Hintergrund
Mit dem Bericht der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages 2002 über die Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements (BE) und dessen Funktion für die Zivilgesellschaft rückte dieses vermehrt in das Forschungsinteresse. Unter BE werden nicht nur traditionelle, d. h. freiwillige, gemeinwohlorientierte und nicht auf den materiellen Gewinn ausgerichtete Formen des Engagements verstanden (vgl. Enquête-Kommission 2002, Olk/Hartnuß 2011, Stricker 2007). Es handelt sich dabei um einen Sammelbegriff, der immer häufiger andere Formen des Engagements mitberücksichtigt (Hartnuß 2018: 20). Diese sind meist vielfältiger, zeitlich begrenzt und wie das Format der Freiwilligendienste tätigkeits- und ausbildungsorientiert (Stricker 2007: 31). Mit der normativen Ausrichtung des Begriffs auf die Gemeinwohlverantwortung der Bürger- bzw. Zivilgesellschaft in Bezug auf die verschiedenen Teilhabe- und Mitbestimmungsmöglichkeiten bietet BE zudem Raum für Selbstbestimmung und -organisation und ist somit ein wichtiges Element, um demokratische und soziale Strukturen zu schaffen und zu stärken (Enquête-Kommission 2002: 25, Hartnuß 2018: 20).
Seit Sommer 2015 lässt sich in Deutschland eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft in Form von Projekten und Initiativen beobachten, die sich intensiv mit den Herausforderungen der Zuwanderung von Geflüchteten1 auseinandersetzen (Schiffauer et al. 2017: 13). In der Flüchtlingssozialarbeit zeigte sich, dass viele Einrichtungen auch auf die Unterstützung von Personen mit eigener Fluchterfahrung angewiesen waren (Knüvener/Kemnitzer 2016: 8). Jedoch gibt es bislang nur wenige Erkenntnisse über das BE von Geflüchteten in Deutschland und wie sich dieses auf die gesellschaftliche Teilhabe der Engagierten auswirkt (Turac 2017: 39).
Die AWO in Sachsen geht davon aus, dass sich die gesellschaftliche Teilhabe von Personen verbessert, wenn sie die Chance bekommen, sich für andere Menschen zu engagieren. Mit der Entwicklung und Umsetzung des Sonderformats des Bundesfreiwilligendienstes mit Flüchtlingsbezug2 wurde ein erster Schritt getan, der die Bedeutung der Teilhabe Geflüchteter am zivilgesellschaftlichen Leben erkannt, ermöglicht und gefördert hat. Somit liegt der Fokus der Untersuchung nicht auf dem Engagement für Geflüchtete, sondern auf dem Engagement von Geflüchteten. Mit der Umsetzung des Projektes verband sich zudem das Ziel, Geflüchtete als Zielgruppe für BE zu erschließen und darüber als (aktive) Mitglieder zu gewinnen.
Was bedeutet Integration in modernen heterogenen Gesellschaften?
Aufgrund zunehmender funktionaler und sozialer Differenzierungsprozesse wird die Frage nach der generellen Machbarkeit von Integration in differenzierten Gesellschaften laut (Friedrichs/Jagodzinski 1999: 11). Bislang gibt es jedoch kaum theoretische Ansätze, wie dauerhafte Integration in heterogenen Gesellschaften gestaltet werden kann (Vortkamp 2008: 62). Die meisten klassischen Ansätze folgen der Annahme der Anpassung Zugewanderter an eine homogene Mehrheitsgesellschaft (Assimilation) und sind damit aus wissenschaftlicher und vor allem (gesellschafts-)politischer Sicht defizitär (Hans 2016: 35ff.). Ein empirisch-analytisches Begriffsverständnis erlaubt es, der Frage nachzugehen, ob Assimilation als notwendige Bedingung für Integration angesehen werden kann oder inwiefern neue Konzepte herangezogen werden müssen (ebd.). Eine moderne Gesellschaftsanalyse beruht auf einer Wertschätzung von Diversität, der Herausbildung eigener Identitäten und der Anerkennung kultureller Unterschiede (vgl. Yildiz 2015).
