Einleitung

Der Begriff „Sicherheit“ spielt in demokratischen Gesellschaften eine zentrale, jedoch oftmals vielschichtige und auch umstrittene Rolle. Im November 2024 titelt das Magazin Der Spiegel reißerisch „Sind wir sicher?“ und diskutiert eine steigende Unsicherheit in der Form von (Angst vor) Gewalt, Kriminalität und Terror in der deutschen Gesellschaft. Doch in der öffentlichen und politischen Diskussion wird Sicherheit nicht nur als Abwesenheit von Gefahr verstanden, sondern zunehmend auch als Garant für soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und individuelle Würde. In dieser erweiterten Perspektive umfasst Sicherheit nicht nur den Schutz vor äußeren Bedrohungen, sondern auch die Gewährleistung der Lebensbedingungen für alle Mitglieder einer Gesellschaft. Unter einem Sicherheitsbegriff, der zunehmend soziale und humanitäre Dimensionen umfasst, artikulieren unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen teils konkurrierende Sicherheitsbedürfnisse – die oftmals auch im Widerspruch zu den staatlichen Möglichkeiten sowie dem Willen, diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, stehen. Das hat zur Folge, dass nicht alle Sicherheitsbedürfnisse und -erwartungen gesellschaftlich gleich wahrgenommen, anerkannt und beantwortet werden.

Somit stellt sich die Frage, wer eigentlich dieses „Wir“ ist, auf das sich Der Spiegel bezieht. Oder anders gesprochen: Es ergibt sich die große Herausforderung, wie die unterschiedlichen Erfahrungen und Bedürfnisse von Sicherheit in einer pluralen Gesellschaft sichtbar gemacht und verhandelt werden können. Sicherheit wird dabei nicht nur durch staatliche Institutionen definiert, sondern auch durch die gesellschaftliche Aushandlung von Bedrohungswahrnehmungen. Diese Aushandlung ist nicht neutral, sondern durch bestehende Machtverhältnisse und gesellschaftliche Hierarchien geprägt. Ein besonders auffälliges Beispiel hierfür ist die öffentliche Diskussion über Migration und Flucht, in der häufig die Vorstellung einer Bedrohung durch „Zuwanderung“ konstruiert wird. Die Sicherheitsbedürfnisse von Geflüchteten, Migrant*innen oder rassismusbetroffenen Gruppen werden in dieser Debatte jedoch oft nur am Rande berücksichtigt. So erleben besonders vulnerable Gruppen wie jüdische Menschen, Migrant*innen, Menschen mit Behinderungen oder wohnungs- und obdachlose Menschen Unsicherheiten, die nicht nur aus unmittelbaren Bedrohungen resultieren, sondern auch aus strukturellen und historischen Diskriminierungen, die ihre Lebensrealitäten prägen. Für jüdische Menschen beispielsweise manifestiert sich Unsicherheit durch die anhaltende Präsenz von Antisemitismus, der sich sowohl in sozialen Vorurteilen als auch in gewalttätigen Angriffen äußert und das tägliche Leben der Betroffenen massiv beeinflusst.

Die strukturellen Ungleichheiten, die diese unterschiedlichen Erfahrungen und Bedürfnisse von Sicherheit prägen, verlangen nach einer kritischen Auseinandersetzung mit den Konzepten und Praktiken staatlicher Sicherheit und deren Auswirkungen auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Teilhabe. Der Sammelband stellt diese Fragen und Auseinandersetzungen in den Mittelpunkt der Diskussion. Dabei legen wir einen besonderen Fokus auf die Perspektiven verschiedener gesellschaftlicher Gruppen auf Fragen von Sicherheit und Unsicherheit. Zudem beleuchten wir, wie Auseinandersetzungen mit struktureller Diskriminierung und Vorurteilen innerhalb von Institutionen stattfinden (können), um Sicherheit für alle Mitglieder der Gesellschaft zu erhöhen. Neben staatlichen Institutionen nehmen wir zivilgesellschaftliche Akteur*innen in den Blick, die in der Entwicklung alternativer Sicherheitsstrategien und in der Unterstützung von Menschen, die von Unsicherheit und Gewalt betroffen sind, zentrale Funktionen übernehmen. Allen Beiträgen ist dabei gemeinsam, dass sie versuchen, Antworten auf die Frage zu bieten, wie Sicherheitsstrategien in einer offenen, pluralen Gesellschaft gestaltet werden können, die nicht nur den Schutz, sondern auch die Teilhabe und die Würde aller Menschen gewährleisten.

