Die bundesdeutsche Erinnerungsabwehrgemeinschaft: zur Geschichte und Relevanz des Schuldabwehr-Antisemitismus

Der vorliegende Beitrag setzt sich mit der Geschichte des Schuldabwehr-Antisemitismus in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte auseinander und zeichnet dessen Entwicklungen bis in die Gegenwart nach. Dabei werden gleichermaßen die Relationen zu anderen Artikulationsformen von Antisemitismus thematisiert sowie die spezifischen Aspekte des Schuldabwehr-Antisemitismus mit Blick auf die Einstellungsveränderungen dargestellt. Die Grundannahme besteht darin zu zeigen, wie sich die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft als Erinnerungsabwehrgemeinschaft konstituiert hat und dass die Relevanz des Schuldabwehr-Antisemitismus bis in die Gegenwart ungebrochen ist.

 

Ganz gleich, welches antisemitische Ressentiment in Deutschland öffentlich kommuniziert wird: Eine explizite oder implizite Form der Abwehr der Schuld und Verantwortung für den Nationalsozialismus und die Shoah hat daran immer einen Anteil.1 Dies gilt gleichermaßen für den offen rassistischen Antisemitismus der Neonazis wie für den salonfähigen Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft, aber auch für den vorzugsweise unter dem Deckmantel der Israel- und Globalisierungskritik vorgetragenen Antisemitismus von links. Die Abwehr der eigenen Schuld ist ein verbindendes Band zwischen den politischen Spektren (Ionescu/Salzborn 2014). Entstanden aus dem Wunsch nach Entlastung von der deutschen Vergangenheit konstituiert sich dieser Schuldabwehr-Antisemitismus als ein Element der deutschen Erinnerungspolitik, das Jüdinnen und Juden für die Folgen der Shoah verantwortlich macht und die Shoah als negative Störung der nationalen Erinnerungskompetenz bestimmt. Die sich nach nationaler Identität und Normalität Sehnenden fühlen sich in ihrer deutschen Identitätsfindung durch die Holocausterinnerung gestört. Sie verorten die Schuld für diese Störung jedoch nicht beim nationalsozialistischen Deutschland, sondern bei den jüdischen Opfern, die sich – so die Unterstellung – mit ihrem „Schicksal“ nicht abfänden. Dieses Bedürfnis wird besonders in den letzten Jahren aus allen politischen Spektren als antiisraelischer Antisemitismus reformuliert. Denn weil der Antisemitismus wegen des deutschen Massenmordes an den europäischen Juden seit 75 Jahren in einen gewissen Rechtfertigungszwang geraten ist, wurden und werden die Juden zur gesellschaftlichen Selbstentlastung zudem in die Rolle der Täter gebracht und nicht in die der Opfer. Bereits 1962 notierte Theodor W. Adorno (1962: 363) zu diesem psychischen Entlastungsmechanismus der Täter-Opfer-Umkehr: „Darauf spekuliert tatsächlich einer der wesentlichen Tricks von Antisemiten heute: sich als Verfolgte darzustellen; sich zu gebärden, als wäre durch die öffentliche Meinung, die Äußerungen des Antisemitismus heute unmöglich macht, der Antisemit eigentlich der, gegen den der Stachel der Gesellschaft sich richtet, während im allgemeinen die Antisemiten doch die sind, die den Stachel der Gesellschaft am grausamsten und am erfolgreichsten handhaben.“

In den ersten Umfragen, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland mit Bezug auf die NS-Vergangenheit durchgeführt wurden, waren antisemitische Einstellungen nicht eine Ausnahme, sondern die Regel. Kurz nach Niederschlagung des Nationalsozialismus durch die Alliierten gehörte die offene Artikulation antisemitischer Überzeugungen als weltanschauliches Kontinuum zur gesellschaftlichen Normalität, die durch die subjektiv als „Schock“ empfundene deutsche Niederlage und die alliierte Besatzung Deutschlands so gut wie gar nicht erschüttert worden war: Die erste Befragung in der amerikanischen Besatzungszone im Dezember 1946 ergab, dass 18 % der Bevölkerung als „harte“ Antisemit(inn)en, weitere 21 % als Antisemit(inn)en und 22 % als Rassist(inn)en einzustufen waren (Bergmann/Erb 1997: 398).

