Lehrkräfte und Schüler*innen im Fokus einer antisemitismussensiblen Bildungsarbeit

Im vorliegenden Beitrag wird Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen im Kontext Schule diskutiert. Neben der Betrachtung der Vorstellungen sowie der Ressentiments von Schüler*innen zu Antisemitismus und zum Judentum legen wir den Fokus auf Lehrkräfte und ihre Wahrnehmungen zu diesem Problemgegenstand. Der Fokus des Beitrags richtet sich auf die sekundären und antiisraelischen Erscheinungsformen von Antisemitismus, welche nach aktuellem empirischen Stand die gesellschaftlich prävalentesten Erscheinungsformen sind. Abschließend diskutieren wir Implikationen für eine antisemitismussensible Bildungsarbeit, die ihren Blick nicht nur auf Schüler*innen verengt, sondern Lehrkräfte als Schlüsselpersonen mitdenkt.

 

Im Zuge der aktuellen Coronavirus-Pandemie haben antisemitische Ressentiments erneut Hochkonjunktur. Bei Demonstrationen gegen die Corona-Beschränkungen werden altbekannte Ressentiments in den neuen Kontext eingebettet und die Verantwortung für die Pandemie bei „den Zionisten“, „den Rothschilds“ und nicht zuletzt bei dem jüdischen Investor George Soros gesucht. Auch Personen des öffentlichen Lebens, zum Beispiel Musiker*innen und Künstler*innen wie R&B-Sänger Xavier Naidoo und Rapper B-Lash, die bei vielen Jugendlichen ein hohes Ansehen genießen, helfen vor allem über soziale Medien aktiv dabei mit, das antisemitische Narrativ der einflussreichen, weltverschwörerischen Juden und Jüdinnen als Verantwortliche und Schuldige der gegenwärtigen Krisensituation zu verbreiten. Einfache Erklärungen und die gezielte Vermischung von antisemitischen Ressentiments mit Falschinformationen in Nachrichtenkanälen, in denen sich die Informationen rasant und ohne Faktenprüfung ausbreiten, stellen nicht zuletzt auch Schulen vor neue Herausforderungen der Antisemitismusprävention und -intervention. 

Seit Jahren weisen Expert*innen darauf hin, dass Antisemitismus kein gruppenspezifisches Phänomen ist, sondern gesamtgesellschaftlich weit verbreitet ist. Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus fasste 2017 die Ergebnisse der größten repräsentativen Meinungsumfragen im Bereich Antisemitismus zusammen und attestiert etwa 26 % der Deutschen latente oder manifeste sekundär-antisemitische Einstellungen, die sich in Bezug auf die deutsche Erinnerungskultur in der „mehr oder weniger explizit[en] Forderung nach einem Schlussstrich“ (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 63) zeigen. Noch höher ist die gesamtgesellschaftliche Zustimmung bei israelbezogenem Antisemitismus, der charakteristischerweise von einem jüdischen Kollektiv ausgeht, das für die Politik Israels verantwortlich gemacht wird. Der Expertenkreis geht davon aus, dass 40 % der Deutschen antiisraelische Ressentiments vertreten (ebd.).

Im vorliegenden Beitrag wird Antisemitismus als Problem in Bezug auf den Lebensraum Schule diskutiert. Dabei blicken wir nicht nur auf die Schüler*innen, sondern wollen auch die Vorstellungen von Antisemitismus bei Lehrkräften mit einbeziehen, um Möglichkeiten einer antisemitismussensiblen Bildung in der Schule ganzheitlich zu diskutieren. Unser Fokus liegt auf der Betrachtung von sekundären und antiisraelischen Erscheinungsformen von Antisemitismus, welche nach aktuellem empirischen Stand die gesellschaftlich prävalentesten Erscheinungsformen sind. Im Folgenden betrachten wir diese Phänomene zunächst mit Blick auf die Schüler*innen, bevor wir uns den Lehrkräften zuwenden, um im Anschluss daran Implikationen für die schulische Bearbeitung des Themas zu diskutieren. Dabei möchten wir verdeutlichen, dass sich antisemitismussensible Bildung und antisemitismussensible Bildungskonzepte nicht auf die Schüler*innen verengen dürfen, sondern auch Lehrkräfte einbeziehen müssen.
 