Der Schwerpunkt des I. Teils liegt auf (Un-)sicheren Lebensrealitäten: Erfahrungen und Perspektiven vulnerabler Gruppen. Laura Cazés gibt in einem Interview eindrücklich Auskunft über die verschiedenen Ebenen, auf denen Sicherheitsanliegen die Lebensrealität von Jüdinnen und Juden prägen, die Rolle von staatlichen Institutionen und Zivilgesellschaft bei der Schaffung eines (Un-)Sicherheitsgefühls für jüdische Communities sowie die Leerstelle der jüdischen Perspektive in intersektionalen Diskursen. Leonie Stoll & Caroline Bossong ergründen unter Anwendung der dokumentarischen Methode Orientierungen von (migrantisierten) Lehrer*innen zum Thema Sicherheit und Unsicherheit im Schulalltag in Thüringen und Hessen und argumentieren, dass es verstärkt Konzepte und Handlungsstrategien braucht, die dem Erstarken rechter Bestrebungen im Bereich Schule angemessen und wirkungsvoll begegnen. Der Beitrag von Matthias Müller verdeutlicht, dass Sicherheitserwartungen von Menschen mit Behinderung in öffentlichen Debatten eine geringe Rolle spielen, obwohl sie mit struktureller Gewalt und Diskriminierung konfrontiert sind. Er zeigt auf, wie im Entwicklungsprozess organisationaler Schutzstrukturen Wissen über Sicherheitserwartungen von Menschen mit Behinderung sowie demokratische Teilhabe erarbeitet werden können. Tim Lukas & Peter Imbusch setzen sich mit selektiven Sicherheitsstrategien des Staates in Bezug auf wohnungs- und obdachlose Menschen auseinander und machen sichtbar, dass für Menschen mit dem Lebensmittelpunkt auf der Straße spezifische Maßnahmen bemüht werden, durch die ihre besondere Schutzbedürftigkeit unter Verweis auf sicherheits- und ordnungspolitische Überlegungen außer Kraft gesetzt wird.

Teil II widmet sich dem Themenbereich Strukturen der (Un-)Sicherheit. Der Beitrag von Luise Klaus untersucht auf Grundlage der Studie „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ die Erfahrungen von Personen of Color und Personen mit Migrationsgeschichte im Kontext polizeilicher Gewaltausübung und zeigt auf, wie diese sich von den Erfahrungen weißer Betroffener unterscheiden. Leon Rosa Reichle & Janine Dieckmann gehen der Frage nach, wie sich Polizei als Organisation, die reibungslos funktionieren und gesellschaftliche Stabilität und Sicherheit gewährleisten soll, mit Rassismus auseinandersetzt. Dafür diskutieren sie Forschungsergebnisse aus qualitativen Erhebungen in zwei Polizeibehörden. Ausgehend von dem Befund, dass staatsfeindliche Gedanken auch bei (aus-)gebildeten Amtsträger*innen des Staates zu finden sind, macht Bastian Adam bezogen auf zukünftige Polizist*innen der Bundespolizei auf das präventive Potenzial von Gedenkstättenbesuchen aufmerksam. Er legt aus beruflicher Perspektive dar, dass diese historischen Orte besser als reiner Unterricht dazu geeignet sind, Menschenwürde erfahrbar zu machen und (demokratische) Resilienz zu stärken. Nadine Sylla betrachtet den medialen Diskurs über Asyl und rassistische Gewalt Anfang der 1990er-Jahre und zeigt anschaulich: Die Asyl- bzw. Schutzsuchenden kommen als Opfer der Gewalt im Diskurs kaum vor, vielmehr nehmen die Gefühle der Verunsicherung und das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung einen großen Raum ein.

Die Beiträge des III. Teils drehen sich um das Thema Sicherheit schaffen: Reaktionen und Gegenstrategien zivilgesellschaftlicher Akteur*innen. Rachel Spicker nimmt Perspektiven auf Sicherheit im Kontext des selbstbestimmten Gedenkens und Erinnerns an den Anschlag von Halle und Wiedersdorf am 9. Oktober 2019 in den Blick und zeigt an gängigen Narrativen um den Anschlag, dass diese v. a. das Bild von Jüdinnen*Juden als passive Opfer reproduzieren. Deutlich wird, wie wichtig selbstbestimmtes Erinnern und Gedenken und communityübergreifende Solidarität sind, um Handlungsfähigkeit und Stabilität zurückzugewinnen. Nina Perkowski & Aziz Epik stellen auf Grundlage von partizipativen Workshops in verschiedenen Hamburger Stadtteilen vor, wie (Un-)Sicherheit in Hamburg erlebt wird und wie das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung gestärkt werden kann. Dabei betonen sie die Vielfalt der gesellschaftlichen Verständnisse von und Erwartungen an Sicherheit im direkten sozialen Umfeld. Katja Nonn & Svea Wunderlich geben im Gespräch Auskunft über die vielfältigen Bedrohungslagen, denen sich zivilgesellschaftlich Engagierte in Thüringen alltäglich ausgesetzt sehen und berichten von unterschiedlichen Gegenmaßnahmen, die sie daraufhin entwickelt haben. Joscha Lell, Laura Gdowzok & Lena Kuhn gehen auf Grundlage ihrer Erfahrungen als Mitarbeitende einer Beratungsstelle für Betroffene von Hatespeech den Fragen nach, welche Unsicherheiten als Folge von rechter, rassistischer, antisemitischer oder weiterer gruppenbezogener menschenfeindlicher Gewalt und Bedrohung im Internet entstehen und wie mit diesen umgegangen werden kann.

Der Band schließt wie gehabt mit der Rubrik Aktuelles aus der Forschung, in der Zusammenfassungen ausgewählter wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu den Themenbereichen „Rechtsextremismus- und Demokratieforschung“ sowie „Vielfalt, Engagement und Diskriminierung“ kompakt dargestellt sind.