Integration durch bürgerschaftliches Engagement?
Integration durch BE kann als ein hierarchisch gegliederter Prozess verstanden werden, bei dem sich Individuen in bestimmte Gruppen (z. B. Organisationen, Verbände, Vereine) integrieren, die wiederum integrierte Bestandteile der Gesellschaft sind. Der erste Teilprozess wird als Sozialintegration, der zweite als Systemintegration bezeichnet (Hans 2016: 25, Vortkamp 2008: 76f.).
Ob sich jemand engagiert oder nicht, ist dann wiederum von verschiedenen soziodemografischen und ökonomischen Faktoren (z. B. Alter, Bildung, Einkommen) sowie persönlichen Erfahrungen abhängig. Dabei unterscheiden sich Menschen mit und ohne Migrationserfahrung kaum. Die Bereitschaft zum Engagement ist bei Migrant_innen sogar höher als bei Deutschen ohne Migrationshintergrund (Vogel et al. 2017: 601). Eine eigene Migrations- bzw. Fluchterfahrung ist jedoch fast immer mit einem Statusverlust infolge des Abbruchs oder der Entwertung von Bildungs- und Berufskarrieren verbunden (Oswald 2006: 213). Umso bedeutender ist die Rolle von BE, das als Produzent von Sozial- und Humankapital gilt (vgl. Hartnuß 2018, Huth 2011, Stricker 2007).
Die integrative Wirkung von BE kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Aus Sicht der Geflüchteten hat BE die oben beschriebenen Effekte. Aus Sicht der Kommunen erfüllt es zwei integrationsfördernde Aufgaben. Zum einen wird die komplexe Aufgabe der Ermöglichung von Teilhabe durch die vielfältigen Möglichkeiten zum Engagement auf mehrere gesellschaftliche Bereiche verteilt. Zum anderen können durch gemeinsame Aktivitäten bestehende Vorbehalte und Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Geflüchteten (und umgekehrt) abgebaut und gegenseitiges Verständnis gefördert werden (Reinhold 2015: 31). Aus der Migrationsforschung ist bekannt, dass sich das Ausmaß der Integration von Zugewanderten und deren Engagement wechselseitig bedingen (vgl. Huth 2011). So ist davon auszugehen, dass eine Integration über BE nur stufenweise erfolgen kann und ein Mindestmaß an Integration voraussetzt.
Integrationspotenziale ländlicher Räume
Laut Deutschem Freiwilligensurvey 2014, der Personenbefragung zum BE, engagieren sich Menschen in ländlichen Räumen und in den alten Bundesländern3 anteilig häufiger. Das wirkt sich positiv auf die soziale Integration aus. Der Anteil Engagierter ist in Großstädten (39 %) am geringsten und in ländlichen Kreisen mit Verdichtungsansätzen (46 %) am größten. Städtische Räume stellen zwar ein höheres Angebot von Aktivitäten bereit, diese stehen allerdings in einem stärkeren Konkurrenzverhältnis (Hameister/Tesch-Römer 2017: 549ff.). Die Ergebnisse des ZiviZ-Survey (Zivilgesellschaft in Zahlen), einer Organisationenbefragung zum BE, verzeichnen jedoch einen stetigen Rückgang der Mitgliederzahlen und Engagierten in ländlichen Räumen, während in Großstädten ein gegenläufiger Trend erkennbar ist (Priemer et al. 2017: 35f.). Der Integrationsvorteil großstädtischer Organisationen liegt in der stärkeren kulturellen Diversität ihrer freiwillig Engagierten und Mitglieder. Allerdings stellen Ohliger und Kolleginnen (2017) in ihrer Bedarfsanalyse fest: Im ländlichen Raum leben