Antisemitische Fragmente bei Schüler*innen

Studien der vergangenen Jahre weisen darauf hin, dass Jugendliche häufig über wenig Wissen in Bezug auf das Judentum und aktuellen Antisemitismus verfügen, aber zugleich häufig antisemitisch aufgeladene Vorurteile gegenüber Juden und Jüdinnen reproduzieren.

Eine Studie, die der Frage nachging, über welche Prä-Konzepte zu Judentum und Antisemitismus Jugendliche verfügen, ist die Studie „Ich habe nichts gegen Juden, aber ...“ von Scherr und Schäuble (2006). In der Studie wird offengelegt, dass die Wahrnehmung jüdischen Lebens in Deutschland häufig deutlich von einer historischen Perspektive geprägt ist. Jüdisches Leben in Deutschland wird dabei auf die Verfolgung und Vernichtung im Nationalsozialismus reduziert (Scherr/Schäuble 2006: 21), während gegenwärtige Facetten jüdischen Lebens und der moderne Antisemitismus kaum Beachtung finden. Lediglich der Nahostkonflikt ist als aktuelles Thema präsent und wurde von den Jugendlichen in den Gruppeninterviews immer wieder angesprochen (ebd.: 22). Besonders auffallend ist, dass häufig muslimische Jugendliche israelbezogene Kritik und antiisraelisch-antisemitische Aussagen vermischen (ebd.). Die Jugendlichen gehen in diesem Zusammenhang von einer grundsätzlichen Feindschaft zwischen Jüdinnen und Juden und Muslim*innen aus (Schäuble 2012b: 297).

Die Berichte jüdischer Schüler*innen über ihre Konfrontation mit Antisemitismus im Schulalltag verweisen auf das Ausmaß an antisemitisch aufgeladenen Aussagen, die Jugendliche alltäglich reproduzieren. Die Studie „Mach mal keine Judenaktion“ von Julia Bernstein (2018) zeigt, dass antisemitische Vorurteile, Stereotype und Anfeindungen für viele jüdische Schüler*innen zum Alltag gehören. Besonders hervorgehoben wird auch hier, dass die Schüler*innen aufgrund ihrer jüdischen Herkunft in eine Art Repräsentant*innenrolle für ein vermeintlich homogenes jüdisch-israelisches Kollektiv gedrängt werden und entweder Rede und Antwort für die Politik Israels stehen müssen oder unweigerlich in Konfrontationen mit Mitschüler*innen und Lehrkräften verwickelt werden, die sie mit antisemitischen Aussagen wie „Kindermörder“ oder „Aggressor“ (ebd.: 335) anfeinden.

Quantitative Studien der vergangenen Jahre, die die Zustimmung von Jugendlichen zu antisemitischen Ressentiments erfasst haben, gehen von einer geringen Bedeutung „klassischer“ antisemitischer Ressentiments aus. So wird angenommen, dass lediglich 4 % der Jugendlichen ihre Zustimmung zu Aussagen geben, die den Mythos der einflussreichen Jüdinnen und Juden bedienen, sowie zu Aussagen, die die Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch das eigene Verhalten legitimiert sehen (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 24f.). Deutlich höhere Zustimmungswerte werden in den quantitativen Befunden bei antiisraelischen Aussagen festgestellt. So ist bei Jugendlichen die Zustimmungsquote zu israelbezogenem Antisemitismus drei Mal so hoch wie zu Aussagen, die dem klassischen Antisemitismus zuzuordnen sind (ebd.: 68).

