Im Sommer 2020 fährt ein jüdischer Mann – erkennbar u. a. an seiner Kippa, Schläfenlocken und Tzitzit – gegen 20 Uhr in einer westdeutschen Großstadt mit der Straßenbahn. Mit ihm steigen zwei Jugendliche ein, sie sprechen den Mann an und machen sich augenscheinlich – sie sprechen untereinander arabisch – über ihn lustig. Zu dem Betroffenen rufen sie „Heil Hitler“, „Arbeit macht frei“ und fragen ihn, wie viele Kinder er ermordet habe. Außerdem bezeichnen sie ihn als Zionisten. Der Mann versucht, die Beschimpfungen zu ignorieren und liest weiter in einem Gebetbuch. Als die Jugendlichen ihm das Buch entreißen wollen, beginnt der Mann sich zu wehren. Die Jugendlichen versuchen sogar, ihn zu schlagen, er kann sie aber so einschüchtern, dass sie an der nächsten Haltestelle die Bahn verlassen. Ein Zeuge spricht den Betroffenen an und bietet ihm u. a. an, den Vorfall an die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) zu melden. Zuvor riet er ihm, die Polizei zu informieren – darauf entgegnete der Betroffene, das sei sinnlos.
Im Gespräch mit dem Bundesverband RIAS berichtete der Betroffene von weiteren antisemitischen Vorfällen: So habe ihm ein Mann mit einem Antifa-Button an einem U-Bahnhof unvermittelt „Free Palestine“ zugerufen. Umstehende blickten zwar auf, reagierten aber sonst nicht. Einige Monate zuvor erhielt er auf Facebook eine Morddrohung von einem rechtsextremen Fake-Profil. Die Drohung enthielt auch Informationen zum Wohnort des Betroffenen. Wenige Tage später fand er einen Umschlag mit einer Hakenkreuzfahne in seinem Briefkasten, der sich im Innern eines Mehrfamilienhauses befindet. Als er hiermit und mit der Facebook-Nachricht zur Polizei ging, wurde lediglich die Hakenkreuz-Fahne konfisziert und ihm geraten, das Facebook-Profil zu löschen. Der Mann war von der Reaktion der Polizeibeamt_innen so enttäuscht, dass er darauf verzichtete, bei der Polizei seine Daten zu hinterlassen. Er solle sich melden, wenn noch etwas vorkomme – so verabschiedeten die Polizist_innen den Mann.
Die hier beschriebenen Sachverhalte verweisen auf etwas, das Hannah Arendt in ihrer Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ zugespitzt so formuliert hat: „Der Antisemitismus ist genau das, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden und nichts sonst.“ (Arendt 1991: 32) Antisemitismus als tödliche Gefahr für Juden – damit zielt Arendt zum einen auf die (Legitimation von) Gewalt als zentralen Bestandteil antisemitischen Denkens, zum anderen auf die konkreten Betroffenen dieser Gewalt. In der Antisemitismusforschung in Deutschland, aber auch im medialen Diskurs über das Problemfeld Antisemitismus spielen beide Aspekte häufig eine untergeordnete Rolle. Hier stehen eher Untersuchungen der Einstellungen von „Täter_innen“, also der sich antisemitisch Äußernden im Vordergrund – sei es im Rahmen von qualitativen Untersuchungen oder im Rahmen von quantitativen Erhebungen antisemitischer Einstellungen, wie sie beispielsweise die regelmäßig erscheinenden Autoritarismusstudien vorlegen (Decker/Brähler 2019). Zwar ist dies durchaus im Gegenstand angelegt und hat daher seine Berechtigung; dennoch ist Mike Whine vom Community Security Trust, einer britischen Wohlfahrtsorganisation, die unter anderem antisemitische Vorfälle registriert, in seiner Einschätzung zuzustimmen: Whine argumentiert, es bedürfe neben den Ergebnissen der Einstellungsforschung auch systematischer Untersuchungen einerseits der antisemitischen Vorfälle und Straftaten – also der Handlungen von Antisemit_innen – sowie andererseits der Wahrnehmungen des Problems durch die Betroffenen, in aller Regel also durch Jüdinnen_Juden. Nur so könne ein realistisches Bild vom Antisemitismus in einer Gesellschaft gezeichnet werden (Whine 2018; vgl. auch Poensgen/Steinitz 2018).