Dies war insofern wenig verwunderlich, als die auf alliierter Seite noch bei Kriegsbeginn vorherrschende Vermutung, die Mehrheit der Deutschen stünde mindestens in innerer Distanz zum NS-Regime und dessen ideologischen Fundamenten, sich als Illusion herausstellte. Denn obgleich die Deutschen keineswegs ihren moralischen Werthorizont komplett verloren hatten, stand dieser mehrheitlich – anders als von alliierter Seite erwartet – nicht in der Tradition bürgerlich-republikanischen Gedankenguts, sondern war elementar mit der antisemitischen und rassistischen Weltanschauung verwoben, die zum gesellschaftlichen Alltag gehörte und damit zur weitgehend konsensualen Norm geworden war. Wert-, Norm- und Moralvorstellungen wurden im Nationalsozialismus nicht aufgehoben, sondern nur so weit ins Völkische verschoben, dass der Antisemitismus als universelles Welterklärungsphantasma fungieren konnte, ohne im Widerspruch zum „gesunden Menschenverstand“ der Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu stehen. Zwar ließen sich die Menschen durchaus von einer Orientierung am so verstandenen „gesunden Menschenverstand“ leiten, wie Karin Orth (2002: 105) es formuliert hat, nur muss dieser als Chiffre für den antisemitischen und rassistischen Konsens angesehen werden.

Vor diesem Hintergrund war es nur folgerichtig, dass auch die erste bundesweite empirische Umfrage vom Herbst 1949 – dem Gründungsjahr der Bundesrepublik Deutschland – ergab: Immerhin noch ein Viertel der deutschen Bevölkerung klassifizierte sich selbst als Antisemit(inn)en, wobei der Anteil im Jahr 1952 sogar auf ein Drittel stieg (Bergmann/Erb 1997: 399). Das gesellschaftliche Klima in den 1950er-Jahren war geprägt von einer Renazifizierung bzw. einer unzureichenden Entnazifizierung. Es war eine Zeit, in der der „große Frieden mit den Tätern“ gemacht wurde, wie Ralph Giordano (1996: 13) es formuliert hat. (Neo-)Nazistische Kleinstgruppierungen, Parteien und Publikationen entstanden, ehemalige Nationalsozialist(inn)en wurden im öffentlichen Dienst, in der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wieder „eingegliedert“, die Bemühungen um eine Fortsetzung der Entnazifizierung versandeten oder wurden bewusst beendet. Eine große Zahl von NS-Prozessen war eher von Solidarität mit den Täter(inne)n, denn einer weitreichenden politischen und juristischen Auseinandersetzung mit den differenten Tätergruppen geprägt. Zugleich kam es in der Bundesrepublik zu einer massiven Welle antisemitischer Taten, wie der massenhaften Schändung jüdischer Friedhöfe und Synagogen.

Die von alliierter Seite mit Unterstützung von demokratischen Kräften in der Bundesrepublik geforderte kritische Auseinandersetzung mit der NS-Judenverfolgung, die Einsicht in die daraus resultierende Notwendigkeit von sogenannten Entschädigungszahlungen sowie die Zustimmung zu einer nicht von antisemitischen Ressentiments geprägten Haltung gegenüber dem Staat Israel stieß auf Ablehnung in der deutschen Bevölkerung. Im August 1952 sprach sich fast die Hälfte der Deutschen gegen die sogenannten Entschädigungszahlungen an Israel aus, weitere 24 % hielten diese zwar für gut, aber zu hoch bemessen und lediglich 11 % stimmten ihnen zu (Noelle/Neumann 1956: 130): „Diese Ablehnung äußerte sich in Form traditioneller antijüdischer Vorurteile (Vorwurf der Geldgier und Rachsucht), die sich durch die jüdischen Forderungen ‚bestätigt‘ sahen (Schuldumkehr).“ (Bergmann/Erb 1997: 400)

In den späten 1950er- und 1960er-Jahren begann der Anteil der offenen Antisemit(inn)en in der Bundesrepublik der quantitativ-empirischen Forschung zufolge langsam abzunehmen – verbunden mit der wirtschaftlichen und politischen Situierung der Bundesrepublik, dem rechtlichen Kampf gegen neonazistische Parteien wie der Sozialistischen Reichspartei (die 1952 vom Bundesverfassungsgericht wegen ihrer offenen NS-Bezugnahme verboten wurde), einer Reetablierung von demokratischen Strukturen und einem – wenn auch nur langsam voranschreitenden und teilweise sehr marginalen – personellen Wandel im Bereich des öffentlichen Lebens.