Dass antisemitische Vorurteile wiederum schnell in antisemitische Handlungen umschlagen können, demonstriert die Vielzahl antisemitisch motivierter Straftaten der letzten Jahre. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS e. V.) weist in seinem aktuellen Bericht darauf hin, dass ein großer Teil der antisemitischen Straftaten in Schulen stattfindet und stützt damit die Befunde von Julia Bernstein (2018) sowie Albert Scherr und Barbara Schäuble (2006) (RIAS 2020: 10, 18, 21). Wie oft und mit welcher Intensität jüdische Jugendliche mit antisemitischen Übergriffen konfrontiert waren, zeigt die hier exemplarisch dargestellte mediale Berichterstattung der letzten Jahre: „Hör zu, du bist ein cooler Typ, aber ich kann nicht mit dir befreundet sein. Juden sind alle Mörder“ (Noetzel 2017). Diese Aussage soll an einer Berliner Gemeinschaftsschule gegenüber einem sich zuvor als jüdisch „geouteten“ Schüler gefallen sein. Anschließende wochenlange Übergriffe führten dazu, dass der Schüler die Schule verließ. In anderen Fällen wird von Angriffen gegenüber jüdischen Schüler*innen berichtet, die von der tiefen Ablehnung Israels durch ihre Mitschüler motiviert waren, so etwa die Aussage eines anderen jüdischen Schülers aus Berlin: „Sie haben mich Scheiß [sic] Jude genannt oder Scheiß [sic] Israeli – ohne Grund“ (Haselrieder/Frenkel 2020).

In beiden Fällen handelte es sich bei den Angreifern um muslimische Mitschüler, die in den Jugendlichen Repräsentanten des Staats Israel sahen und sie über eine generalisierende Täterkonstruktion dämonisierten, die allen Juden und Jüdinnen eine Mitschuld für die israelische Politik gegenüber den Palästinenser*innen gibt. Jedoch muss vor zu schnellen Schlüssen, dass nur muslimische Schüler*innen antisemitische Übergriffe gegenüber Juden und Jüdinnen verüben, gewarnt werden. Dies zeigt nicht zuletzt ein Vorfall, der sich 2018 an einer deutsch-amerikanischen Schule in Berlin ereignete, die für ihre Klientel von Schüler*innen aus Diplomaten- und Akademikerhaushalten bekannt ist. Auch hier war ein jüdischer Neuntklässler über lange Zeit hinweg antisemitischen Übergriffen durch Mitschüler ausgesetzt. Eine der am häufigsten zitierten Aussagen des Schülers beschreibt, wie ein Mitschüler ihm den Rauch einer E-Zigarette mit der Bemerkung ins Gesicht blies, es solle ihn an seine vergasten Vorfahren erinnern (Klesmann 2018). Dass eine Klassifizierung der beschriebenen Vorfälle als Einzelfälle zu kurz greift, zeigt der Beschluss, dass seit dem letzten Schuljahr „Antisemitismus“ als eigene Kategorie in die Notfallpläne der Berliner Schulen aufgenommen wurde (Brost/Rasumny 2020).

Antisemitische Fragmente bei Lehrkräften

Bei Untersuchungen über Antisemitismus im Kontext Schule stehen in den meisten Fällen Schüler*innen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Welche Vorstellungen Lehrer*innen von Antisemitismus haben, wurde bisher nur selten erforscht (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 222). Neben kleineren Fallbeschreibungen und -analysen (vgl. u. a. Follert/Stender 2010; Rhein/Uhlig 2019) nimmt erstmals Bernstein (2018, 2020) in ihrer umfangreichen Studie Lehrkräfte gezielt in den Blick. Sie stellt fest, dass Lehrkräfte Antisemitismus häufig bagatellisieren, bestimmte Erscheinungsformen nicht erkennen und teilweise selbst antisemitische Fragmente reproduzieren. Besonders deutlich zeige sich dies – ähnlich wie unter Jugendlichen und in der Gesamtbevölkerung (s. oben) – beim antiisraelischen (Bernstein 2020: 482ff.) und sekundären Antisemitismus (Bernstein 2018: 34). Diese Erkenntnis ist insofern von großer Bedeutung, als dass Lehrkräften eine zentrale Rolle bei der Vorbeugung und Bekämpfung von Antisemitismus in Schulen zukommt. Gelingt es ihnen jedoch nicht, Antisemitismus zu erkennen, kann dies zu Situationen führen, in denen sich Schüler*innen unwidersprochen antisemitisch äußern können oder in ihren Ansichten von Lehrkräften sogar bestärkt werden. Inwiefern sich auch bei Lehrkräften antisemitische Denkmuster äußern können, wird im Folgenden anhand von zwei Interviews mit Politiklehrer*innen skizziert.1 Auch wenn sich beide im Verlauf des Gesprächs deutlich von Antisemitismus und Antizionismus distanzieren, lassen sich in einigen ihrer Äußerungen und Argumentationen antiisraelische und schuldrelativierende Logiken erkennen.