Hier setzt die Arbeit der Meldestellen für antisemitische Vorfälle an, die in einer Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. (Bundesverband RIAS) vertreten sind: Durch die Analyse von antisemitischen Vorfällen aus Perspektive der Betroffenen können Erkenntnisse über die situativen, aber eben auch politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen judenfeindlicher Mobilisierungsversuche gewonnen werden (Vgl. Rensmann 2004: 19). Entsprechend der Arbeit von RIAS1 als einer Meldestelle für Betroffene und Zeug_innen von Antisemitismus können sinnvolle Umgangsweisen mit antisemitischen Angriffen, Bedrohungen, Sachbeschädigungen, aber auch niedrigschwelligeren Formen verletzenden Verhaltens offengelegt werden. Denn Jan Weyand (2016: 78) ist in seinen Ausführungen zuzustimmen, wenn er schreibt: „Für den Verfolgten ist es egal, aus welchen Gründen er verfolgt wird, solange ihm nicht die Kenntnis der Gründe auch Mittel an die Hand gibt, seine Gegen- oder Fluchtmaßnahmen zu verbessern.“ Zuletzt hat Ronen Steinke (2020) kenntnisreich gezeigt, wie die Bundesrepublik in Anbetracht antisemitischer Gewalt zu versagen droht – der oben beschriebene Umgang der Polizei scheint diese Analyse zu plausibilisieren.
Der Bundesverband RIAS und die bei ihm derzeit mitwirkenden unabhängigen regionalen Meldestellen in Bayern, Berlin, Brandenburg, Hannover, Nordrhein-Westfalen,Schleswig-Holstein und Thüringen agieren u. a. nach den Prinzipien der partizipativen Forschung. RIAS verbindet betroffenenorientierte Arbeit und zivilgesellschaftliches Monitoring antisemitischer Vorfälle interprofessionell mit wissenschaftlichen Methoden zur qualitativen Einordnung antisemitischer Phänomene und deren quantitativer Erfassung. Dabei ist die Arbeit von RIAS parteilich: Die Perspektive von Betroffenen soll in der deutschen Öffentlichkeit sichtbarer gemacht werden, ein realistischeres Bild von Antisemitismus in deren Sinne gezeichnet werden. Somit kann eine zivilgesellschaftliche Meldestelle wie RIAS einen Beitrag für die akademische Antisemitismusforschung, aber auch für die politische Kultur einer Demokratie leisten, die konsequent gegen Antisemitismus vorgehen muss. Dies wird im Folgenden anhand erster Ergebnisse aus der Arbeit von RIAS gezeigt: Einerseits wird Antisemitismus für Jüdinnen_Juden in Deutschland als alltagsprägende Erfahrung charakterisiert. Dies wird deutlich in narrativen Interviews, die das Projekt RIAS – bundesweite Koordination insbesondere mit Vertreter_innen jüdischer Institutionen seit 2015 geführt hat. Andererseits werden antisemitische Vorfälle ausgewertet, die vom Projekt RIAS Berlin in den Jahren 2017 bis 2019 erfasst und in mehreren Jahresberichten veröffentlicht wurden. Es zeigt sich, dass in den letzten Jahren die Zahl der erfassten Vorfälle in Berlin zugenommen hat, dass Antisemitismus darüber hinaus unterschiedliche politische Spektren verbindet, man aber insgesamt eher von der Existenz antisemitischer Dynamiken ausgehen muss als von einer kontinuierlichen Zunahme antisemitischer Vorfälle.
Antisemitismus in Deutschland: Alltagsprägend für Jüdinnen_Juden
Auch wenn viele der wegweisenden Arbeiten zum Antisemitismus sowie zum Nationalsozialismus von Jüdinnen_Juden geschrieben wurden, fällt auf, dass in der umfassenden Geschichte der Antisemitismusforschung die Erforschung der Perspektive von Betroffenen, also von in erster Linie Jüdinnen_Juden, auf Antisemitismus in der Bundesrepublik lange nicht stattgefunden hat. Stattdessen wurde jüdischen Wissenschaftler_innen oftmals die Objektivität abgesprochen, die, wie beispielsweise in der Goldhagen-Debatte geschehen, ehemalige Wehrmachtssoldaten und Beteiligte am deutschen Vernichtungskrieg wie selbstverständlich für sich reklamierten.2 Insbesondere Julia Bernstein (2020; Bernstein et al. 2017) ist es zu verdanken, dass sich diese Forschungslücke in jüngster Vergangenheit zu schließen beginnt – ihr vorausgegangen sind neben der europaweiten FRA-Studie (FRA 2013; FRA 2018) nur noch eine Erhebung im Auftrag des Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages (2017).
