Während sich die DDR ihrer historischen Verantwortung mithilfe des antifaschistischen Gründungsmythos entledigte, wurde die bundesdeutsche Aufarbeitung des Nationalsozialismus, zumindest wie sie sich seit den 1970er Jahren gestaltete, lange Zeit als vorbildlich gerühmt. Historiker*innen und Sozialwissenschaftler*innen haben bereits früh die fundamentalen Versäumnisse der deutsch-deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ aufgezeigt. Doch erst kürzlich wurde in größerem Umfang damit begonnen, die „Erfolgsgeschichte“ zu hinterfragen (Frei et al 2019; Salzborn 2020). Dabei wird ersichtlich: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Abwehr der nationalsozialistischen Vergangenheit, der gegenwärtigen Nivellierung und Bagatellisierung von rechter Gewalt und dem heutigen wieder erstarkenden Nationalismus, Rechtsradikalismus und Antisemitismus. Statt auf historische Zäsuren und Brüche nach 1945 verweisen viele Autor*innen auf lange gesellschaftliche und politische Traditionslinien.
Diesem grundsätzlichen Befund geht auch der vorliegende Band der „Wissen schafft Demokratie“ mit dem Schwerpunkt Kontinuitäten nach. Die Beiträge zeigen in einem breit angelegten Spektrum, dass gegenwärtiges rechtsradikales, rassistisches, antisemitisches, antiziganistisches, frauen- und homosexuellenfeindliches Denken und Handeln keine grundlegend neuen Phänomene sind. Vielmehr wurzeln sie in einer langen Geschichte rechter Ideologien und menschenfeindlicher Ressentiments in Deutschland, die dem Nationalsozialismus vorausgingen, ihn überdauerten und bis heute in unterschiedlicher Form fortwirken.
Die gegenwärtige Demokratie in Deutschland kann und darf sich der schmerzhaften Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und den Versäumnissen ihrer Aufarbeitung nicht entziehen.Nur eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den antidemokratischen, rassistischen und antisemitischen Ideologien der Vergangenheit ermöglicht es, deren Kontinuitäten und Nachwirkungen in der Gegenwart zu erkennen und zu bekämpfen.
Das Buch untersucht in fünf themenbezogenen Abschnitten die Tradierung menschenverachtender Einstellungen und Praktiken. Im zweiten Teil des Buches stehen Antifeminismus und Antisemitismus im Mittelpunkt der Betrachtung. Vincent Streichhahn arbeitet in seinem Beitrag die lange Geschichte der antifeministischen Bewegungen in Deutschland heraus, die sich bis ins Kaiserreich zurückverfolgen lässt. Er argumentiert: Der aktuelle „Anti-Genderismus“, der u. a. von der AfD und anderen (neu-)rechten Gruppierungen vertreten wird, stellt die modernisierte Variante eines tradierten Antifeminismus dar. Dass Antifeminismus und Antisemitismus historisch wie gegenwärtig oft ineinander verschränkt auftreten, zeigt Melanie Hermann. Am Beispiel der rechtsextremen Verschwörungsideologie des „Großen Austauschs“ sowie von digitalen Männerbünden wie den „Incels“ untersucht die Autorin die Differenzen und Gemeinsamkeiten der beiden „antimodernen“ Ideologien. Monty Ott geht in seinem Beitrag der Verdrängung von homosexuelln und queeren Juden und Jüdinnen in der deutschen Erinnerungskultur nach – und damit der Verdrängung der Vielfalt jüdischen Lebens. Er arbeitet heraus, dass queere Juden und Jüdinnen mit dem stereotypen Bild des passiven Opfers brechen und damit eine bestimmte Form der nationalen Identitätskonstruktion stören. Anja Thiele analysiert die Erscheinungsformen des Antisemitismus in der DDR und verdeutlicht: Antisemitische Ressentiments speisten sich nicht nur aus der ideologischen Nähe des Marxismus-Leninismus und des Antiimperialismus zu antisemitischen Denkstrukturen, sondern auch aus nicht aufgearbeiteten antisemitischen Einstellungen aus der Zeit des Nationalsozialismus.
Der dritte Teil widmet sich dem Fortwirken von antiziganistischen und rassistischen Einstellungen in Deutschland. Laura Hankeln belegt in ihrem Beitrag das Fortwirken von Antiziganismus, also der Diskriminierung und Verfolgung von Sint*ezze und Rom*nja, auch nach dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland. Am Beispiel der Debatte um eine „Landfahrerordnung“ in Baden-Württemberg in den 1950er Jahren zeigt sie auf, dass antiziganistische Vorurteilsstrukturen auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene in der Nachkriegszeit weiterhin handlungsleitend blieben. Katharina Lenski untersucht parallel dazu den Umgang mit Sint*ezze und Rom*nja in der DDR und kommt zu dem Schluss, dass auch dieser von fortgesetzter Ausgrenzung und Stigmatisierung gekennzeichnet war. Auf Basis von Archivrecherchen rekonstruiert sie die Nachkriegsbiografien zweier Betroffener in der DDR und zeichnet die vielfachen Formen institutioneller Diskriminierung der als „asozial“ Gebrandmarkten, aber auch Formen von Selbstbehauptung und Widerstand auf. Ellen Kollender und Veronika Kourabas zeigen in ihrem Beitrag am Beispiel der bundesdeutschen „Gastarbeit“ auf, dass Migrant*innen nur dann befürwortet wurden, wenn diese einen wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Mehrwert versprachen. Die rassistischen Ein- und Ausschlüsse von Migrant*innen werden dabei als konstitutives Element vorherrschender ökonomistischer Logiken markiert. Äquivalent dazu betrachtet Carsta Langner rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt gegenüber sogenannten Vertragsarbeiter*innen in der späten DDR. In der Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Studien zu rassistischen und nationalistischen Einstellungen Jugendlicher, die in der DDR durchgeführt wurden, diskutiert die Autorin, ob von der Kontinuität eines „ostdeutschen Rechtsradikalismus“ gesprochen werden kann. Einem bisher kaum beleuchteten Kapitel des Rassismus in Deutschland widmet sich Viviann Moana Wilmot. Am aktuellen Beispiel der thüringischen Kleinstadt Eisenberg diskutiert sie die Verwendung des rassistischen Begriffes „Mohr“ vor dem Hintergrund postkolonialer Theorie. Die Geschichte des Begriffs zeigt, dass ihm rassistische Unterdrückungsmechanismen aus der Zeit des Kolonialismus eingeschrieben sind.