Beide heben zunächst explizit Deutschlands historische Verantwortung hervor und betonen die Wichtigkeit der Erinnerung an die Shoah. Damit einher geht für Lehrer 1 (L1) jedoch eine spezielle „Problematik“. Das besondere Verhältnis zu Israel mache eine ausgewogene Thematisierung des „heiklen Themas“ Nahostkonflikt unmöglich, sowohl in der Schule als auch in den Medien. Kritik an Israel werde in Deutschland immer noch mit „Antisemitismus gleichgesetzt“ und auch israelische Politiker*innen reagierten „sehr empfindlich“ auf kritische Äußerungen. Im Politikunterricht entstehe für Lehrkräfte dadurch die Gefahr, dass Kritik an Israel zu dienstrechtlichen Konsequenzen führen könne, wenn Schüler*innen eine zu kritische Beurteilung Israels öffentlich machen würden. Über das ganze Gespräch hinweg scheint L1 emotional hin- und hergerissen zwischen der Bürde der deutschen Geschichte und dem wahrgenommenen Tabu einer ‚Israelkritik‘ sowie dem gleichzeitigen Bedürfnis, Israels Politik offen kritisieren zu wollen. Dabei erachtet er die Erinnerungskultur als moralisch geboten und nicht verhandelbar.

Lehrkraft 2 (L2) argumentiert ähnlich. Die deutsche Verantwortung für die Verbrechen während des Nationalsozialismus sei der Bevölkerung weiterhin sehr präsent und die Erinnerungskultur habe einen „hohen Stellenwert“, sodass es die weit verbreitete Einstellung gebe, es stehe Deutschland nicht zu, Israel zu kritisieren. Diese „zurecht“ westlich geprägte, „sehr pro-israelische Grundhaltung“ erschwere eine im Unterricht verlangte „Neutralität“ bei der Bearbeitung des Nahostkonfliktes, womit L2 eine aus seiner Sicht ausgewogene Darstellung der israelischen und palästinensischen Sicht meint. Das Thema könne kontroverser behandelt werden, wenn Perspektiven von Personen miteinbezogen würden, denen Israel „ein Dorn im Auge“ sei, z. B. indem man Familienmitglieder von Schüler*innen mit palästinensischer Migrationsgeschichte in den Unterricht einbinde. Hier wird deutlich, wie L2 mit dem Argument der Neutralität antiisraelische Narrative legitimiert.

Bei beiden Lehrkräften findet sich die Vorstellung, dass die Erinnerungskultur einen vermeintlich ‚objektiven‘ Umgang mit dem Nahostkonflikt erschwert oder nahezu unmöglich macht. Beide fühlen sich dadurch verunsichert, da sie die Erinnerung an die Shoah als wichtig erachten. Insbesondere L1 betont dies immer wieder. Letztlich sei die Erinnerungskultur allerdings der Grund dafür, dass israelisches Unrecht nicht offen angesprochen werden könne. Studien zeigen jedoch deutlich, dass ‚Israelkritik‘ kein Tabu darstellt und im Gegenteil gesellschaftlich weit verbreitet ist, nicht selten mit deutlich antiisraelischem Einschlag. So findet sich eine Fülle an Beispielen, in denen Israel in deutschen Leitmedien als alleiniger Aggressor beschrieben wird (Salzborn 2019: 144f.; Schwarz-Friesel 2019). Psychologisch betrachtet handelt es sich um Entlastungsstrategien und eine Form der Täter-Opfer-Umkehr und Schuldrelativierung. Die Erinnerungskultur verhindert nach dieser Perspektive zwar eine Normalisierung der eigenen (nationalen) Identität, wertet Deutschland jedoch moralisch auf, während die verzerrte Perspektive auf den Nahostkonflikt und die öffentliche Debatte zugleich die Konzeptionierung Israels als Täter ermöglichen, das durch sein Verhalten einerseits Menschenrechte verletze und andererseits die Vergangenheit instrumentalisiere, um Kritik zu delegitimieren. Israel erscheint den beiden Lehrkräften ähnlich negativ wie vielen Jugendlichen. Elemente eines schuldrelativierenden, sekundären Antisemitismus verbinden sich so mit Aspekten eines antiisraelischen Antisemitismus. Den Zusammenhang beschreibt Messerschmidt (2015) wie folgt:

Die im sekundären Antisemitismus verankerte Täter-Opfer-Umkehr wird begleitet von Behauptungen über Sprechverbote und Tabus, um sich selbst als Opfer unzulässiger Einschränkungen des Sprechens über Juden und Israel darzustellen. Die Behauptung eines Kritikverbots beruht auf dem sekundär-antisemitischen Ressentiment, der Massenmord an den europäischen Juden stehe einer schonungslosen Auseinandersetzung mit den Gegenwartsproblemen im Wege und die Erinnerung an die NS-Verbrechen werde missbraucht, um Kritik abzustellen. (Ebd.: 2)

Für den Politik- und Geschichtsunterricht sind derartige Konzepte fatal. Im Verlauf der beiden Interviews erkennen die beiden Lehrkräfte antiisraelischen Antisemitismus erst, wenn er als aggressiver Antizionismus zutage tritt, subtilere Formen von antiisraelischem Antisemitismus bleiben hingegen unentdeckt. So können sehr leicht Situationen entstehen, in denen antisemitische Äußerungen legitimiert und rationalisiert werden, etwa wenn Menschen in den Unterricht eingebunden werden, denen Israel ein „Dorn im Auge“ ist.

Antisemitismussensible Bildung als Mehrdimensionenkonzept in der Schule

Die hier beschriebenen Erkenntnisse verdeutlichen, dass eine stärkere curriculare Verankerung von Antisemitismus als Thema im (Politik-)Unterricht notwendig ist, da es vielen Schüler*innen an grundlegendem Wissen über (die Facetten des) Antisemitismus mangelt. Diese Forderung allein greift jedoch zu kurz, wenn nicht auch die Vorstellung von Antisemitismus von Lehrkräften in die Konzeption einer antisemitismussensiblen Bildung und in die Weiterbildungsangebote von Lehrkräften einfließt. Dabei müssen Bildungsangebote gleichermaßen sowohl die von Lehrkräften als auch von Schüler*innen genutzten Narrative in die Auseinandersetzung einbeziehen.

Neben historischem Wissen über die Shoah müssten aktuelle Erscheinungsformen wie der antiisraelische Antisemitismus Berücksichtigung finden. Lerntheoretisch ist dabei zu beachten, dass problematische Überzeugungen, Ressentiments und Stereotype nicht einfach durch das richtige Faktenwissen verändert oder ersetzt werden können (Scherr 2012: 23f.). Personen konstruieren neue Vorstellungen vielmehr aktiv und greifen hierfür auf bereits vorhandene Konzepte und Erfahrungen zurück (Lange 2008: 252). Aus diesem Grund müssen im Sinne einer Subjektorientierung die Vorstellungsstrukturen und damit verbundenen Emotionen von Personen zum Ausgangspunkt von Bildungsprozessen gemacht werden. Daher sind zusätzlich zur Vermittlung von Wissen intensive Reflexionsphasen notwendig. Lehrer*innen und Schüler*innen sollten sich in der Aus- und Weiterbildung bzw. im Unterricht damit auseinandersetzen, welche Funktionen die sekundär-antisemitischen und antiisraelischen Fragmente und damit verbundene Gefühle erfüllen. Antisemitische Fragmente sind zudem häufig durch Vereinfachungen oder Falschinformationen legitimiert, die sich jedoch verfestigen, weil sie an vorhandene Ressentiments und Emotionen sowie damit verknüpfte Vorstellungen andocken können. Im ungünstigsten Fall kommt es in der Schule zu einer „inneren Resonanz“ (Fechler 2005: 193) zwischen Lehrkraft und Schüler*in, d. h. der Antisemitismus bleibt unentdeckt, da sich die Vorstellungen beider decken. Werden beide dann lediglich mit den „korrekten“ Informationen konfrontiert, können sie diese aufgrund der emotionalen und konzeptionellen Verstrickung in antisemitische Narrative kognitiv nicht verarbeiten, sodass ein Verstehen und eine Internalisierung ausbleiben. Besonders problematisch sind zudem moralisierende Dauerüberwältigungen. Diese begünstigen Trotzverhalten oder ‚defensives Lernen‘ (Klaus Holzkamp), d. h. die Schüler*innen ändern ihre Einstellungen nicht aus innerer Einsicht, sondern passen sich nach außen gesellschaftlichen Anforderungen und Normen an (Schäuble 2012a: 181).

