Wichtig sind dabei auch die Formate der Kommunikation, die ein bestimmtes Verhalten in Chat-Gruppen oder Foren anleiten. Jene Netzkulturen reichen von GIFs aus dem Familienchat bis hin zu Memes und Trolling in digitalen Subkulturen. Netzkulturen sind schwer zu fassen. Sie ergeben sich aus den Kommunikationsweisen von nicht immer klar definierten Gruppen und legen die Maßstäbe und Grenzen der Kommunikation fest. Postings, die in einem Kontext als normal wahrgenommen werden, sind in anderen Kontexten übergriffig und verhetzend. Während die frühe Internetkultur einst die Unabhängigkeit des Cyberspace ausrief, haben wir es heute mit einer Vermischung verschiedenster Netzkulturen zu tun. Die Plattformisierung des Internets durch den Siegeszug sozialer Medien hat dazu geführt, dass ein Netzkultur-Clash tagtäglich und auf verschiedensten Ebenen ausgefochten wird und nun auch randständigen, extremen Positionen eine zuvor nie dagewesene Aufmerksamkeit schenkt.
Die Rolle von Unternehmen ist zentral, sie haben mit der Architektur und dem Design der Plattformen einen herausragenden Einfluss auf die globalen Kommunikations-, Moderations-, und Handlungsregeln. Dass wir es hier nicht mit neutralen Technologien zu tun haben und Tech-CEOs alles andere als unpolitisch sind, haben die Entwicklungen der vergangenen Jahre gezeigt. Am deutlichsten wird das durch die rassistischen und antisemitischen Ausfälle des X-Besitzers Elon Musk, aber auch TikTok musste im Krieg zwischen Israel und der Hamas im Herbst 2023 einsehen, dass Unternehmen eine Verantwortung darüber haben, was auf ihren Plattformen passiert. Die oft vergessene Politik hinter den Plattformen wird im Kontext des Krieges derzeit auch öffentlich verhandelt.
Dieser Band thematisiert das Wechselspiel von Netzkulturen und Plattformpolitiken. Seine Beiträge fragen nach den Logiken und Dynamiken ausgewählter Netzkulturen und werfen die Frage auf, wie diese mit der Strukturierung digitaler Räume zusammenhängen. Gerahmt werden die Beiträge von Reflexionen über das Verhältnis von Demokratie und Digitalisierung sowie zivilgesellschaftliches Engagement gegen Online-Hass und Hetze. Teil I widmet sich dem Themenbereich Demokratie und Digitalisierung. Jan Rau beschäftigt sich mit dem Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Zeiten des digitalen Umbruchs und konstatiert, dass die durch technologischen Wandel entstehenden politischen Möglichkeitsräume sowohl autoritäres als auch demokratisches Potenzial für Demokratien bieten. Der Beitrag von Matthias Quent nimmt konzeptionelle und technologische Grundlagen aktueller Entwicklungen und potenzieller Implikationen des „Metaverse“ für die demokratische Kultur in den Blick und plädiert dafür, dass Forschung, Politik und Zivilgesellschaft frühzeitig Kompetenzen für eine transformative Beteiligung entwickeln, um die Entwicklung des zukünftigen Internets bereits in der Entwicklungsphase mitzugestalten. Anhand von Interviews mit Jugendlichen aus den Jahren 2021 und 2022, in denen die Jugendlichen über ihre Wahrnehmung und Erfahrungen zu Populismus auf sozialen Medien sprachen, diskutiert Johannes Gemkow in seinem Beitrag, wie durch die Wahrnehmung von Populismus auf sozialen Medien Polarisierung entstehen kann.
Der Schwerpunkt des II. Teils liegt auf regressiven Plattform-Kulturen. Mareike Fenja Bauer & Viktoria Rösch rekonstruieren die medialen Praktiken antifeministischer Influencerinnen auf TikTok und Instagram und stellen insb. inhaltliche Anknüpfungspunkte an Self-Care-Diskurse in den sozialen Medien ins Zentrum der Analyse. Anhand empirischer Beispiele werden zwei verschiedene Typen antifeministischer Influencerinnen und deren jeweils spezifische Verbindungslinien an Debatten um Self-Care herausgearbeitet. Phänomenen des Antisemitismus in digitalen Spielen und ihren Communitys widmet sich Constantin Winkler. Nach einer Problemeinführung wird anhand von Beispielen u. a. aufgezeigt, wie Antisemitismus in digitalen Spielen, Modifikation, Spielpraxis und auf Community-Plattformen in Erscheinung tritt. Mick Prinz geht der Frage nach, wie und warum Neonazis und insb. Rechtsterroristen auf Videospielplattformen aktiv sind. Neben dem Attentat von Halle werden auch die Anschläge von Buffalo, Christchurch oder München auf Bezüge zur Gaming-Welt analysiert.
