Einleitung: Antisemitismus

Antisemitismus ist für die Mehrheit der Juden und Jüdinnen in Deutschland eine alltagsprägende Erfahrung. Vom Schulhof über die Straße bis zur Synagoge sehen sich Juden und Jüdinnen tagtäglich von unterschiedlicher Seite mit antisemitischen Angriffen konfrontiert – Tendenz steigend. Der rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge in Halle zu Jom Kippur 2019 hat die Bedrohungslage drastisch verschärft. Wie das Attentat verdeutlicht, wirkt vor allem das Internet als Katalysator für antisemitische Denkmuster und als Sammelbecken für militante Antisemit*innen. Die Corona-Pandemie hat jüngst die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsideologien weiterhin massiv beschleunigt.

Antisemitismus ist ein komplexes und höchst vielgestaltiges Phänomen und daher nicht für jede*n auf den ersten Blick erkennbar. So beschränken sich antisemitische Denkmuster nicht allein auf rechte und rechtsextreme Akteur*innen oder gar Randgruppen, sondern sind bis weit in die „Mitte“ der Gesellschaft hinein verbreitet. Antisemitismus findet sich sowohl unter hochgebildeten Funktionsträger*innen der Gesellschaft als auch in Milieus, die selbst von Diskriminierung und Rassismus betroffen sind sowie innerhalb politischer Bewegungen, die sich dezidiert gegen Diskriminierung und für Menschenrechte einsetzen. Darüber hinaus drückt sich der zeitgenössische Antisemitismus nicht mehr nur im expliziten Hass auf Juden und Jüdinnen aus, sondern artikuliert sich vielmehr auch in chiffrierter Form, auf Umwegen und in Andeutungen: Gegenwärtig tritt er zum Beispiel besonders gehäuft als Hass auf den jüdischen Staat Israel auf, aber auch die Abwehr der Erinnerung an die Shoah sowie Formen der Holocaust- und NS-Relativierung sind antisemitisch grundiert. Weit verbreitet sind antisemitische Denkmuster darüber hinaus in Form von Verschwörungsmythen, die komplexe gesellschaftliche Strukturen auf den angeblichen Einfluss einer kleinen Gruppe von Mächtigen reduzieren. Jene vermeintlichen „Strippenzieher“ werden dabei meist als jüdisch imaginiert. Die weite Verbreitung und die Unschärfe der antisemitischen Artikulationsmuster erschwert es politischen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen vielfach, gegen jede Form von Antisemitismus Stellung zu beziehen und dagegen zu kämpfen. Wiederholt sehen sich antisemitismuskritische Akteur*innen mit Abwehr- und Bagatellisierungsmechanismen konfrontiert, wenn sie Antisemitismus außerhalb einer bestimmten sozial geächteten Gruppe (z. B. „den Neonazis“) benennen. Die Leugnung und Umdeutung von Antisemitismus ist längst zu einer populären Abwehrstrategie geworden, die sich jedoch oft genug erneut mit antisemitischer Argumentation verbindet.1

Was kann Abhilfe schaffen? Unseres Erachtens ist Aufklärung und Bildung ein Schlüssel zum Verständnis und zur Bekämpfung von Antisemitismus. Der vorliegende Band bietet daher einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Ausprägungsformen des gegenwärtigen Antisemitismus auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. So werden etwa Schlaglichter auf den Antisemitismus im Rechtsextremismus, in der politischen Linken, in islamischen sowie in verschwörungsideologischen Milieus, aber auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft geworfen. Neben einer Analyse der drängendsten Herausforderungen, wie etwa Antisemitismus im Internet und in der Schule, werden Präventions- und Handlungsstrategien diskutiert. Dabei stützen wir uns auf die Expertise führender Antisemitismusforscher*innen sowie auf die langjährige Sachkenntnis erfahrener Praktiker*innen und Kenner*innen des Feldes.