Daher sollten in einem ersten Schritt Situationen geschaffen werden, in denen Personen Gefühle und Empfindungen verbalisieren können. Dadurch wird Schüler*innen wie Lehrkräften die Möglichkeit eröffnet, als unangenehm empfundene Schuldgefühle oder Aggressionen gegenüber Israel oder Jüdinnen und Juden zu reflektieren, d. h. sie werden in die Lage versetzt, die primäre Motivation hinter diesen Gefühlen zu verstehen. In diesem Zusammenhang sollte auch die Fähigkeit gefördert werden, die Komplexität und Ambivalenz von Gefühlen und politischen Konflikten (die gerade in Bezug auf den Gegenstand Nahostkonflikt immanent sind) zu erkennen und anzunehmen (Messerschmidt/Fereidooni 2019: 354). Dies gewinnt etwa dann an Bedeutung, wenn es um die im Text mehrfach erwähnte Verknüpfung von sekundärem Antisemitismus und antiisraelischem Antisemitismus geht. So erscheint es vor allem für jene, die einer vermeintlichen ‚Schuldkultur‘ überdrüssig sind, als attraktiv, von einer antiisraelischen Täter-Opfer-Umkehr Gebrauch zu machen und in einer negativen Wahrnehmung des Staates Israel die Legitimierung für ein Ende der Solidarität mit Juden und Jüdinnen und der Erinnerungskultur zu suchen (ebd.: 355f.). In den oben beschriebenen Beispielen zeigt sich diese Logik in leicht variierter Form vor allem in den exemplarischen Auszügen aus den Lehrer*inneninterviews. L1 etwa möchte seine Schuldgefühle nicht überwinden, relativiert sie jedoch durch antiisraelische Projektionen und fühlt sich durch das vermeintliche Tabu der Israelkritik in seinen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Aber auch bei Schüler*innen werden durch eindimensionale, vereinfachte und emotional aufgeladene Konstruktionen eines vermeintlichen jüdisch-israelischen Kollektivs Hassbilder von Juden und Jüdinnen erzeugt, die antisemitische Handlungen und Aussagen rationalisieren.

Phasen der Reflexion können so dazu beitragen, „Beschränkungen des Selbst- und Weltverständnisses zu überwinden“ (Schäuble 2012a: 174). Dies sollte mit dem Aufbau von Wissen über den Gegenstand einhergehen, der Auseinandersetzung mit mehrdimensionalen Narrativen des Nahostkonflikts einschließt, multiperspektivische Ansätze verfolgt sowie Zusammenhänge zwischen israelkritischen, antiisraelischen Einstellungen und sekundärem Antisemitismus aufzeigt und den Umgang mit eigenen Emotionen ermöglicht. In diesem Kontext ist es jedoch wichtig, auf die Grenzen derartiger reflexiver Ansätze zu verweisen. Personen mit starken ideologischen Überzeugungen und geschlossenen Weltbildern sind damit kaum zu erreichen. Antisemitische Ressentiments dürfen zudem nicht als legitime Narrative geduldet, sondern müssen stets problematisiert werden. Vor diesem Hintergrund ist Lehrkräften zu vermitteln, dass ihr Handeln stets wertgebunden sein muss, sich also an den demokratischen Grundwerten orientiert und nicht mit einem missverstandenen Neutralitätsgebot verwechselt werden darf (Besand 2020: 8).

Um den eingangs beschriebenen, verhältnismäßig neuen Herausforderungen gezielt entgegentreten zu können, etwa der im Rahmen der Coronavirus-Pandemie entstandenen neuen Welle von antijüdischen Ressentiments, in denen sich sekundäre und antiisraelische Bilder wiederfinden, wird abschließend die Bedeutung eines reflexiven, mehrdimensionalen und multiperspektivischen Ansatzes unterstrichen. Ziel ist dabei stets die im Lernprozess zentrale Frage nach den Funktionen, die antisemitische Projektionen für das Selbst erfüllen.

 

1 Die Interviews wurden Anfang 2018 im Rahmen eines Dissertationsprojektes an der Leibniz Universität Hannover erhoben.

 

 

 

Literatur

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