Für die Arbeit von RIAS steht die Perspektive der Betroffenen auf Antisemitismus im Vordergrund. Daher wurde bereits vor Beginn der eigentlichen Arbeit der Meldestelle RIAS Berlin eine Erhebung unter Berliner Jüdinnen_Juden durchgeführt (VDK/RIAS Berlin 2015) – in den folgenden Jahren folgten Untersuchungen in zahlreichen Bundesländern (zuletzt: Bundesverband RIAS 2020). In diesen „Problembeschreibungen“ wurden mithilfe von problemzentrierten, narrativen Interviews Vertreter_innen jüdischer Gemeinden leitfadengestützt zu ihren Wahrnehmungen von Antisemitismus am Wohnort, aber auch in Deutschland insgesamt befragt und untersucht, welche Umgangsweisen ihnen persönlich und institutionell zur Verfügung stehen.
Zentrale Erkenntnis der Untersuchungen ist, dass es sich beim Antisemitismus für Jüdinnen_Juden in Deutschland um ein alltagsprägendes Phänomen handelt. Damit ist gemeint: Antisemitismus begegnet Jüdinnen_Juden in zahlreichen Formen und unterschiedlichen Kontexten. Diejenigen, die sich antisemitisch äußern oder gar antisemitisch agieren, haben heterogene politische, gesellschaftliche, soziale und sozioökonomische Hintergründe. Die Befragten berichten von antisemitischen Vorfällen am Arbeitsplatz, im Umfeld von Synagogen und jüdischen Gemeinden, in der Schule und im Freundeskreis und im Rahmen von Zufallsbegegnungen mit Unbekannten auf offener Straße. Selbst im unmittelbaren Wohnumfeld kommt es zu antisemitisch motivierten Sachbeschädigungen oder zu verletzendem Verhalten durch Nachbar_innen. Daraus ergibt sich, dass es für Jüdinnen_Juden nur wenige Räume gibt, in denen sie sicher sein können, dass sie nicht mit Antisemitismus konfrontiert werden. Dass Antisemitismus in Deutschland für Jüdinnen_Juden alltagsprägend ist, bedeutet nicht, dass sie tagtäglich Antisemitismus erleben. Es bedeutet, dass er in so unterschiedlichen Kontexten immer wieder auftritt, sodass Jüdinnen_Juden alltäglich gezwungen sind, das vielfältige Leben ihrer unterschiedlichen jüdischen Identitäten mit der Sicherstellung ihrer physischen und psychischen Unversehrtheit abwägen zu müssen. Dies ist in der Regel ein konflikthafter Prozess.
Wie dieser Konflikt aussieht, zeigen Schilderungen von alltäglichen Situationen, die im Rahmen der erwähnten Befragungen zur Sprache kamen. So berichtete ein_e Interviewpartner_in einen Vorfall bei der Abschlussfeier am Ende des Schuljahres: Es wurden zwei Schüler_innen für besonders gute Leistungen ausgezeichnet, ein Kind hatte einen arabischen Namen, das andere Kind – das Kind der_des Befragten – einen hebräischen Namen. Dies, so der_die Befragte, „hat schon mal einige geärgert“. Weiter erzählt er_sie:
Und dann standen die Eltern danach noch rum und dann kam ein Vater auf mich zu und meinte: '[Name des Kindes]' und so – und ob wir jüdisch seien. […] Dann hat er angefangen zu erklären, warum wir Juden schon auch mit schuld seien am Holocaust und dass wir zu viel drüber reden, also aus dem Nichts, und das ist halt bei der Schulfeier mit deinem Kind. Du hast halt wirklich überhaupt keinen Nerv auf sowas. […]. Da bin ich regelrecht geflohen und bin rüber zu dieser Familie von dem [Kind mit arabischem Namen], die aber mich dann auch gleich begrüßt haben mit den neuesten Interventionen in Israel und was ich dazu sage. Das heißt, ich bin irgendwie vom Regen in die Traufe gefallen und wir sind dann auch relativ früh gegangen, weil ich das Gefühl hatte, was soll ich hier jetzt eigentlich noch, das macht keinen Sinn.