Im ersten Teil des Sammelbandes sind theoretische und historische Beiträge zu den aktuellen Ausprägungen des Antisemitismus versammelt. Gideon Botsch fokussiert zum Einstieg den Antisemitismus in der extremen Rechten, welche er als eine nach wie vor außerordentlich aktive und radikale Kraft des Antisemitismus in Deutschland benennt. Anhand der rechtsextremen Verschwörungserzählung vom „Großen Austausch“ zeigt er auf, wie zeitgenössische rechtsextreme Akteur*innen nicht nur „alte“ antisemitische Stereotype tradieren, sondern auch zur Entwicklung „neuer“ antisemitischer Motive beitragen. Er argumentiert, dass in der Auseinandersetzung mit den aktuellen Dimensionen des Antisemitismus die spezifisch rechtsextremistische Form häufig vernachlässigt wird, und plädiert dafür, die extreme Rechte im Feld des Antisemitismus wieder stärker als eigenständigen und dynamischen Akteur in den Blick zu nehmen.

Samuel Salzborn rückt eine Variante des Antisemitismus in den Blick, die nicht nur für das rechtsextreme Spektrum, sondern für weite Teile der deutschen Bevölkerung konstitutiv ist. In seinem Beitrag beschäftigt er sich mit Genese und Geschichte des Schuldabwehr-Antisemitismus der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und zeichnet dessen ungebrochene Wirkungen bis in die Gegenwart nach. Sowohl mit Blick auf Einstellungsveränderungen als auch die politische Kultur zeigt Salzborn, wie sich die deutsche „Schuldabwehrgemeinschaft“ über die Jahre zu einer „Erinnerungsabwehrgemeinschaft“ konstituiert hat – und inwiefern in dieser antisemitische Einstellungen tradiert werden.

In Monika Schwarz-Friesels Beitrag wird der israelbezogene Antisemitismus betrachtet und als die vorherrschende Ausprägung des modernen Judenhasses im 21. Jahrhundert herausgestellt. Schwarz-Friesel verdeutlicht zunächst mithilfe von sprachlichen Beispielen aus ihrer langjährigen Forschung, wie sich legitime Kritik an der israelischen Regierung von einem verbalen Antisemitismus in Form des Anti-Israelismus unterscheiden lässt. Am Beispiel von Korpusanalysen antisemitischer Schriftstücke, z. B. Drohbriefe an den Zentralrat der Juden in Deutschland, verdeutlicht sie eindrücklich die „Israelisierung der antisemitischen Semantik“ in allen Bereichen der Gesellschaft.

Dana Ionescu widmet sich in ihrem Beitrag dem Umgang politisch linker Akteur*innen mit Antisemitismus und arbeitet die durchaus kontrovers geführten Debatten innerhalb linker Gruppierungen und Bewegungen heraus. Sie folgert: In Teilen der politischen Linken kommt ein stark enggeführter, verkürzter und entleerter Antisemitismusbegriff zum Ausdruck, der die Komplexität des Antisemitismus verkennt. Damit droht Antisemitismus in Teilen der Linken bagatellisiert oder sogar reproduziert zu werden.

Ulrike Becker legt in ihrem Beitrag zum islamischen Antisemitismus dar, wie degradierende antijüdische Vorstellungen aus der Zeit des Frühislams mit antisemitischen Verschwörungsmythen europäischen Ursprungs im Laufe der Zeit zu einer Einheit verschmolzen und heute das ideologische Fundament des gegenwärtigen islamischen Antisemitismus bilden. Sie legt dar, dass insbesondere nationalsozialistische Propaganda für die massenhafte Verbreitung und Verankerung antisemitischer Diskurse in der arabischen und muslimischen Welt verantwortlich war. Daran anknüpfend geht sie dem heutigen islamischen Antisemitismus nach, der unter Muslim*innen in Deutschland und Europa verbreitet ist.

Karin Stögner betrachtet den Antisemitismus aus einer spezifisch intersektionalen Perspektive, und zwar im Sinne eines intersektionalen Zusammenwirkens von unterschiedlichen Ideologien. Sie geht davon aus, dass der Antisemitismus als bewegliche Ideologie für sein Funktionieren Versatzstücke anderer Ideologien integriert und in sein Welterklärungsmodell einbaut – insbesondere Momente des Sexismus und Antifeminismus. Der Beitrag zeigt, inwiefern der Antisemitismus seine anhaltende Effizienz und Vielgestaltigkeit gerade auch aus solchen Verschränkungen gewinnt.

Roland Imhoffs Beitrag bietet einen Überblick über die sozialpsychologische Forschung zum Konzept der Verschwörungsmentalität und arbeitet den signifikanten Zusammenhang zwischen Verschwörungsmentalität und antisemitischen Einstellungen heraus. Er zeigt, dass die Imagination übermächtiger Strippenzieher*innen, die sich sowohl in personalisierender Kapitalismuskritik als auch in modernen Verschwörungsmythen wiederfindet, als eine Form des strukturellen Antisemitismus beschrieben werden kann.