Der auf die soziale Distanz bezogene Frage „Würden Sie sagen, es ist für Deutschland besser, keine Juden im Land zu haben?“ stimmten 1952 noch 37 % zu, während der Anteil nach und nach (1956: 28 %; 1958: 22 %; 1963: 18 %; 1965: 19 %) auf 9 % im Jahr 1983 sank (Köcher 1986: 23). Auch wenn die Zustimmung zu dieser Frage wieder auf 13,1 % im Jahr 1987 anstieg, zeigt die parallel gewachsene Ablehnung der Frage (von 19 % im Jahre 1952 auf 66,8 % im Jahre 1987) (Institut für Demoskopie 1987: Tab. 13g), dass eine teils kontinuierliche, teils auch nur schubweise verlaufende Reduzierung eines sich offen artikulierenden Antisemitismus in der Bundesrepublik stattgefunden hat. Parallel zu dieser wachsenden Ablehnung von öffentlichen Formen des Antisemitismus bestand die Toleranz für antisemitische Äußerungen im privaten Bereich jedoch weiter fort. Als das Institut für Demoskopie Allensbach 1986 danach fragte, ob man die Freundschaft zu einem Bekannten aufrechterhalten würde, wenn dieser ernsthaft die Ausweisung von Juden aus der Bundesrepublik fordere, konnten sich dies 40 % vorstellen, während es nur 26 % für kaum möglich hielten und weitere 34 % sich zu einer Beantwortung der Frage nicht im Stande sahen (Köcher 1986: 57).

Diese Differenz von privater Toleranz für Antisemitismus und öffentlichem Anti-Antisemitismus könnte, so schlussfolgerte Werner Bergmann, als ein Hinweis „auf die Tabuisierung und Latenz des Antisemitismus in der BRD genommen werden, wonach weniger ein durchgreifender Einstellungswandel stattgefunden hätte als vielmehr nur die Abdrängung des Vorurteils in die Latenz“ (Bergmann 1990: 117). Eine solche Annahme wird noch dadurch bestärkt, dass von den Befragten in großem Maße ein Kommunikationsverbot für antisemitische Einstellungen angenommen wurde, insbesondere hinsichtlich der Verlautbarungen im öffentlichen und politischen Raum. Somit muss also von einer Kommunikationslatenz von antisemitischen Einstellungen bei gleichzeitiger psychischer Präsenz ausgegangen werden (ebd.: 112; siehe auch Bergmann/Erb 1991).

Ruft man sich die Ergebnisse der frühen empirischen Forschung hinsichtlich der Ablehnung von shilumim2 – so der statt der in Deutschland verwendeten Begriffe „Entschädigungen“ oder „Reparationen“ in Israel verwendete hebräische Ausdruck – in Erinnerung, die verknüpft wurde mit dem antisemitischen Ressentiment der Bereicherung und dem der Schuldumkehr, dann fällt auf, dass sich bereits in den frühen 1950er-Jahren zu den klassischen antisemitischen Motiven ein schuldabwehrender Antisemitismus gesellt hatte. Dieser artikulierte sich in Form diffuser Verschwörungsphantasmen und Entlastungswünsche gesellschaftlich (öffentlich und privat). Die Wandlung ist vor allem vor dem Hintergrund einer Kommunikationslatenz bedeutsam, weil sie auf eine sich verändernde antisemitische Artikulation hinweist.

Bereits Anfang der 1960er-Jahre lehnten fast 90 % der Deutschen jede Form der Mitschuld an der Judenvernichtung ab, wie das Institut für Demoskopie Allensbach ermittelt hat (Noelle/Neumann 1965: 229). In Beziehung gesetzt zu der gigantischen Schuldverleugnung erlangt die antisemitische Unterstellung einer besonderen jüdischen Gier und Machtbesessenheit eine besondere Qualität: Sie zeigt, dass sich die Deutschen in ihrem nationalen Gewissen gestört fühlen und keine Verantwortung für die NS-Verbrechen übernehmen wollen, während sie glauben, dass die reflexive Vergangenheitsaufarbeitung nur auf Druck einer jüdischen Verschwörung geschieht. Damit kehrt sich die Aufarbeitung der NS-Verbrechen wiederum in einen antisemitischen Verschwörungswahn: „Ein großer Teil der Bevölkerung sieht sich so in eine Art ‚Dauerschuld‘ versetzt, da ‚die Juden‘ aus ihrer Sicht auf dem Wachhalten der Erinnerung zu bestehen scheinen. Diese Vermutung steht in Spannung zu dem eigenen Wunsch, endlich einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.“ (Bergmann 1990: 124)