Jüdinnen_Juden müssen sich, das wird an der geschilderten Begebenheit deutlich, in Alltagssituationen permanent zwischen Konfrontation und Verdrängung, Dialog und Resignation entscheiden. Dies führt beispielsweise dazu, wie in zahlreichen Interviews geschildert, dass Jüdinnen_Juden vermeiden, als solche erkennbar zu sein, oder bestimmte Gebiete, die sie als gefährlich wahrnehmen, zu betreten (ausführlich zum Antisemitismus als alltagsprägendem Phänomen: Poensgen/Steinitz 2019a).
Antisemitische Vorfälle 2017 bis 2019: das Beispiel Berlin
Seit 2015 veröffentlicht das Projekt RIAS Berlin Jahresberichte antisemitischer Vorfälle (VDK/RIAS Berlin 2016). Da sich die Arbeitsweisen des Projekts in den Folgejahren veränderten und zum Beispiel neue Quellen systematisch erschlossen wurden, lassen sich diese insbesondere ab dem Jahresbericht 2017 gewinnbringend vergleichen. Wie im Folgenden anhand von vier Thesen erläutert wird, zeigt sich: Die Arbeit einer zivilgesellschaftlichen Meldestelle generiert neue Erkenntnisse zum Antisemitismus in der Bundeshauptstadt, bestehende Theorien können empirisch plausibilisiert oder neue Thesen zu Erscheinungsformen von Antisemitismus generiert werden.
1. Antisemitismus ist in Berlin ein alltagsprägendes Phänomen.
Es zeigt sich, dass Antisemitismus ein vielschichtiges Phänomen ist, das sich zumindest quantitativ-schematisch nicht nach Bezirk, abstrakter Qualität eines Ortes oder politischem Hintergrund einer Person bestätigen oder ausschließen ließe. So gab es 2019 genau wie in den Vorjahren keinen Berliner Bezirk, aus dem RIAS kein antisemitischer Vorfall gemeldet wurde.3 Die Tatort-Kategorie mit den meisten Zuordnungen war im Jahr 2019 wieder die Straße, gefolgt vom öffentlichen Personennahverkehr. Der dritthäufigste Tatort der von RIAS Berlin 2019 erfassten antisemitischen Vorfälle war das Wohnumfeld der Betroffenen – dies ist für Betroffene oft besonders bedrohlich. Die von RIAS Berlin erfassten Vorfälle gingen im Jahr 2019 wieder von mitunter sehr unterschiedlichen politischen Spektren aus: angefangen von der politischen Mitte bis zum Rechtsextremismus/Rechtspopulismus, vom christlichen Fundamentalismus über islamisch/islamistische Vorfälle bis hin zu solchen, die als links/antiimperialistisch erfasst werden. Zugleich sind seit 2017 knapp die Hälfte der Vorfälle keinem politischen Hintergrund zuzuordnen – 2019 waren das 45,5 % der Vorfälle. Dies zeigt sowohl, dass antisemitische Handlungen nicht mit einem identifizierbaren Weltbild einhergehen müssen, als auch dass Antisemitismus ein spektrenübergreifendes Problem darstellt, welches mit in der Gesamtgesellschaft weit verbreiteten Einstellungen einhergeht. Auch hieraus kann für Betroffene ein generelles Bedrohungsgefühl entstehen, da sie beispielsweise potentielle Täter_innen nicht identifizieren und meiden können – Antisemitismus wird zur alltagsprägenden Erfahrung.
2. Die Zahl der erfassten antisemitischen Vorfälle nimmt in Berlin nicht kontinuierlich zu, es können aber antisemitische Dynamiken beobachtet werden.
