In einem ruhigen, sonnigen Raum im Berliner Landeskriminalamt erinnert sich ein Polizist an seine Jugend, zwischen Fußballplätzen und Tischtennisplatten. Damals sei auch er ein paarmal als Jude angegriffen worden, sagt er. Aber er wäre nie auf die Idee gekommen, das anzuzeigen. ‚Ich muss auch sagen – so blöd es klingt –, das war normal für mich.‘
Die nüchterne Falldarstellung des heutigen Polizisten, der die Untätigkeit und Ohnmacht des Rechtsstaates gegenüber der pathologischen sozialen Normalität von Antisemitismus beschreibt, reiht sich im Buch „Terror gegen Juden“ in eine Vielzahl teils konkret beschriebener und teils anonym gelisteter ähnlicher Fälle ein. Das Werk ist einerseits eine verständliche Einführung und Übersicht und will andererseits auch eine Anklage sein. Beides ist dem Verfasser gelungen.
Der promovierte Jurist Ronen Steinke hat sich als Autor und Redakteur der Süddeutschen Zeitung einen Namen gemacht und dabei immer wieder durch wichtige Recherchen und kluge Analysen zum Rechtsextremismus und zu dessen Bekämpfung veröffentlicht: Unbedingt lesenswert ist Steinkes Abhandlung über den engagierten Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der einst in Zusammenarbeit mit dem israelischen Geheimdienst Adolf Eichmann vor Gericht brachte und der deutschen Justiz im Umgang mit dem Nationalsozialismus einen Spiegel vorhielt. In seinem neuesten Buch beschreibt und kritisiert der Autor, wie Staat und Gesellschaft weiterhin immer wieder die Augen vor dem grassierenden Antisemitismus schließen und die Betroffenen allein lassen. Sachlich und doch einfühlsam beschreibt er, wie einerseits jüdische Schulen unter Polizeischutz stehen müssen. Andererseits berichtet er von deutschen Synagogen, die vom Staat nicht den leider notwendigen Schutz erhalten und damit auf den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft angewiesen sind, um ihren Schutz zu finanzieren und zu organisieren – so wie etwa bei der lebensrettenden Synagogentür in Halle an der Saale. Bei dem antisemitischen Anschlag 2019 in Halle auf die Synagoge an Jom Kippur versuchte ein antisemitischer Attentäter, in der Synagoge ein Blutbad anzurichten. Zuvor hatte die zuständige Landesregierung in Sachsen-Anhalt der Synagoge die technischen Schutzvorkehrungen nicht finanziert – stattdessen mussten internationale Geldgeber einspringen. Die darüber finanzierte Tür rettete schließlich Leben.
Steinke beschreibt die Angst und den Schmerz von Jüdinnen und Juden, die in der Shoah Familienmitglieder verloren haben und sich auch im Nachkriegsdeutschland nicht sicher, nicht geschützt fühlen konnten und die heute als „bedrohte Bittsteller beim Staat“ auftreten. Das Buch stellt die Verbindung her von der Shoah über 1980 bis heute: 1980 wurden in Erlangen der Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke von einem Neonazi mit Verbindungen zur Wehrsportgruppe Hoffmann ermordet. Doch die Ermittler:innen spekulierten über persönliche Motive und ein jüdisches Mordkomplott. Zur großen Stärke des Buches zählt die Suche nach Mustern und Gemeinsamkeiten, die sich nicht nur im Umgang mit antisemitischen Angriffen, sondern auch mit rassistischen, homo- und transfeindlichen Angriffen zeigen: Ermittler:innen machen aus Opfern Täter:innen und die Gesellschaft ignoriert den Hass aus ihrer Mitte. So geschehen im NSU-Komplex, doch auch in vielen alltäglichen Fällen, die es sonst kaum in den Fokus der Öffentlichkeit schaffen.
Das Buch von Steinke will eine Anklage sein und dient obendrein der Versachlichung: Es weist für Nicht-Expert:innen gut verständlich nach, dass die Gefahren des Antisemitismus und der judenfeindlichen Gewalt insbesondere von rechts, aber auch von links und von Muslim:innen ausgehen können. Über allen schwebt dabei der Vorwurf an Staat, Politik, Polizei und Gerichte, den Antisemitismus zu verharmlosen und Betroffene nicht schützen zu können oder zu wollen. Das Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eher ein straffes Kompendium. Zwar wird auf antisemitische Vorfälle in der DDR hingewiesen, doch insgesamt bleibt Antisemitismus und der staatliche Umgang damit in der SED-Diktatur auch in dieser Abhandlung ein weitgehend weißer Fleck.