Die Transformation der antisemitischen Kommunikationsformen in Richtung eines schuldabwehrenden Antisemitismus und die damit versuchte moralische und historische Entlastung antisemitischen Denkens führte im Laufe der Zeit nicht nur zu keiner Abnahme schuldabwehrender antisemitischer Motive, sondern im Gegenteil tendenziell sogar eher zu einer wachsenden Zustimmung in der deutschen Bevölkerung. Die Tendenz, antisemitische und antijüdische Überzeugungen öffentlich zu artikulieren, ist seit den 1990er-Jahren wieder deutlich gestiegen (Silbermann/Stoffers 2000). Eine EMNID-Untersuchung aus dem Jahre 1994 zeigte: 44 % der West- und 19 % der Ostdeutschen vertraten die Ansicht, „die Juden“ würden „den nationalsozialistischen Holocaust für ihre eigenen Absichten“ ausnutzen (Gesamt: 39 %). Ähnliche Ergebnisse förderte die ALLBUS-Erhebung aus dem Jahr 1996 zutage, nach der rund 44 % der Deutschen mehr oder minder stark die Meinung vertraten, Juden würden die deutsche Vergangenheit ausnutzen.

Dies zeigt, dass ein manifester und offen nazistischer Antisemitismus im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik kontinuierlich abgenommen hat, während der schuldabwehrende, häufig nicht-öffentlich verlautbarte Antisemitismus konstant blieb und sich in den letzten Jahren sogar wachsender Zustimmung erfreut. Entscheidend bis Mitte der 1990er-Jahre war allerdings, dass sich im öffentlich-politischen Raum (bei allem Widerstand von rechtsextremer und auch konservativer Seite) tatsächlich ein Konsens etabliert hatte, der antisemitische Ausfälle gesellschaftlich sanktionierte, sie entschieden als aus demokratischer Perspektive nicht-tolerierbare Position zurückwies und damit zeigte, dass eine Affirmation antisemitischer Ressentiments nicht als bloße „Meinung“ gleichberechtigt neben anderen tolerierbar ist.

Dies änderte sich nachhaltig im Jahre 1998 mit der Paulskirchen-Rede des hoch renommierten und bekannten Schriftstellers Martin Walser, die dieser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Herbst 1998 hielt (Walser 1998). In dieser Rede wandte sich Walser vor seinem eigenen, als linksliberal geltenden Hintergrund, ganz in der Tradition des Schuldabwehr-Antisemitismus, gegen eine kritische Reflexion der Vergangenheit und die „Moralkeule“ Auschwitz, deren Allgegenwärtigkeit er halluzinierte. Er sprach von einer „Dauerpräsentation unserer Schande“ und einer „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“, von einem „grausamen Erinnerungsdienst“ und einer „Routine des Beschuldigens“ in den Medien, wobei er selbst bei seiner Rede „vor Kühnheit“ zittere (ebd.). Und in der Tat wurde die Rede nicht mehr – wie bei vergleichbaren Anlässen zuvor – eindeutig und unmissverständlich von politischen und gesellschaftlichen Autoritäten als untolerierbar zurückgewiesen oder Walser gar als außerhalb des demokratischen Konsenses stehend interpretiert. Seit Walsers Paulskirchen-Rede stieg nicht nur die Zahl der antisemitischen Schmähbriefe, die wöchentlich beispielsweise beim Zentralrat der Juden eingingen, sondern sahen sich auch zahlreiche Bürgerinnen und Bürger bestärkt, nicht mehr anonym, sondern mit voller Anschrift versehen ihren antisemitischen Affekten freien Lauf zu lassen. Denn ein großer Teil der Bevölkerung, so resümierte Ignatz Bubis (1999: 59) seinerzeit, denke bereits seit Langem wie Walser und wolle somit unter die NS-Vergangenheit einen „Schlussstrich“ ziehen, um unbelastet von Erinnerung und Gedenken in die Zukunft blicken zu können. Dass diese Analyse zutraf, zeigte auch eine repräsentative FORSA-Umfrage im Auftrag der Zeitung Die Woche im Jahr 2000, die ergab, dass tatsächlich 62 % der West- und 49 % der Ostdeutschen meinten, dass es Zeit werde, „unter den Nationalsozialismus einen Schlussstrich“ zu ziehen.

