheinlich) komplette Einsicht in Akten des Thüringer Verfassungsschutzes, aber auch in entsprechende Akten der Polizei, der Justiz sowie der dazugehörigen Ministerien und Gremien ermöglichte den Abgeordneten, sich ein umfassendes Bild sowohl über die Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden als auch den jeweiligen Kenntnisstand von Polizei und Verfassungsschutz zum Themenbereich Rechtsextremismus zu machen. Darüber hinaus wurden weitere Dokumente und Unterlagen genutzt, z. B. antifaschistische Recherchen vom apabiz und a.i.d.a., dem Antifainfoblatt, DER RECHTE RAND, LOTTA, sowie diverse Veröffentlichungen antifaschistischer Gruppen und investigativer Journalist*innen. Insbesondere der I. Untersuchungsausschuss Thüringens leistete einen wichtigen Beitrag, den zentralen Aspekt des NSU-Komplexes zu schreiben und mitzuprägen: die staatliche Mitverantwortung für den Rechtsterrorismus der 1990er und 2000er Jahre.
Schon mit Beginn der Arbeit im II. Untersuchungsausschuss (2015–2019) des Thüringer Landtags zeigte sich, dass das veränderte gesellschaftliche Klima, aber auch die öffentliche und mediale „Sättigung“ des Interesses an einer vollständigen Aufklärung im NSU-Komplex durch den NSU-Prozess in München und die Vielzahl der zeitweise sechs gleichzeitig laufenden Untersuchungsausschüsse ein komplett anderes Umfeld für die parlamentarische Arbeit in Thüringen bedeutete. Als schwierig für die mediale Berichterstattung als auch interessierte Öffentlichkeit erwies sich zudem die immer detailreichere Arbeit des II. Untersuchungsausschusses, die es fast unmöglich machte, ohne Vorkenntnisse dem Sitzungsverlauf zu folgen. Der II. Thüringer Untersuchungsausschuss sollte vor allem mehrere Kernthemen bearbeiten:
- die Ereignisse rund um den 4. November 2011 und die folgenden Tage in Eisenach, also die Tage der Selbstenttarnung des NSU
- die Verbindungen zwischen Organisierter Kriminalität und Neonazis in Thüringen
- das den NSU unterstützende Netzwerk
- den Mordfall an der aus Thüringen stammenden Polizistin Michèle Kiesewetter
Dem Thüringer Untersuchungsausschuss gelang es, die rund um den 4. November 2011 kursierenden Verschwörungstheorien auszuräumen. Ebenso konnten Verbindungen zwischen Neonazis und Organisierter Kriminalität, welche bis in den NSU-Komplex hineinreichen, nachgewiesen werden – auch wenn sich das SPD-geführte Innenministerium bis zuletzt der Herausgabe von VP-Akten (Vertrauenspersonen) der Polizei verweigerte und somit ein relevanter Aufgabenbereich weder bearbeitet noch erfüllt werden konnte. Aufgrund der Länderzuständigkeit stieß der Untersuchungsausschuss insbesondere bei dem Versuch der weiteren Aufklärung des Mordfalls Kiesewetter an seine Grenzen. Die im Abschlussbericht festgehaltene Faktenlage und folgende Wertung des UA zum Netzwerk des NSU fordert eine weitere Aufklärung, welche jedoch ein Landesuntersuchungsausschuss nicht zu leisten vermag, da sowohl Aktenbeiziehung als auch Zeugenanhörungen Grenzen gesetzt sind. So heißt es im Abschlussbericht zum Netzwerk:
Die Vereinigungskonstruktion, wie sie vom OLG München im mündlich gesprochenen Urteil vom 11. Juli 2018 festgestellt wurde, teilt der Thüringer Untersuchungsausschuss nicht. Die den Abgeordneten vorliegenden Akten, Zeugenaussagen und Recherchematerialien lassen nur den Schluss zu, dass das Unterstützernetzwerk des NSU mindestens mehrere Dutzend Personen umfasste oder auch heute noch umfasst. Das Unterstützernetzwerk des NSU besteht nach Auffassung des Untersuchungsausschusses aus Personen, die wissentlich oder unwissentlich durch Handeln oder Unterlassen zum ‚Gelingen‘ des NSU – sei es das Untertauchen und Verbergen, sei es Logistik und Abtarnung, Vorbereitung und Durchführung von Taten – beigetragen oder einen solchen Beitrag billigend in Kauf genommen haben. Als relevant betrachtet der Untersuchungsausschuss ebenfalls auch diejenigen Neonazis und Strukturen, die den ‚Nationalsozialistischen Untergrund‘ ideologisch bildeten und beförderten, sowie Handlungsanreize zur Legitimation der Taten setzten.