Dem Buch ist es gelungen, die öffentliche Debatte zu versachlichen und den Finger in die richtigen Wunden zu legen. Steinke liefert Handlungsansätze, die er u. a. darin sieht, Hate Crimes schärfer zu bestrafen, die Justiz für die Gefahr der Übernahme antisemitischer Argumentationen zu sensibilisieren, Rechtsextreme konsequent aus dem Polizeidienst zu entlassen und jüdische Einrichtungen effektiv zu schützen. Nicht mehr als Selbstverständlichkeiten – eigentlich. Doch die von Steinke aufgezeigten Probleme zeigen: Bereits diese geringen Erwartungen werden immer wieder enttäuscht. Umso beschämender ist es für die Bundesrepublik, im Jahr 2020 überhaupt daran erinnern zu müssen.
Ein wichtiger Verdienst des Buches und erschreckend zugleich ist die umfassende und wachsende Chronik antisemitischer Gewalt in Deutschland seit 1945, die das Buch liefert: Die Meldungen reichen von Schändungen jüdischer Friedhöfe 1945 in Bayern bis hin zu einem zündfähigen Sprengsatz in Thüringen im Jahr 2020. Durch die Zuarbeit von Leser:innen ist diese Chronik von 89 Buchseiten in der ersten Auflage in der dritten Auflage um weitere zwei Seiten gewachsen. Der Autor ruft seine Leserschaft dazu auf, antisemitische Angriffe auch über die „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus“ (www.report-antisemitism.de) sichtbar zu machen. Diesem Appell schließt sich der Rezensent an.
In Streitfall Antisemitismus lässt der Historiker Wolfgang Benz eine Reihe von Autor*innen jüngere Debatten um Antisemitismus systematisch entschärfen. Der Streit um die letzte Leitung des Jüdischen Museums Berlin, die antiisraelische Boykottbewegung BDS, den postkolonialen Philosoph Joseph-Achille Mbembe, antisemitische Gewalttaten im Jugendkontext sowie die antisemitische Zeichnung eines Karikaturisten der Süddeutschen Zeitung – in all diesen Fällen wird in dem Buch der titelgebende „Streitfall” Antisemitismus mit der Verharmlosung von Antisemitismus ad acta gelegt. Zugespitzt lässt sich der Inhalt auf drei Hauptthesen reduzieren: 1. Die Thematisierung von Antisemitismus schade dem Kampf gegen Antisemitismus, 2. Es gebe ein Tabu, Antisemitismus und (antimuslimischen) Rassismus zu vergleichen und 3. Es dürfe keine Kritik gegen die Politik Israels geäußert werden. Diese Thesen stehen symptomatisch für die Antisemitismusdebatten der letzten Jahre, die wir im Folgenden problematisieren wollen. Einschränkend möchten wir vorwegschicken, dass wie oft bei Sammelbänden selbstverständlich nicht alle Beiträge jede These unterlegen und sich auch Argumente finden, die wir bekräftigen würden. Eine politisch wie wissenschaftlich adäquate Einschätzung zu israelbezogenem Antisemitismus im Schulkontext etwa liefert Peter Widmann in seinem Beitrag zum Sammelband.