nicht nur weniger Migrant_innen, sondern diese Räume sind auch weniger durch Arbeitsmigration als durch staatlich regulierte Zuwanderung von Fluchtmigrant_innen gekennzeichnet. Folglich gibt es dort wenig Engagement von bereits integrierten Migrant_innen, welches eine ‚Brückenfunktion‘ für die Integration von Geflüchteten erfüllen könnte (ebd.: 5). Aus einer Untersuchung zur Aufnahme und Integration von Geflüchteten in ländliche Räume geht hervor, dass kleine Gemeinden über schlechtere Ausgangsbedingungen verfügen als beispielsweise Kommunen mit mittelzentraler Funktion. So weisen Kommunen mit einem adäquaten Bildungs- und Arbeitsplatzangebot, einer besseren Infrastruktur und Erreichbarkeit sowie einer koordinierten Integrationspolitik bessere Integrationspotenziale auf (Mehl 2017: 23). Die Sozialräume ländlicher Gemeinden sind im Vergleich stärker durch soziale Kontrolle und eine höhere Ablehnung von Fremden gekennzeichnet. Dadurch ist das Meinungsklima gegenüber Geflüchteten im ländlichen Raum noch stärker davon abhängig, inwieweit lokale Politiker_innen und angesehene Akteur_innen der Zivilgesellschaft den Geflüchteten zu- oder abgeneigt gegenübertreten (Glorius 2017: 93ff.).
Bürgerschaftliches Engagement von Geflüchteten
Ein Ehrenamt ist für Geflüchtete vor allem dann interessant, wenn dadurch das Gefühl vermittelt wird, etwas Sinnstiftendes zu tun, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und diesen helfen zu können. Dabei ist der Reziprozitätsgedanke stark ausgeprägt. Für die soziale Integration spielen persönliche Kontakte zur Aufnahmegesellschaft eine entscheidende Rolle (vgl. Speth 2018, Vortkamp 2008). Geflüchtete können sich durch ein Engagement als wertgeschätzten Teil einer Gesellschaft fühlen (Börsting 2017: 83ff.). Neben dem Erwerb der deutschen Sprache, von (Alltags-)Wissen und tätigkeitsbezogenen Fertigkeiten und Erfahrungen können sie sich Kompetenzen hinsichtlich kultureller Konventionen aneignen, welche sie später beispielsweise im Erwerbsleben anwenden können (vgl. Reinhold 2015, Stiehr/Stiehr 2016, Speth 2018). Vergleichsweise wenig Aufschluss bietet der Forschungsstand über die Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen Geflüchtete und Einsatzeinrichtungen konfrontiert werden. Börsting beschreibt hier die falsche Wahrnehmung des Engagements als Erwerbstätigkeit, was oft einhergeht mit Enttäuschung oder dem Gefühl, ausgenutzt zu werden (2017: 84f.).
Informationen zur Studie
Die Studie des AWO Landesverbandes Sachsen geht der Frage nach, was Menschen mit Fluchterfahrung dazu bewegt, sich bürgerschaftlich zu engagieren und welche Perspektiven sich dadurch für sie und für Trägerorganisationen in Sachsen ergeben. Da die Voraussetzungen und Wirkungen von BE von Geflüchteten bislang kaum erforscht sind, stehen zum einen die Motive sowie die Herausforderungen im Fokus der Untersuchung. Zum anderen werden die positiven und negativen Effekte in der Zusammenarbeit von Geflüchteten und Aufnahmegesellschaft untersucht. Dabei interessiert auch, ob sich Unterschiede in Abhängigkeit vom Engagementformat (Freiwilligendienst vs. Ehrenamt) und von der Engagementregion (ländlich vs. städtisch) beobachten lassen.