Christine Kirchhoff geht in ihrem Beitrag psychoanalytischen Faktoren des Antisemitismus nach und setzt sich dabei mit der Freudschen Witztheorie auseinander. Anhand dieser entwickelt sie eine Psychodynamik der Lust am Gerücht. Sie macht diese Theorie fruchtbar für ein Verständnis von Antisemitismus, der von Theodor W. Adorno auch als das „Gerücht über die Juden“ bezeichnet wurde.

Zum Abschluss des theoretischen Kapitels plädiert Anetta Kahane in ihrem Beitrag für die Notwendigkeit einer jüdischen Perspektive auf Antisemitismus. Sie stellt einerseits den essenziellen Beitrag der Juden und Jüdinnen zur Entwicklung der modernen Gesellschaft und ihrer Geistesgeschichte heraus und analysiert andererseits, wie Juden und Jüdinnen bis heute aus der Holocaust- und Antisemitismusforschung ausgeschlossen werden. Sie spricht sich gegen die zugeschriebene Objektposition von Juden und Jüdinnen zugunsten einer aktiven Einmischung aus.

Im zweiten Teil werden im Rahmen konkreter Fallanalysen Schlaglichter auf spezifische Konfliktlagen des Antisemitismus in Deutschland und Thüringen untersucht. Anja Thiele & Joël Ben-Yehoshua gewähren in ihrem Beitrag einen ersten Einblick in die Artikulationsformen des Antisemitismus in Thüringen. Dafür wurden alle von zivilgesellschaftlichen Quellen gesammelten und erfassten antisemitischen Vorfälle der Jahre 2014 bis 2019 in Thüringen zusammengetragen und ausgewertet. Die Ergebnisse weisen in Thüringen auf einen „Antisemitismus ohne Juden“ hin: Dieser richtet sich vor allem in Form eines Schuldabwehr-Antisemitismus gegen die Erinnerungskultur. Die Militanz und Symbolträchtigkeit der Vorfälle belegen jedoch, dass es sich dabei keineswegs um eine harmlosere Variante des Antisemitismus handelt.

Robert Friedrich & Christoph Lammert geben auf Grundlage der Monitorings der Thüringer Beratungsstellen ezra und MOBIT einen Überblick über aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus in Thüringen. Anhand eines Fallbeispiels schildern sie die Schwierigkeiten in der konkreten Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorfällen aus Perspektive eines Betroffenen.

Michael Schüßler erörtert die soziologischen und sozialpsychologischen Bedingungen des Zusammenhangs von Antisemitismus und Weiblichkeitsabwehr. Er bezieht dafür die Veröffentlichungen des rechtsterroristischen Attentäters von Halle sowie eines einflussreichen Protagonisten der weltweiten selbst ernannten Männerrechtsszene ein und zeigt, wie eng misogyne bzw. antifeministische Einstellungen mit Antisemitismus verbunden sind. Bezugspunkt beider Einstellungen ist ein vorgebrachter Kampf um eine männlich-weiße Vorherrschaft.

Die Verschränkungen von Antifeminismus und Antisemitismus greifen auch Florian Hessel & Janne Misiewicz in ihrem Beitrag auf. Sie führen in das gesellschaftsgeschichtliche und konzeptionelle Verhältnis von Antifeminismus und Antisemitismus ein und analysieren anhand eines Beispiels, inwiefern gegenwärtiger Antifeminismus auch antisemitisch codiert sein kann und umgekehrt. Sie folgern, dass Antifeminismus eine wichtige ideologische wie organisatorische Integrations- und Scharnierfunktion zwischen verschiedenen politischen Lagern und Milieus bildet, die wiederum an antisemitische Einstellungen anschlussfähig ist.

Natascha Müller setzt sich mit einem zentralen antisemitischen Akteur der politischen Linken auseinander, und zwar mit der globalen Boykott, Divestment & Sanctions (BDS)-Kampagne gegen Israel. Mithilfe der Analyse konkreter Forderungen und Ziele der Kampagne entwickelt sie das Konzept eines „menschenrechtsorientierten Antisemitismus“. In dessen Zentrum, so der Beitrag, steht die antisemitische Fantasie einer „guten“ palästinensischen Menschenrechtsgruppe, während Israel antagonistisch als Feind der Menschheit verstanden wird.