2017 erfasste RIAS Berlin insgesamt 955 antisemitische Vorfälle. Die Zahl stieg im Jahr 2018 auf 1.085 Vorfälle an, um 2019 wieder auf 881 zu sinken. Somit kann auf Basis der RIAS Berlin bekannt gewordenen Vorfälle nicht von einer steten Zunahme antisemitischer Vorfälle in der Bundeshauptstadt gesprochen werden. Regelmäßig beobachtet RIAS Berlin jedoch die Entwicklung von antisemitischen Dynamiken: Das bedeutet, dass Anlässe und Debatten, aber auch das Agieren von Zeug_innen, der Zivilgesellschaft und von staatlichen Sicherheitsbehörden Gelegenheitsstrukturen etablieren, die antisemitische Täter_innen motivieren und damit antisemitische Gewalt ermöglichen. Die Gelegenheiten lösen dynamische Situationen aus, weil es zu einer Zunahme antisemitischer Vorfälle kommt, die sich zudem verändern, also zum Beispiel nicht lediglich eine Vorfallsart oder ein politisches Spektrum umfassen. So können sich Schmierereien, Demonstrationen, Äußerungen in Gesprächen und im Rahmen von Bedrohungen und Angriffen von sehr unterschiedlichen Personenkreisen auf den gleichen Anlass in antisemitischer Art und Weise beziehen. Diese Dynamiken nehmen aus unterschiedlichen Gründen nach einiger Zeit wieder ab.4 Dies war beispielsweise im Dezember 2017 der Fall, als es nach der Ankündigung von Donald Trump, die US-Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, in ganz Deutschland zu Protesten mit antisemitischen Ausdrucksformen kam.
3. Antisemitismus verbindet in Berlin unterschiedliche politische Spektren.
RIAS erfasst den politischen Hintergrund von Personen, von denen die antisemitischen Vorfälle ausgehen, getrennt von den konkreten antisemitischen Inhalten, die sie äußern. RIAS unterscheidet antisemitisches Othering, modernen Antisemitismus, Post-Schoa-Antisemitismus, israelbezogenen Antisemitismus und antijudaistischen Antisemitismus. Interessant ist zum einen, dass sich alle diese Erscheinungsformen bei sämtlichen zugeordneten politischen Hintergründen finden lassen. Zwar können nicht alle Vorfälle einem politischen Hintergrund zugeordnet werden, aber allen dokumentierten Vorfällen kann mindestens eine antisemitische Vorfallsform zugerechnet werden: 2019 wurden in 8 % aller Vorfälle Stereotype des Antijudaismus, in 26 % des modernen Antisemitismus, in 35 % des antisemitischen Otherings und in 34 % des israelbezogenen Antisemitismus erfasst. Die am häufigsten verwendete Erscheinungsform war der Post-Schoa-Antisemitismus: Antisemitische Stereotype, die sich direkt auf den Nationalsozialismus oder die Schoa bezogen, wurden in 46 % der Fälle festgestellt. Sämtliche Formen des Antisemitismus sind also, das legt die Dokumentation antisemitischer Vorfälle in Berlin nahe, in allen von RIAS unterschiedenen politisch-weltanschaulichen Spektren fest verankert. Das Monitoring beispielsweise des Versammlungsgeschehens in Berlin zeigt, dass in den Protesten gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen 2020 rechtsextreme und verschwörungsideologische Akteur_innen sowie solche, die sich keinem Spektrum klar zuordnen lassen, gemeinsam protestierten (Bundesverband RIAS 2020). Es ist davon auszugehen, dass antisemitische Verschwörungsmythen und Schoa-Relativierungen, die RIAS dem Post-Schoa-Antisemitismus zuordnet, hier ein verbindendes Element geschaffen haben.
4. Von 2017 bis 2019 nehmen die erfassten antisemitischen Vorfälle mit großem Bedrohungspotenzial insbesondere für jüdische Betroffene in Berlin zu.