Aufgrund des sich durch die Walser-Rede und ihre Rezeption abzeichnenden gesellschaftlichen Wandels führten die Erziehungswissenschaftler Klaus Ahlheim und Bardo Heger (2002) eine empirische Untersuchung zu Antisemitismus und NS-Vergangenheit unter Studierenden an der Universität Essen durch. Die Studie belegte ebenfalls die Verbreitung einer „Schlussstrich-Mentalität“, die gepaart mit einem Wunsch nach „Normalität“ und neuem Nationalstolz auf Motive des schuldabwehrenden Antisemitismus aufbaut. Mehr als ein Drittel der befragten Studierenden stimmte der Aussage zu, es werde Zeit, dass „unter die nationalsozialistische Vergangenheit ein Schlussstrich gezogen wird“; der Wunsch nach einem neuen nationalen Selbstbewusstsein ist dabei eng mit dieser Schlussstrich-Mentalität verbunden. Auch die repräsentativen Langzeitstudien zu „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (GMF) der Universitäten Bielefeld und Marburg belegen eine Zunahme von schuldabwehrendem Antisemitismus: Als man im Rahmen des GMF-Surveys 2004 Befragten die Aussage vorlegte, „Ich ärgere mich darüber, daß den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden“, stimmten dieser 44,5 % „voll und ganz zu“, weitere 23,8 % stimmten ihr „eher zu“. Der Satz „Ich bin es leid, immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören“ fand „voll und ganz“ Zustimmung bei 41,3 % der Befragten, die abgestufte Zustimmung fand er zudem bei weiteren 20,9 %.

Zu ähnlichen Ergebnissen kamen in den Folgejahren auch immer wieder die Befragungen des American Jewish Committee (AJC) und der Anti-Defamation League (ADL): Während einer AJC-Studie aus dem Jahr 2005 zufolge 42 % der Deutschen der Aussage „Jews are exploiting the memory of the Nazi extermination of the Jews for their own purposes“ (dt. „Juden nutzen die Erinnerung an die nationalsozialistische Judenvernichtung für ihre eigenen Zwecke aus“) zustimmten, weist die Anti-Defamation League für das Jahr 2012 für eine sehr ähnliche Aussage („Jews still talk too much about what happened to them in the Holocaust“, dt. „Juden sprechen immer noch zu viel darüber, was ihnen im Holocaust geschehen ist“) fast denselben Zustimmungswert aus: 43 %. Auch wenn die Zustimmung zwei Jahre später (2014) zu dieser Frage leicht sank, zeigt gerade der Vergleich, wie drastisch weitreichend schuldabwehrender Antisemitismus in Deutschland verankert ist: In Großbritannien lag die Zustimmung bei 20 %, in Frankreich bei 29 %, in Deutschland hingegen bei 37 %.

Der Bericht des Zweiten Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages wies für das Jahr 2014 ähnliche Werte im Bereich des Schuldabwehr-Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung nach: So stimmten der Aussage „Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden“ 30 % der Befragten voll/überwiegend und weitere 25 % teilweise zu. Der Aussage, „Ich bin es leid, immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören“, stimmten 27 % zu, weitere 21 % hielten sie teilweise für richtig. Und in der ALLBUS-Erhebung des Jahres 2016 stimmten mehr als 15 % der Befragten der Aussage „Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen und die Deutschen dafür zahlen zu lassen“ „völlig zu“, weitere 26 % weitgehend bzw. teilweise. Ende 2019 ergab eine Studie des Jüdischen Weltkongresses, dass 41 % der Deutschen der Auffassung sind, Juden würden zu viel über den Holocaust sprechen, eine fast zeitgleich durchgeführte Studie der Anti-Defamation League ergab zur selben Frage 42 % Zustimmung.

Die Bereitschaft zur öffentlichen Kommunikation antisemitischer Ressentiments ist – trotz zahlreicher rituell wiederholter Beschwörungen vonseiten der Politik – in den letzten Jahren keineswegs geringer geworden. Vielmehr das Gegenteil ist der Fall: Spätestens seit der Paulskirchen-Rede von Walser ist eine zunehmende Bereitschaft in der deutschen Bevölkerung festzustellen, antisemitische Ressentiments öffentlich zu kommunizieren. Lars Rensmann (2004: 498) spricht, angesichts der schrittweisen Normalisierung der Bereitschaft zur öffentlichen Artikulation von antisemitischen Ressentiments, von einer „Erosion der Grenzziehungen“, Kurt Grünberg (2002) von einer „Rehabilitierung des Antisemitismus“. Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz (2013) haben diese Entwicklung in umfangreichen empirischen Studien dokumentiert und dabei deutlich gemacht: Neben den Zuschriften an jüdische (und israelische) Institutionen wird der antisemitische Radikalisierungsprozess maßgeblich in Internet-Foren vollzogen – durch die Möglichkeiten des Web 2.0 findet also eine Stabilisierung und Radikalisierung antisemitischer Weltbilder statt (Schwarz-Friesel 2019).