Die Untersuchung des BE Geflüchteter in Sachsen verfolgt einen explorativen Ansatz. Dazu wurden insgesamt 16 teilstandardisierte qualitative Interviews in ländlichen und städtischen4 Regionen Sachsens zur Datenerhebung durchgeführt. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich von Juli 2018 bis Februar 2019. Die Zielgruppen der leitfadengestützten Einzel- und Gruppeninterviews waren ehrenamtlich engagierte und im Freiwilligendienst tätige Geflüchtete sowie Vertreter_innen der Einsatzstellen. Die Auswahl der Interviewpartner_innen erfolgte bewusst anhand eines qualitativen Stichprobenplans. Die Interviews wurden von einer Mitarbeiterin des AWO Landesverbandes auf Deutsch geführt.5 Auf einen Dolmetscheinsatz wurde verzichtet, um sich in der Befragungssituation vom BAMF abzugrenzen und eine vertrauensvolle Interviewatmosphäre zu schaffen. Die Auswertung der Daten fand computergestützt mittels MAXQDA statt. Als Methode kam die inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz und Schreier zur Anwendung, die eine deduktiv-induktive Vorgehensweise bei der Codierung des Materials erlaubt (Schreier 2014: 5ff.).
Erste Untersuchungsergebnisse
Motivlagen und Herausforderungen
Hinsichtlich der Motive decken sich die Ergebnisse der AWO-Studie mit denen vorangegangener Forschung. Dabei unterscheiden sich diese nur marginal in Abhängigkeit vom Engagementformat und nicht in Abhängigkeit der Engagementregion.
Ein Freiwilligendienst wird dann ausgeübt, wenn es darum geht, sich seinem Berufswunsch zu nähern und sich für diesen zu qualifizieren: „Also ich arbeite als Freiwilligendienst oder Bufdi […], weil ich arbeiten möchte. Nicht, weil ich Geld verdienen möchte. Einfach mehr lernen, […], wie ein Ausblick haben zu meinem Beruf.“ (EI_7, FWD, 2019) Entscheidend ist der Kontakt zu anderen Menschen – entweder um ihnen zu helfen, sich ein soziales Netzwerk aufzubauen, oder um durch die Kommunikation die deutsche Sprache zu verbessern. Er dient dazu, Arbeit und Lernen sinnvoll miteinander zu kombinieren, vor allem dann, wenn sich keine anderen Erwerbsmöglichkeiten ergeben: „Man muss arbeiten, etwas zu tun, das bringt man die psychologische Gesundheit, die körperliche Gesundheit, den Selbstrespekt wie gesagt, die Selbstanerkennung und die Anerkennung der Anderen, das ist sehr wichtig.“ (EI_4, FWD, 2018)
Die in den Interviews benannten Probleme sind häufig von persönlichen Erfahrungen und Ressourcen abhängig. Da sind anfängliche Verständigungsprobleme aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse, eine Überlastung durch sich überschneidende Rechte und Pflichten und die ungewohnt bürokratischen Strukturen. So berichteten zwei Freiwillige: „Na ja, Schwierigkeiten mit Sprache und so, das war schon, ja.“ (EI_8, FWD, 2019) „Erst morgens im Kurs Deutsch, nachmittags hier im [Einsatzstelle]. Natürlich die Familie hat ein Recht auch, dass ich [bei] der Familie bleibe. Dass ich mich auch um die Kinder kümmer.“ (EI_4, FWD, 2018)
Regionaltypische Schwierigkeiten ließen sich anhand der geführten Interviews nicht feststellen. Die Interviews zeigten jedoch eine Überlastung der Engagierten im Tätigkeitsfeld der Geflüchtetenhilfe. Da, wo sich Geflüchtete für andere Geflüchtete engagieren, kommt es vor, dass sie sich aufgrund der fehlenden Sprachbarriere zu stark von ihren Klient_innen vereinnahmen lassen. In einem Fall ist der Freiwillige „geflüchtet vor dieser ganzen Arbeit. Der musste hier wegziehen, damit er davon wegkommt“ (GI_3, GU, 2018). Eine andere Einsatzstelle berichtete: „[…] dass eben Sprachkurs, Ausbildung, Arbeit Vorrang hat“ und das Engagement mit den genannten Aktivitäten in Konkurrenz steht, was zu einer „Überanspruchung“ der Engagierten und relativ hohen Fluktuationsraten führt (GI_2, MBE, 2018).