These 1: „Die Thematisierung von Antisemitismus schadet dem Kampf gegen Antisemitismus“
In mindestens zwei Beiträgen wird frappierend offensichtlicher Antisemitismus im Jugendkontext geleugnet, wobei es sich lohnt, einen Blick in die Begründung zu werfen: Michael Kohlstruck schreibt über den Fall eines antisemitischen Angriffs, der sich im April 2018 in Berlin-Prenzlauer Berg ereignet hatte. Ein junger Mann mit einer Kippa wurde von einem anderen wiederholt mit dem Gürtel geschlagen, der dabei immer wieder „Yahud“ (Jude) rief. „Man kann hier ‚Antisemitismus‘ skandalisieren“, schreibt Kohlstruck, „[d]ifferenzierter würde man den Fall verstehen, wenn man den Angriff als strafbare Körperverletzung bewertet und die Tätermotive als jungmännertypisches Macht- und Selbstdarstellungsgebaren im politisierten Kontext des Nahost-Konflikts lokalisiert.“ (S. 142) Kohlstruck beansprucht, den Begriff Antisemitismus zu problematisieren, weil unter ihm alles von der Shoah bis zum Berliner Gürtelangriff subsumiert werden könne: „Unter dem Dach des Allgemeinbegriffs ‚Antisemitismus‘ wird damit ein unausgewiesener Objektwechsel vom Makroverbrechen des Holocaust zu Vorfällen vorgenommen, die man ohne diese Bedeutungsrahmen der leichten Kriminalität zuordnen würde.“ (S. 141f.) Nun begann die organisierte Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden aber nicht mit Auschwitz, sondern mit Emanationen des Antisemitismus, verbaler Gewalt und physischen Übergriffen, die Kohlstruck doch nicht der „leichten Kleinkriminalität“ zurechnen wollen würde. Begründet wird die Bagatellisierung von Antisemitismus im Buch immer wieder damit, dass der Antisemitismusvorwurf bei häufiger Verwendung abstumpfe. Shimon Stein und Moshe Zimmermann fassen diese Position in einem populären Bild zusammen: „Der Hirtenjunge, der zu oft den falschen Hilferuf ertönen ließ, wurde ja mitsamt seiner Schafe vom Wolf gefressen.“ (S. 32) Die Skepsis vor „falschen Hilferufen“ schließt selbst die neueren Meldestellen für antisemitische Vorfälle mit ein. Durch eine Reduktion von Antisemitismus auf physische Angriffe und ihre Androhung wird auch die Arbeit des Monitorings suspekt. Dagegen gilt es festzuhalten, dass es Meldestellen wie RIAS zu verdanken ist, dass heute überhaupt eine näherungsweise Einschätzung der Verbreitung antisemitischer Vorfälle möglich ist.
These 2: Es gibt ein Tabu, Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus zu vergleichen
In seinem ersten eigenständigen Beitrag im Buch „Anspruch auf Einzigartigkeit. Darf man Ressentiments gegenüber verschiedenen Minderheiten vergleichen?“ konstruiert Benz ein vermeintliches Tabu, Rassismus und Antisemitismus miteinander ins Verhältnis zu setzen. Neben einiger begrifflicher Unsicherheit, beispielsweise der mangelnden Differenzierung zwischen Vorurteil und Ressentiment, vertritt Benz hier seine schon öfter vorgetragene These: „Die Methode der Diskriminierung ist von einer Gruppe [den Jüdinnen und Juden, d. A.] auf eine andere [die Muslime, d. A.] übertragbar.“ (S. 86) Auffällig dabei ist, dass Benz mit einer geschichtlichen Bestimmung des Antisemitismus dieser These selbst permanent Gegenargumente liefert. In einer von ihm zitierten Passage des antisemitischen Autors Wilhelm Marr aus dem 19. Jahrhundert zeigt sich die Gleichzeitigkeit von Inferioritäts- und Superioritätsunterstellung, die dem Antisemitismus eigentümlich und gerade nicht auf andere Ideologien wie den antimuslimischen Rassismus übertragbar ist. Auch Daniel Bax wirft in seinem Beitrag die „Frage“ auf, „ob und inwieweit man Vorurteile und Ressentiments gegen Juden mit jenen vergleichen darf, die sich gegen andere Gruppen wie etwa Muslime richten“ (S. 115). Wem sich diese Frage stellt, bleibt ungeklärt, in Forschung und Praxis wird seit Langem versucht, Rassismus und Antisemitismus zusammen zu denken, tabuisiert ist der Vergleich keinesfalls. Was aber zurecht auf Kritik stößt, sind „Vergleiche“, mit denen alle Unterschiede verwischt werden und vollkommen unplausibel behauptet wird, das eine ließe sich aufs andere reduzieren oder habe es in seiner Funktion abgelöst.
