Gesellschaftspolitische Dimensionen von Viruspandemien – HIV und Corona im Vergleich

Gesundheit ist nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein gesellschaftliches und politisches Thema. Das zeigt sich aktuell in aller Deutlichkeit. Die COVID-19-Pandemie stellt demokratische Gesellschaften und ihren Zusammenhalt vor große Herausforderungen. Momentan erinnern u. a. die HIV-Community sowie Queer-Aktivist*innen vielfach an das Aufkommen der Immunschwächeerkrankung Aids (Acquired Immune Deficiency Syndrome) in den 1980er-Jahren. Herausgestellt werden Parallelen, aber auch Unterschiede zwischen den Infektionskrankheiten, den gesellschaftlichen Reaktionen sowie dem gesundheitspolitischen Umgang (z. B. Thiele/Ketelhut 2020; Schock 2020). Der vorliegende Beitrag knüpft an diese Erfahrungen aus der HIV/Aids-Krise an und geht auf gesellschaftspolitische Dimensionen ein, die für eine Analyse der COVID-19-Pandemie und ihre Auswirkungen gewinnbringend sein können.

 

Zunächst lässt sich festhalten, dass sich beide Infektionskrankheiten in Betroffenheit, Verbreitung, Sterblichkeitsrate, Infektiosität und Übertragungswegen maßgeblich unterscheiden.1 HIV ist ein vorrangig sexuell und – entgegen der Annahmen vieler – schwer übertragbares Virus, welches epidemiologisch im globalen Norden vor allem Männer, die Sex mit Männern haben, betrifft (RKI 2020). Eine HIV-Infektion hatte bis zur Einführung der wirksamen Kombinationstherapie in den 1990er-Jahren in der Regel eine Aids-Erkrankung zur Folge, welche unbehandelt tödlich verläuft. Da es bis heute keine Impfung gegen HIV gibt und eine Heilung bisher nicht möglich ist, gilt HIV heutzutage als chronische Infektion. Die erfolgreiche Therapie von HIV führt mittlerweile dazu, dass Menschen mit HIV eine durchschnittliche Lebenserwartung haben. Durch die Therapie wird das Virus zudem so weit unterdrückt, dass es nicht mehr nachweisbar und somit auch nicht mehr übertragbar ist. Diese Schutzwirkung stellt neben dem Kondom eine neue Präventionsmaßnahme dar, die als „Schutz durch Therapie“ bezeichnet wird. Seit Ende 2019 ist in Deutschland zudem die „PrEP“ (Prä-Expositions-Prophylaxe) eine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen. Diese schützt HIV-negative Menschen durch eine präventive Tabletteneinnahme vor HIV.

SARS-CoV-2 ist hingegen ein sehr leicht und im Alltag auf vielfältigen Wegen übertragbares Virus. Eine COVID-19-Erkrankung bedroht potenziell jede*n, heilt in der Regel aus, kann jedoch auch schwere Langzeitfolgen nach sich ziehen oder tödlich verlaufen. Risikogruppen für einen schweren oder tödlichen Verlauf sind insbesondere Menschen im hohen Lebensalter und/oder mit bestimmten Vorerkrankungen. Als Präventionsmaßnahmen stehen neben „physical distancing“, hygienischen Maßnahmen und dem Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes mittlerweile auch eine Impfung zur Verfügung.

Schuldzuweisung und Stigmatisierung als Reaktion auf neue Infektionskrankheiten am Beispiel HIV

Ähnlich wie zu Beginn der COVID-19-Pandemie heute, wussten Mediziner*innen und Wissenschaftler*innen damals nur wenig über die neue Infektionskrankheit, die 1981 in den USA beschrieben wurde und ein Jahr später auch im geteilten Deutschland aufkam. Schnell breitete sich starke Verunsicherung in der Bevölkerung aus, welche durch medial vermittelte Bedrohungsdiskurse geschürt wurde. Aids war in den ersten Jahren nicht nur eine tödliche Ansteckungskrankheit, sondern eine „Bedeutungsepidemie“ (Weingart 2002: 7). Sie wurde mit verschiedensten Sinnzuweisungen aufgeladen und dadurch als Vehikel für bestimmte Vorurteile und Stigmatisierung genutzt (v.a. für Homosexuellenfeindlichkeit). Kennzeichnend für die Medienberichterstattung war die Konstruktion von Aids als Bedrohung apokalyptischen Ausmaßes, wie beispielsweise die Vergleiche mit Hiro­shima verdeutlichen (DER SPIEGEL 1987; Halter 1987). Die Reproduktion von Seuchen-, Pest- und Kriegsszenarien trug weiter zur Dramatisierung und Mystifizierung von Aids bei (Tümmers 2017; Wießner 2003). Nach Sontag (2003) konstruieren insbesondere Pest- und Kriegsmetaphern eine „Krankheit der Anderen“ – sei es in Bezug auf den mutmaßlichen Krankheitserreger, die Herkunft des Virus oder potenzielle „Risikogruppen“. Dabei werden insbesondere Narrative von Schuld und Strafe transportiert. Sontag stellt in ihrem Werk „Aids als Metapher“ fest: „Krankheit als Strafe für begangene Schuld zu begreifen, ist der älteste Versuch, die Ursache von Krankheit zu begreifen“ (Sontag 2003: 110). Als deutlich wurde, dass die Infektion insbesondere homosexuelle Männer betrifft, wurde sie zunächst mit dem Kurzwort „GRID“ belegt, was für „Gay Related Immune Deficiency Syndrome“ stand – im Volksmund abwertend: „Schwulenpest“.