Daran anknüpfend werden im vierten Teil die Kontinuitäten rechtsradikaler Ideologie und rechter Gewalt in den Blick genommen und verstärkt rechtsradikale Akteur*innen fokussiert. Franka Maubach blickt aus einer zeithistorischen Perspektive auf die Mobilisierungswellen rechter Einstellungen und Gewaltpotenziale in breiteren Bevölkerungsschichten. Der Beitrag plädiert für eine zeitgeschichtliche Kontextualisierung der Konjunkturen rechter Mobilisierung, um gegenwärtige Mobilisierungsschübe präziser einordnen zu können. Matthias Adorf und Franziska Schestak-Haase von ezra untersuchen aus Perspektive einer fachspezifischen Opferberatung die Kontinuität rechter Gewalt in Thüringen. Am Beispiel zweier Todesfälle in Thüringen, die seit 1990 aus mutmaßlich rechtsextremen Motiven begangen wurden, problematisieren sie die sekundäre Viktimisierung der Betroffenen durch Polizei und Justiz. Zur Perspektivenerweiterung trägt der Beitrag von Matthias Falter bei, der sich Österreich als drittem Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“ widmet. Angesichts der gegenwärtigen Hegemonie rechtskonservativer Politik werden aktuelle Konstellationen von Antisemitismus und Rassismus in der österreichischen Gesellschaft dargestellt.
Der fünfte Teil widmet sich expliziten Versäumnissen in der Vergangenheitsaufarbeitung und analysiert kritisch die Geschichtspolitik. Benjamin Bauer erörtert die ideologischen Kontinuitätslinien nationalsozialistischer Praxis gegen sogenannte Asoziale in der Nachkriegszeit. Er legt anhand der Debatten um eine Weiternutzung des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau als Umerziehungslager für „asoziale Elemente“ bis in die 1950er Jahre dar, wie hegemonial die Ablehnung von vermeintlich „Arbeitsscheuen“ in der bayerischen Politik und Gesellschaft verbreitet war. Rebecca Schwoch blickt auf die lange Geschichte der Schuld- und Erinnerungsabwehr im Bereich der Medizin. Weil die Mehrheit der deutschen Ärzt*innen vom Nationalsozialismus profitierte und etliche Ärzt*innen in „rassenhygienische“ Verbrechen und menschenverachtende Experimente involviert waren, wurde eine Auseinandersetzung damit in der Ärzt*innenschaft viele Jahrzehnte erschwert oder gar verweigert. Sarah Schulz widmet sich aus rechts- und politikwissenschaftlicher Perspektive der Etablierung des Konzepts der „wehrhaften Demokratie“. Die ideengeschichtliche Genese der „Wertegebundenheit“, ein zentraler Pfeiler des bundesdeutschen Demokratieschutzkonzepts, zeigt, dass diese in ideeller und personeller Kontinuität des Nationalsozialismus steht. Martin Jander geht der Frage nach, wie und von welchen Seiten das Selbstverständnis der wiedervereinigten Bundesrepublik seit 1989/90 als Nachfolgestaat des Nationalsozialismus einerseits und als multiethnisches Einwanderungsland andererseits angegriffen wird. Der Beitrag zeigt die Versäumnisse und regressiven Tendenzen konservativer, sozialdemokratischer und linker Erinnerungspolitiken auf und beschreibt die Bundesrepublik daher als „unvollendete Republik“. Im letzten Beitrag bietet die Ausgabe einen Einblick in die praktische Relevanz und Vermittlung des Themas Kontinuitäten. Eva Berendsen und Robin Koss von der Bildungsstätte Anne Frank führen in einem virtuellen Rundgang durch die Ausstellung „Anderen wurde es schwindelig. 1989/90 – Schwarz, Jüdisch, Migrantisch“, die sich aus Perspektive jüdischer, schwarzer und migrantischer Personen mit dem deutsch-deutschen Vereinigungsprozess auseinandersetzt. Deren Erfahrungen machen sichtbar: Rassismus und Antisemitismus waren konstitutive Bestandteile dieses Prozesses und stellen damit gängige Wende-Narrative infrage.
Literatur
Frei, Norbert/Maubach, Franka/Morina, Christina/Tändler, Maik (2019): Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus. Ullstein: Berlin.
Salzborn, Samuel (2020): Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Hentrich & Hentrich: Berlin/Leipzig.