These 3: Es darf keine Kritik gegen Israel geäußert werden
Eine der Kernthesen des Buches liegt im Vorwurf, man dürfe keine Kritik gegen die Politik Israels äußern, ohne sogleich als Antisemit*in bezeichnet und aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen zu werden. Zum Teil wird dieses angebliche Tabu beinahe verschwörungstheoretisch anmutend begründet. So schreibt Benz in der Einleitung: „Die extensive Auslegung dieses in erster Linie politischen Phänomens [des israelbezogenen Antisemitismus, d. A.] ist ein Anliegen des zuständigen israelischen Ministeriums für strategische Angelegenheiten.“ (S. 9) Die unheimliche Macht israelischer Public Relations wird allerorts hinter der postulierten Schwierigkeit vermutet, israelische Politik zu kritisieren. Insbesondere Bax spinnt diesen Faden weiter, wenn er den Zentralrat der Juden in Deutschland zum Agent israelischer Außenpolitik stilisiert. Aber auch andere Autor*innen bedienen den Mythos. Alexandra Senfft schreibt, nach der Arbeitsdefinition Antisemitismus, „wird jegliche Kritik an Israel als Bedrohung für das jüdische Leben weltweit definiert und folglich jeder Befürworter von BDS willkürlich zum Antisemiten gestempelt“ (S. 277). Muriel Assenburg behauptet, der BDS-Beschluss des Bundestages sei „nur im Zusammenhang mit einer breit angelegten Kampagne der israelischen Regierung zu verstehen“, die im Kern darauf abziele, „Kritik an israelischer Regierungspolitik pauschal als antisemitisch zu diskreditieren, Kritiker als Terroristen oder Antisemiten zu dämonisieren und ihre Unterstützer einzuschüchtern“ (S. 292f.). Überhaupt ist man im Buch schnell dabei, BDS Unbedenklichkeit zu attestieren. Mag es auch nicht in der Intention aller BDS-Unterstützer*innen liegen, Antisemitismus zu verbreiten, die Hauptziele von BDS laufen auf die faktische Abschaffung Israels hinaus. Durch das ‚Rückkehrrecht‘ sollen die demografischen Verhältnisse derart verändert werden, dass Israel kein mehrheitlich jüdischer Staat mehr wäre – und die Forderung nach dem Abbau von Sicherheitsanlagen ignoriert die lebensbedrohliche Gefahr, der israelische Bürger*innen dadurch ausgeliefert wären.
Ein weiteres Dokument für die Nachwelt
Bisweilen entbehrt das Buch nicht einer unfreiwilligen Komik, etwa wenn Benz sich im Anschluss an Eva Illouz über Rücktrittsforderungen beschwert, nachdem er wenige Zeilen zuvor Rücktrittsforderungen gegen den Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus, Felix Klein, als Verteidigung der „Freiheit der Wissenschaft“ lobte (S. 16) oder Thomas Knieper beim Versuch, die eindeutig antisemitische Karikatur Netanjahus als harmlos auszuweisen („Netanjahu besitzt nun mal eine große Nase und abstehende Ohren“ (S. 199) und gleich noch Krakendarstellungen als „klassisches Symbol politischer Karikatur“ (S. 209) rehabilitieren möchte. Die Widersprüche, in welchen sich die Autor*innen verheddern, rühren aus dem Anspruch, Entwarnungen zu liefern und damit letztlich – ob gewollt oder nicht – zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist, nämlich Antisemitismus. Das Buch wird ein Zeitdokument bleiben, das in weiten Teilen beschreibt, wogegen die Antisemitismuskritik auch weiter praktisch ankämpfen muss – die Haltung des Wegschauens.
Verschwörungserzählungen sind derzeit in aller Munde, auf vielen Handys und in vielen Straßen. Und sie gefährden die Demokratie. Netzaktivistin Katharina Nocun und Psychologin Pia Lamberty haben dazu das Buch der Stunde geschrieben: „Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“. Besonders die Kombination aus psychologischer und (netz-)politischer Analyse macht es interessant.
Im Buch finden die verschiedensten Verschwörungserzählungsanlässe ihre Beachtung, von der strategischen politischen Desinformation über die Klimakrise und ihre Leugner*innen, von Freimaurern und Illuminaten, Anhänger*innen der „Flache Erde“-Erzählung und Echsenmenschen bis zu den Verschwörungserzählungen der extremen Rechten, der Impfgegner*innen und Schulmedizin-Leugner*innen, Esoterik, Antisemitismus – und ein paar Corona-Verschwörungserzählungen haben es auch noch ins Buch geschafft.