Vertreter_innen jüdischer Gemeinden aus zahlreichen Bundesländern schildern in Interviews mit RIAS eine Zuspitzung der Bedrohungssituation. Diese Zuspitzung legt auch die Erfassung antisemitischer Vorfälle nahe: So hat RIAS Berlin 2019 33 antisemitische Angriffe erfasst – zwar deutlich weniger als 2018 (46). Im Vergleich zu 2017 (18) stieg die Zahl jedoch um ca. 80 %. Die gezielten Sachbeschädigungen in den hier beschriebenen Jahren blieben auf ähnlichem Niveau (2017: 42; 2018: 43; 2019: 38). Bei den antisemitischen Bedrohungen wiederum ist ein starker Anstieg zu verzeichnen – auch gegenüber 2018 (46): So wurden 2019 59 Fälle durch RIAS Berlin dokumentiert, während es 2017 noch 26 waren. Das hier skizzierte Bild wird schärfer, wenn man sich anschaut, wer von den durch RIAS Berlin erfassten Vorfällen betroffen war: Denn trotz der zurückgehenden Zahl dokumentierter antisemitischer Vorfälle blieb die absolute Zahl betroffener jüdischer Einzelpersonen im Vergleich zum Vorjahr nahezu gleich – 2019 waren es 213 Personen, 2018 220 Jüdinnen_Juden oder als solche Adressierte. Dass Antisemitismus sich immer direkter und unmittelbarer gegen Jüdinnen_Juden und weniger beispielsweise gegen politische Gegner_innen in konkreten Auseinandersetzungen richtete, zeigt sich deutlich in den antisemitischen Angriffen: Hier waren 78,9 % der Betroffenen 2019 (30 Personen) jüdische, israelische oder als jüdisch adressierte Personen – 2018 waren es noch 30,2 %. RIAS Berlin hielt zutreffend fest: „Weiterhin müssen gerade als jüdisch erkennbare Menschen in ihrem Alltag damit rechnen, antisemitisch angefeindet zu werden.“ (RIAS Berlin 2020: 15)
Fazit
Der Kern der Arbeit der Meldestellen, die in der Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbands RIAS zusammenarbeiten, ist die Unterstützung von Betroffenen von Antisemitismus und die Dokumentation antisemitischer Vorfälle in ihrem Sinne. Die kontinuierliche Sichtbarmachung von antisemitischen Alltagserfahrungen leistet einen Beitrag dazu, die „Wahrnehmungsdiskrepanzen“ zwischen Jüdinnen_Juden und nichtjüdischer Mehrheitsgesellschaft bezüglich des Ausmaßes und der Qualität des Antisemitismus in Deutschland zu reduzieren. Die Projekte setzen damit wichtige Impulse für eine demokratische Kultur, geben Ansatzmöglichkeiten für praktische Solidarität mit von Antisemitismus Betroffenen und bereichern die wissenschaftlichen Debatten über Antisemitismus: Als partizipative Wissenschaft zeigen die Befragungen von Vertreter_innen jüdischer Gemeinden und Institutionen den alltagsprägenden Charakter von Antisemitismus für Jüdinnen_Juden in Deutschland. Mithilfe der Analyse von durch RIAS Berlin in den vergangenen Jahren erfassten antisemitischen Vorfällen auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze lassen sich thesenhafte Aussagen über die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland sowie über antisemitische Dynamiken und Gelegenheitsstrukturen formulieren – die Arbeit des Bundesverbandes sowie von mehr und mehr regionalen Meldestellen wird in Zukunft weitere Erkenntnisse zutage bringen.
1 Wenn im Folgenden allgemein von der Arbeit von RIAS die Rede ist, sind Arbeitspraktiken und Qualitätsstandards gemeint, die seit 2014 vom Projekt RIAS Berlin in Trägerschaft des Vereins für Demokratische Kultur (VDK) e. V. entwickelt wurden und seit 2018 in einer beim Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus angesiedelten Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) weiterentwickelt und diskutiert werden. Zu dieser BAG gehören, Stand Sommer 2020, die eigenständigen Projekte RIAS Bayern, RIAS Berlin, die Fachstelle Antisemitismus Brandenburg, die Servicestelle Antidiskriminierung, Beratung bei Rassismus und Antisemitismus (SABRA) aus Nordrhein-Westfalen, die Dokumentations- und Beratungsstelle für antisemitische Vorfälle Hannover sowie die Landesweite Informations- und Dokumentationsstelle Antisemitismus (LIDA) Schleswig-Holstein. Bei Recherche oder anderen Ergebnissen einzelner Projekte ist dies im Folgenden ausgewiesen.
2 Vgl. auch die Debatte zwischen Joseph Wulf und Martin Broszat sowie dem Münchner Institut für Zeitgeschichte, siehe dazu: Berg, N.: „Eine Art nachträgliches Sach-Interesse an dem Verhandlungsgegenstand“ (Martin Broszat): „Sachlichkeit“, „Funktionalismus“ und „Struktur“ in Täterargumentationen, in: ders.: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, Seite 568–615.
3 Alle folgenden Angaben können dem Bericht „Antisemitische Vorfällein Berlin 2019“ entnommen werden (VDK/RIAS Berlin 2020).
4 Ein Beispiel für eine solche Dynamik, das Protestgeschehen gegen die Ankündigung der Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem, wird in Poensgen/Steinitz 2019b beschrieben.
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