Die Beiträge des III. Teils setzten sich mit Plattformmoderation und -politik auseinander. Maik Fielitz & Marcel Jaspert geben einen Überblick darüber, welche Rolle die Gestaltung von Plattformen für die Verbreitung von rechtsextremen und verschwörungsideologischen Inhalten spielt. Auf Grundlage eines Datensatzes von über 400 Dokumenten werden Determinanten der Plattformpolitik identifiziert und eine Periodisierung der Maßnahmen vorgeschlagen, die ein besseres Verständnis zum Umgang von Plattformen mit Hass und Extremismus geben. Mit Care-Arbeit für die Kommentarspalten beschäftigen sich Alina Darmstadt, Antonia Graf, Oliver Saal & Teresa Sündermann. Dargestellt werden die regulierenden und diskursfördernden Instrumente, die Community-Manager*innen zur Verfügung stehen, und es werden Wege aufgezeigt, mit denen die Rolle und das Prestige von Community-Manager*innen sowohl auf der gesellschaftlichen als auch der Organisationsebene gestärkt werden können.
Teil IV beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlichen Interventionen. Fabian Klinker analysiert in seinem Beitrag Auftritt, Kommunikationsstrategien und Ansprache der heterogenen Klimabewegung in Deutschland auf Social-Media-Plattformen. Vorgestellt wird ein umfangreicher Datensatz, der aus 17 Quellensets verschiedener Akteur*innengruppen besteht. Es wird die inhaltlich diverse wie strategisch-kommunikative Schwerpunktsetzung des Akteur*innenfelds herausgearbeitet. Benedikt Friedrich untersucht mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse zahlreicher Bilder, Videos und deren Beschreibungstexte radikalisierende Online-Inhalte der Querdenken-Bewegung auf Twitter. Er identifiziert sechs Hauptansprachen und entwickelt zu ebendiesen konkrete Handlungsmöglichkeiten der politisch-bildnerischen Praxis, deren Grenzen und Potenziale im Umgang mit gesellschaftlichen Konfliktthemen eingeordnet werden. Laura Ascone, Karolina Placzynta & Chloé Vincent vergleichen antisemitische Hassrede und Gegennarrative in Online-Kommentarspalten im britischen und französischen Kontext – insgesamt wurden 48.251 Webkommentare gesammelt und mithilfe eines gemischten Methodenansatzes analysiert. In der quantitativen Analyse werden sowohl der Anteil als auch die Entwicklung antisemitischer Kommentare und Gegennarrativen in verschiedenen Sub-Korpora beleuchtet. Monika Hübscher & Nicolle Pfaff betrachten in ihrem Beitrag Umgangsformen junger Menschen mit Antisemitismus und Hass in den sozialen Medien und diskutieren diese vor dem Hintergrund der ihnen zugrunde liegenden Technologien. Mit Social-Media Literacy und Dekonstruktion werden zwei Strategien zur Intervention gegen antisemitische Hate Speech vorgeschlagen.
Der Band schließt wie gewohnt mit der Rubrik Aktuelles aus der Forschung, in der Zusammenfassungen ausgewählter wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu den Themenbereichen „Rechtsextremismus- und Demokratieforschung“ sowie „Vielfalt, Engagement und Diskriminierung“ kompakt dargestellt sind.
Die Zusammenstellung dieser Beiträge informiert die Zivilgesellschaft, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen über die neusten Trends und Dilemmata im Bereich von Netzkulturen und der Politik digitaler Plattformen. Kollaborative Zusammenarbeit und interdisziplinäre Perspektiven sind heute unerlässlich, um die Zukunft unserer demokratischen, aber auch technologisierten Gesellschaften zu gestalten.