Besonders interessant ist die übergeordnete psychologische Analyse der Motive und Handlungs-Trigger, die dazu führen, dass Menschen plötzlich in Verschwörungswelten abtauchen und bisweilen überraschend lange darin verweilen. Alle Menschen haben eine Anlage zur Wahrnehmungsverzerrung. Wir glauben etwa alle lieber Informationen, die zu unserem Weltbild passen. Wir glauben alle am meisten Menschen, die wir als Expert*innen wahrnehmen (auch wenn die vielleicht nur heavy User auf YouTube sind). Informationen, die wir zu einem Thema als Erstes erhalten, halten wir grundsätzlich für glaubwürdiger als solche, die später dazu kommen. Schon deshalb nützen etwa schlaue Studien und Argumente in der Diskussion mit der verschwörungsgläubig argumentierenden Oma allein oft wenig, wenn sie nicht bereit ist, ihre Meinung zu überprüfen. Der Glaube an Verschwörungserzählungen ist kein Randproblem von „Spinner*innen“, sondern in der gesamten Gesellschaft verbreitet – sogar unabhängig von Sozialisation oder Intelligenz.
Aber warum wenden sich manche Menschen nun Verschwörungserzählungen zu? Die Auflistung in „Fake Facts“ klingt wie das Drehbuch zur Coronavirus-„Infodemie“, von der die WHO im März 2020 sprach, und zu dem, was der vegane Koch Attila Hildmann seitdem auf seinem Telegram-Kanal und auf den Demonstrationen in Berlin veranstaltet: Sie fühlen Kontrollverlust, Unsicherheit und Machtlosigkeit. Verschwörungserzählungen bringen für sie vermeintlich Ordnung in eine chaotische Welt. Sie wollen sich einzigartig fühlen, von der Masse abheben. Verschwörungserzählungen bieten das ihren Anhänger*innen, die dann auf die unwissenden „Schlafschafe“ herabblicken. Und sie haben Langeweile – und Verschwörungserzählungen bringen Abwechslung.
Während es vielen Menschen gelingt, auch in einer Ausnahmesituation solidarisch und demokratisch zu bleiben und auf die Expertise von Wissenschaftler*innen und Politiker*innen – und demokratischen Kontrollmechanismen – zu vertrauen, suchen andere Zuflucht in verschwörerischen Welterklärungsmodellen, die allem einem Sinn zu geben scheinen, ein Identitätsangebot machen und zu Handlungen motivieren und diese legitimieren. Spätestens hier wird es problematisch, weil die auserkorenen Feindbilder – oft genug Jüdinnen und Juden, aber auch demokratische Politiker*innen, Wissenschaftler*innen oder aus rassistischen Gründen gewählte Menschen – auch mit Gewalt bis zum Mord bekämpft werden.
Wenn das verschwörungsideologische Weltbild verfestigt ist, braucht es für die Angehörigen professionelle Beratung, etwa durch Beratungsteams gegen Rechtsextremismus, Sektenbeauftragte oder spezialisierte Projekte wie „No World Order“ von der Amadeu Antonio Stiftung. Schnelles Eingreifen kann aber helfen, wenn Menschen gerade erst anfangen, sich in die Verschwörungswelt zu begeben. Deshalb enthält „Fake Facts“ auch hilfreiche Diskussionstipps: Zuerst das Grundgerüst der Annahmen abzuklopfen – ist hier Handlungsbedarf? (Wer zum Beispiel glaubt, das 50 % der Menschen in Deutschland Muslim*innen sind und deshalb Angst vor „Überfremdung” hat, sollte vielleicht zuerst erfahren, dass es nur rund 3 % sind). Oder: die innere Logik von Verschwörungserzählungen hinterfragen (Verallgemeinerungen, Widersprüche, Manipulationsmomente, Geheimhaltung mit Tausenden Mitwisser*innen …). Oder: gemeinsam nach Erklärungen suchen, nicht nach Schuldigen. Ziel der Debatte ist immer, Zweifel an der Verschwörungserzählung wecken.
„Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ ist ein hilfreiches Buch sowohl für den Überblick über problematische Verschwörungsdiskurse als auch für die Entwicklung von Gegenstrategien. Und wer sich jetzt noch fragt, wo der Unterschied zwischen Kritik der Verhältnisse und Verschwörungserzählungen liegt: Er liegt in der Bereitschaft, sich durch rationale Argumente, Belege, demokratische Kontrollmechanismen wie Medien, Wissenschaft oder Justiz davon überzeugen zu lassen, dass die Annahme einer Verschwörung falsch ist. Verschwörungsgläubig ist dagegen, wer an der Verschwörungsidee festhält, auch wenn alle Fakten dagegen sprechen – die Verschwörung also ein Welterklärungsmodell geworden ist.