Seit den islamistischen Terroranschlägen von 9/11, aber noch weiter verstärkt durch die Rechtsradikalisierung der bundesdeutschen Gesellschaft und ihre Repräsentation durch eine rechtsextreme Partei in allen Länderparlamenten und im Deutschen Bundestag, die in umfangreichem Maße antisemitische Positionen vertritt und gerade das antisemitische Motiv der Schuldabwehr und der Täter-Opfer-Umkehr paradigmatisch in ihrem Weltbild verfolgt (Salzborn 2018), lassen sich in jüngster Zeit mindestens drei Momente mit Blick auf die antisemitische Selbstfindung der deutschen Gesellschaft herausstellen: erstens die Entgrenzung, zweitens die Trivialisierung und drittens die Bagatellisierung von Antisemitismus. Was heißt das? Die Entgrenzung sah man exemplarisch im Sommer 2014, als unter Federführung von palästinensischen Organisationen in zahlreichen deutschen Städten Antisemit(inn)en aller Couleur gemeinsam demonstriert haben – neben islamistischen Antisemit(inn)en auch deutsche Neonazis und linke Antiimperialist(inn)en. Sind diese Antiimperialist(inn)en auch nur ein marginaler Flügel in der deutschen Linken, so zeigt das Beispiel eine Entgrenzung, bei der das antisemitische Weltbild so zentral geworden ist, dass alle anderen weltanschaulichen Differenzen zurücktreten.

Hieran schließt sich die Trivialisierung an: die heute dominante Form des Antisemitismus richtet sich gegen Israel, nur allzu gern versuchen Antisemit(inn)en, sich hinter der Formel, dass Israelkritik doch nicht Antisemitismus sei, zu verstecken und auf diese Weise Antisemitismus zu trivialisieren. Dabei ist der Unterschied leicht zu erkennen: Wenn der israelische Staat delegitimiert werden soll, seine Politik dämonisiert wird oder wenn doppelte Standards bei der Bewertung israelischer Politik angelegt werden, handelt es sich nicht um Kritik, sondern um Antisemitismus. Wer heute als Antisemit(in) behauptet, er werde nur von der Kritik zu einem solchen „gemacht“, trivialisiert ihn. Versucht man also, den antiisraelischen Antisemitismus theoretisch zu fassen, dann drückt sich dieser vor allem in der Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelstandardisierung von Israel aus, das explizit oder implizit mit Juden ident gesetzt wird. Dabei erfolgt eine historische, schuldabwehrende und gegenwartsbezogene Täter-Opfer-Umkehr in dem Ansinnen, Israel zur Projektionsfläche für den Hass auf die und die Angst vor der modernen Ambivalenz und ihrer Konkretisierung im abstrakten Denken und konkreten Fühlen als jüdischen und modernen Staat mit seiner pluralistischen Gesellschaft zu machen.

Schließlich als dritte Facette die Bagatellisierung: Antisemit(inn)en wenden sich nicht nur gegen Jüdinnen und Juden, sondern gegen alles, was die moderne, aufgeklärte Welt kennzeichnet: gegen Freiheit und Gleichheit, Urbanität und Rationalität, Emanzipation und Demokratie. Deshalb ist der Kampf gegen Antisemitismus stets auch ein Kampf um die Demokratie. Jüdische Kritik wird oft einfach vom Tisch gewischt – als sei nicht der Antisemitismus das Problem, sondern die, die von ihm betroffen sind. Insofern ist die antisemitische Bedrohung seit 9/11 gerade in Europa und Deutschland auch eine doppelte: einerseits durch den virulenten islamistischen und rechtsextremen Terrorismus, andererseits aber auch durch das oft viel zu laute Schweigen der Demokrat(inn)en (Salzborn 2020b).

 

1 Bei dem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete Fassung eines Kapitels aus „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“ (Salzborn 2020a).

2 Shilumim ist etwa mit dem deutschen Wort Zahlungen zu übersetzen, wobei dem Begriff jede Konnotation von Schuldvergebung oder Verzeihen fehlt, die sich die deutschen Termini Entschädigung, Wiedergutmachung oder Reparation gern verbal erkaufen würden – als ließe sich der deutsche Massenmord an den europäischen Juden „wieder gut machen“.

 

 

Literatur

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