Lisa Johanne Jacobs wendet sich einem zentralen Austragungsort antisemitischer Artikulation der Gegenwart zu – und zwar dem Internet. Nach einem vorausgeschickten Überblick zur Internetnutzung und -kommunikation stellt sie dar, wie Verbalantisemitismus im Internet und den sozialen Medien artikuliert wird. Dabei skizziert sie exemplarisch die wichtigsten Ergebnisse der Studie „Judenhass im Internet“ und diskutiert mögliche Gegenstrategien für die Zivilgesellschaft.

Jannis Niedick wendet sich in einer Fallstudie dem sozialen Netzwerk Twitter zu. Sein Beitrag untersucht Äußerungen von AfD-Abgeordneten im Hinblick auf das Sprechen über Antisemitismus, Judentum und Israel anlässlich des Holocaustgedenktages 2020. Als Datengrundlage dienten 276.100 Twitter-Tweets von 243 Abgeordneten. Der Beitrag belegt: Die Tweets zeugen von einer inhaltsleeren abstrakten Form der Erinnerung, in der weder die Opfer noch die Täter*innen oder gesellschaftliche Strukturen, die zum Holocaust führten, benannt werden. Stattdessen wird durch eine Überbetonung des muslimischen Antisemitismus von antisemitischen Äußerungen in den eigenen Reihen abgelenkt.

Im dritten Teil werden Strategien der Aufklärung, Intervention und Gegenwehr aus der Praxis vorgestellt. Daniel Poensgen & Julia Kopp stellen in ihrem Beitrag die Arbeit der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) im Bundesgebiet vor. Die Melde- und Dokumentationsstellen, die es derzeit in Bayern, Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Thüringen gibt, verbinden betroffenenorientierte Arbeit und zivilgesellschaftliches Monitoring antisemitischer Vorfälle mit wissenschaftlichen Methoden zur qualitativen Einordnung. Mithilfe einer Auswertung der seit 2017 gesammelten antisemitischen Vorfälle belegen sie, dass Antisemitismus unterschiedliche politische Spektren verbindet und dass von der Existenz antisemitischer Dynamiken auszugehen ist.

Patrick Siegele geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie die historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus antisemitischen Einstellungen wirksam begegnen kann. Auf der Basis langjähriger Erfahrung plädiert er für die regelmäßige Reflexion der eigenen Lernziele und Methoden: Für eine antisemitismuskritische Didaktik sei es notwendig, dass Juden und Jüdinnen nicht nur auf eine Opferrolle reduziert werden. Vielmehr müssten multiperspektivische Zugänge zur Geschichte ermöglicht werden, die wiederum Handlungsspielräume in Geschichte und Gegenwart thematisieren.

Elizaveta Firsova & Christoph Wolf betrachten Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen im Kontext Schule und fokussieren dabei insbesondere Lehrkräfte und ihre Wahrnehmungen zu Antisemitismus und zum Judentum. Am Beispiel der qualitativen Analyse zweier Lehrer*innen-Interviews konturieren sie Problemfelder in der didaktischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Sie leiten Schlussfolgerungen für eine antisemitismussensible Bildungsarbeit ab, die ihren Blick nicht nur auf Schüler*innen richtet, sondern Lehrkräfte als Schlüsselpersonen mitdenkt.

Burak YIlmaz schildert abschließend die unterschiedlichen Erscheinungsformen des islamischen Antisemitismus und zeigt Handlungskompetenzen für die historisch-politische Bildungsarbeit auf. Er tritt für eine anerkennende Pädagogik der unterschiedlichen Lebenswelten deutscher Muslim*innen ein, die keine Konfrontation scheut und gleichzeitig Empathie fördert.

Der Sammelband schließt mit Rezensionen zu aktuellen Publikationen zum Antisemitismus. Matthias Quent rezensiert Ronen Steinkes Sachbuch „Terror gegen Juden“, Nikolas Lelle & Tom Uhlig diskutieren den von Wolfgang Benz herausgebenden Sammelband „Streitfall Antisemitismus“ und Simone Rafael bespricht Pia Lambertys und Katharina Nocuns Sachbuch „Fake Facts“.

 

1 Vgl. Schwarz-Friesel, Monika (2019a): Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl. Hentrich & Hentrich: Berlin. S. 18.