Effekte in der Zusammenarbeit von Geflüchteten und Aufnahmegesellschaft
Alle Engagierten berichteten, durch das Engagement und vor allem durch die Kommunikation mit den Kolleg_innen ihre Deutschkenntnisse und ihr Wissen über die deutsche Kultur verbessert zu haben: „Erst mal habe ich meine Sprache verbessert […].“ (EI_2, EA, 2018) „Was man lernt, lernt man, wenn man mit den anderen kommuniziert. […] Ich lerne das System kennen, das ist nicht einfach. Die Kultur, die Leute, das lernt man nie von Büchern.“ (EI_4, FWD, 2018) Gleichzeitig konnten sie ihre sozialen Kontakte zur Aufnahmegesellschaft erweitern. Das Verhältnis zu den Kolleg_innen wird insgesamt zwar freundschaftlich beschrieben, dennoch als kollegial bezeichnet: „Ich war sehr zufrieden mit der Arbeit, mit meinen Arbeitskollegen. Ja, wir sind sehr so wie Freunde auf Arbeit.“ (EI_3, ehem. EA+FWD, 2018) Gelegenheiten zu privaten Interaktionen jenseits der Arbeitskontexte ergaben sich nur punktuell.
Allerdings hat das Engagement dazu beigetragen, dass sowohl die Geflüchteten als auch die Mitarbeiter_innen der Einsatzstellen die unterschiedlichen Normen und Werthaltungen des jeweils anderen besser kennenlernen und akzeptieren konnten. Dies wurde im Vergleich häufiger von Engagierten in städtischen Regionen erwähnt:
Ich finde das auch toll, dass ich durch die Kommunikation mit den Anderen, durch die Sprache, […] durch Akzeptanz, […] dass ich die Anderen akzeptiert habe, dass die Anderen mich auch akzeptiert haben. (EI_4, FWD, 2018)
Weiterhin profitieren gerade die Einsatzstellen im Bereich der Geflüchtetenhilfe durch die Unterstützung in der Sprach- und Kulturmittlung. Eine Mitarbeiterin berichtete, dass ihre Engagierten „quasi als Vermittler […], ein ganz anderes Verständnis“ mitbringen und so „eine große Hilfe“ sind (GI_1, MBE, 2018). Auch andere soziale Einrichtungen berichteten, dass ihre Mitarbeiter_innen und Klient_innen durch den Einsatz von Geflüchteten „mit dem Thema Migration […] konfrontiert werden [und] auch offener gegenüberstehen“ (GI_6, SPH, 2019). Regionale Spezifika hinsichtlich der Wirkung von Engagement konnten anhand der geführten Interviews nicht klar herausgestellt werden. Etwas deutlicher wird der Unterschied beim Format des Engagements. Bei den Freiwilligendiensten in den Bereichen der Alten- und Kindertagespflege wurde außerdem der Erwerb von tätigkeitsbezogenem Wissen erwähnt. Für die Freiwilligen ist es eine Chance, erste Arbeits(-markt)erfahrungen in Deutschland zu sammeln: „[…] ohne Ausbildung, ohne Studium kannst du in diese Arbeit nicht eintreten. Aber mit Bundesfreiwilligendienst macht die Gesetze Augen zu und […] dann haben wir große Chance, einzutreten […]“ (EI_3, ehem. EA+FWD, 2018). So berichtete auch eine Einsatzstelle, dass die Freiwilligen ihren Dienst als „das gewünschte Sprungbrett […], in Ausbildung, in Arbeit, in das Leben in Deutschland, in die Gesellschaft in Deutschland“ nutzen konnten (GI_4, Kita, 2018). Allerdings darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Freiwilligendienst einen Bildungsauftrag mit der Verpflichtung auf Arbeitsmarktneutralität besitzt.6 In einem Interview wurde indessen beeindruckend geschildert, dass man erst mal das Prinzip des Engagements verstehen muss:
Bevor ich da bei [Einsatzstelle] angefangen habe, habe ich keine Ahnung was heißt Engagement und jetzt habe ich eine gute Ahnung, wo man sich engagieren kann oder wo man Spaß haben kann oder wo man Arbeit finden kann […]. (EI_2, EA, 2018)
Ein wichtiger Effekt ist schließlich die integrative Wirkung des BE:
Was mir der Bundesfreiwilligendienst […] gebracht hat, ist vieles. Nicht nur Sprache, nicht nur Integration, [...] für uns ist sehr wichtig Selbstrespekt. Es gibt auch Kommunikation, es gibt nette Freundschaften [...]. (EI_4, FWD, 2018)
Fazit
Die Studie zeigt: Der Einsatz von Geflüchteten im Freiwilligendienst und als Ehrenamtliche kann als Win-win-Situation sowohl für die Engagierten als auch für die Einsatzstellen angesehen werden. Dies trifft gleichermaßen auf die untersuchten ländlichen und städtischen Regionen in Sachsen zu. Die Geflüchteten bekommen die Möglichkeit, sich institutionalisiert zu engagieren, ihre Deutschkenntnisse zu verbessern, praktische Erfahrungen zu sammeln und soziale Kontakte zu knüpfen. Die Einsatzstelle profitiert durch die zusätzliche Unterstützung in der Sprach- und Kulturmittlung. Ferner erhoffen sich die Engagierten, so den Arbeitsmarktzugang zu bekommen. Dies steht jedoch in Diskrepanz zum Eigensinn der Freiwilligkeit sowie der Arbeitsmarktneutralität im Freiwilligendienst. Es gilt also, sensibel mit den Erwartungen und Ressourcen der Engagierten umzugehen. Keinesfalls dürfen staatlich geregelte Aufgaben auf die Schultern der Zivilgesellschaft geladen und durch den Einsatz von Ehrenamtlichen oder Freiwilligen ersetzt werden. Festzuhalten bleibt, dass bürgerschaftliches Engagement einen wichtigen Beitrag zur sozialen Integration von geflüchteten Menschen vor Ort leisten kann.
1 Als geflüchtete Personen werden alle diejenigen zusammengefasst, die als Schutzsuchende nach Deutschland gekommen sind. Der juristische Aufenthaltsstatus ist in diesem Beitrag nicht von Belang.
2 Das Sonderprogramm trat am 20.12.2015 in Kraft und war bis zum 31.12.2018 befristet. Eine wissenschaftliche Evaluation wurde nicht durchgeführt (Deutscher Bundestag 2018: 35).
3 Die Engagementquote in den neuen Bundesländern liegt bei 38,5 %, in den alten Bundesländern bei 44,8 % (Kausmann/Simonson 2017: 573).
4 Bei der Untersuchung von ländlichen und städtischen Regionen ist zu erwähnen, dass es sich hierbei aufgrund forschungspragmatischer Gesichtspunkte um Mittelzentren und Oberzentren handelt. Ursächlich ist der Feldzugang, da es zum einen nur sehr wenige soziale Einrichtungen auf dem Land gibt; zum anderen bieten die infrastrukturellen Voraussetzungen sowie die Anzahl der Engagierten in Mittelzentren bessere Ausgangsbedingungen.
5 Bei der Transkription erfolgte keine grammatikalische Korrektur, um die aktuelle Lebenssituation der Interviewten authentisch wiederzugeben.
6 §§ 1, 3 Bundesfreiwilligendienstgesetz vom 28. April 2011 (BGBl. I S. 687), das zuletzt durch Artikel 15 Absatz 5 des Gesetzes vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1722) geändert worden ist.
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