Zusammenfassend stellte der II. Thüringer Untersuchungsausschuss fest, dass, wenn alle den Sicherheitsbehörden (nicht nur in Thüringen) bereits 1998 und 1999 vorliegenden Informationen zum untergetauchten Kerntrio richtig ausgewertet, analysiert und bei der Zielfahndung zusammengefasst worden wären, die rassistische Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrund durch Auffinden von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hätte verhindert werden können.
Sowohl der rechtsterroristisch motivierte Mord an Walter Lübcke in Kassel als auch die seit Jahren anhaltenden positiven Bezugnahmen auf den NSU in der extrem rechten Szene belegen die richtige Einschätzung des NSU-Untersuchungsausschusses, wonach der NSU und dessen Taten nicht als historisch abgeschlossenes Ereignis betrachtet werden können, sondern die Verbindung in heutige gesellschaftliche Realitäten gezogen werden muss. Ebenso richtig ist die Schlussfolgerung des Untersuchungsausschusses, dass eine bedingungslose Aufklärung des NSU-Komplexes Maßstab einer Gesellschaft sein muss, die kü nftig derartige Taten verhindern will. Um dem gerecht zu werden, wurde durch den Thüringer Landtag mit den Stimmen der rot-rot-grünen Koalition beschlossen, alle Akten der Thüringer Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex in ein Archiv zu überführen, um diese für eine weitere wissenschaftliche, juristische oder zivilgesellschaftliche Aufklärung zu sichern. Dies ist auch dem Fakt geschuldet, dass beide Thüringer Untersuchungsausschüsse in ihren Ergebnissen nicht alle Aufträge erfüllen und noch weniger die Fragen der Opferangehörigen beantworten konnten.
Angesichts der bereits im I. Untersuchungsausschuss festgestellten Verantwortung Thüringer Sicherheitsbehörden im NSU-Komplex („Anfangsverdacht gezielter Sabotage“ bezüglich des Auffindens von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe) beschlossen ebenfalls die Fraktionen DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Errichtung eines Opferentschädigungsfonds, welcher mit 1,5 Millionen Euro ausgestattet wurde. Ebenso wurde auf Landesebene die Errichtung einer Thüringer Stätte der Erinnerung und Mahnung beschlossen, um sowohl ein angemessenes Gedenken an die Opfer des NSU-Terrors in Thüringen zu ermöglichen als auch dazu anzuregen, die in Hass und Rassismus gründenden Ursachen dieser Verbrechen zu reflektieren, um daraus Verantwortung in der Gegenwart zu übernehmen und für die Zukunft zu mahnen. An deren konkreter Ausgestaltung sollen die Angehörigen der Mordopfer des NSU und die Verletzten der Sprengstoffanschläge beteiligt werden. Die massive Kritik und Hetze gegen beide Entscheidungen aus den Reihen der CDU und AfD spiegelten dabei die gesellschaftliche Veränderung seit der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 und den politischen Rechtsruck wieder.
Stellten die beiden Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex Vorreiter in der Aufklärung dar, war in Thüringen über mehrere Jahre insbesondere Ignoranz und Verdrängung im Umgang mit dem NSU-Komplex festzustellen. Mit dem NSU-Komplex und der notwendigen Einnahme der Opferperspektive beschäftigten sich vor allem zivilgesellschaftliche Gruppen in Thüringer Städten. Die Wirkung in die jeweiligen Stadtgesellschaften hinein ist in den meisten Fällen als gering zu bezeichnen. Eine notwendige gesellschaftliche Aufarbeitung und Beschäftigung mit dem NSU-Komplex fand in den vergangenen Jahren in Thüringen kaum statt.
Angesichts des fortschreitenden Rechtsrucks, des sich ausbreitenden Rassismus und Antisemitismus ist es drängender denn je, eine bedingungslose Aufklärung und Aufarbeitung des NSU-Komplexes zu fordern und gleichzeitig Zustände in der Gesellschaft zu bekämpfen, die derartige Taten ermöglichen und begünstigen. Der Thüringer Untersuchungsausschuss schließt in seinem Vorwort zum Abschlussbericht mit den Worten:
Den vielen, die sich seit Jahren gegen fortschreitende rassistische, antisemitische, neonazistische Positionen und Handlungen auf unterschiedlichsten Ebenen engagieren und sich für eine unteilbare Gesellschaft einsetzen, danken wir für ihr Handeln. Wir hoffen auf eine gerechte Verurteilung aller Täter und aller weiteren Personen, die wissentlich und willentlich zu den Taten des NSU beigetragen oder sie ermöglicht haben. Wir setzen uns dafür ein, dass im Freistaat Thüringen alle Anstrengungen unternommen werden, um die Verbrechen des NSU und die Tatbeiträge ihrer Unterstützer und Gehilfen aufzuklären. Es müssen alle notwendigen und rechtsstaatlichen Mittel ergriffen werden, um eine Wiederholung auszuschließen. Die Aufklärung ist nicht abgeschlossen — wir ziehen keinen Schlussstrich!
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Katharina König-Preuss
Abgeordnete des Thüringer Landtags