Gesellschaftliche Gruppen, die schon vor HIV/Aids stigmatisiert wurden – wie Homosexuelle, Sexarbeiter*innen, Drogenkonsument*innen – wurden nun als „Risikogruppen“ gelabelt, aber als „Gefahrengruppen“ verstanden und für die Verbreitung der „Lustseuche“ (DER SPIEGEL 1982) verantwortlich gemacht. Insbesondere die sexuelle Übertragbarkeit bot sich dabei für Schuldzuschreibungen und Stigmatisierung an (Wießner 2003; Weingart 2002). HIV/Aids wurde so nicht mit Leiden, sondern mit „gerechter Strafe“ für „ausschweifendes“ Leben verbunden, wobei die Opfer der Krankheit zu Täter*innen wurden (Wießner 2003). Neben gesellschaftlichen Schuldzuweisungen kursierten rund um Aids eine Reihe Ursprungs- und Verschwörungsmythen. Die Spannbreite reichte von der Leugnung der Existenz des Virus oder des Zusammenhangs zwischen HIV und Aids bis hin zur Theorie einer gezielten Herstellung des Virus im Labor durch CIA oder KGB, je nach ideologischer Positionierung (DAH 2014a; Lemmen 2003).

Wie die hier kurz umrissenen gesellschaftlichen Reaktionen auf HIV/Aids verdeutlichen, lösen unerklärbare und bedrohliche Krankheiten in besonderem Maße sowohl individuelle als auch kollektive Ängste aus. Die in der Folge aufgekommenen Schuldzuweisungen, Stigmatisierungsdynamiken und Verschwörungsmythen erfüllen dabei die (kontraproduktive) Funktion, die Komplexität eines Ereignisses zu reduzieren, um so eine vermeintlich sinnhafte Bewältigung zu ermöglichen. Dadurch werden Wirklichkeiten geschaffen, die auf einfachen Antworten beruhen: der Benennung und Ächtung von „Sündenböcken“. Auch heute noch werden Menschen mit HIV stigmatisiert und insbesondere im Gesundheitswesen und im Sexleben diskriminiert, wie die Ergebnisse des Forschungsprojektes „positive stimmen 2.0“ verdeutlichen (DAH 2014b; IDZ 2020).

Schuldzuweisung und Stigmatisierung im Kontext der aktuellen COVID-19-Pandemie

Die beschriebenen negativen gesellschaftlichen Dynamiken lassen sich in ähnlicher Weise aktuell auch in der COVID-19-Pandemie beobachten. So konstatiert bspw. Martin Thiele: „Aktuell erleben wir eine Zunahme von Verschwörungstheorien, die ich als Versuche verstehe, etwas Unbeherrschbares beherrschbar zu machen, indem man versucht, Erklärungsmuster zu entwickeln und Instanzen zu finden, denen man Verantwortung oder Schuld daran zuschreiben kann“ (Thiele/Ketelhut 2020). Beschleunigt durch die Digitalisierung gesellschaftlicher Informationsprozesse werden Falsch­informationen, Verschwörungsmythen sowie stigmatisierende und diskriminierende Botschaften insbesondere in sozialen Netzwerken verbreitet, wobei sie häufig populistische, rechtsradikale und antisemitische Deutungen enthalten (Islam et al. 2020 sowie die Beiträge von Frindte und Bringt/Klare in diesem Band). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte bereits zu Beginn der Infektion vor einer „Infodemie“ – dem Überangebot an pandemiebezogenen Informationen, von denen manche irreführend oder sogar schädlich sein können (WHO 2020). Wenngleich die mediale Berichterstattung in Bezug auf Corona heute längst nicht so skandalisierend und moralisierend ist, wie es in den 1980er-Jahren bei HIV/Aids als sexuell übertragbare Infektion der Fall war, stehen auch heute Medien (z. B. öffentlich-rechtliche Fernsehsender, etablierte Zeitungen) in der Kritik, nicht differenziert genug zu berichten und „Bildwelten apokalyptischer Endzeiterzählungen“ (Gräf/Henning 2020) zu transportieren. Zudem finden sich auch im Sprechen über Corona Bedeutungsrahmen, die Schuldzuweisungen enthalten, Sündenböcke benennen und Pest- sowie Kriegsszenarien entwerfen. So sprach Trump vom „Chinese Virus“, einer Seuche oder Plage, einem „kompromisslosen Krieg, um das Virus zu besiegen“ und rief zum „Kampf gegen einen unsichtbaren Feind“ auf (Fiedler 2020; Tagesspiegel 2020). Auch DER SPIEGEL schließt mit seinem Titel „Corona-Virus: Made in China“ an altbekannte Muster der Aids-Berichterstattung an (DER SPIEGEL 2020).

Mittlerweile kann auch ein „COVID-19-Stigma“ (Logie 2020; Vertovec 2020) beobachtet werden. Corona-bezogene Stigmatisierungsprozesse äußern sich beispielsweise in der (häufig rassistischen) Verknüpfung von zugeschriebenem Verhalten und dem Ausbrechen oder Verbreiten der Infektion. Wenn zum Beispiel medial insbesondere marginalisierte Gruppen als „Infektionsherde“ und/oder „Superspreader“ bezeichnet werden, kann das Diskriminierung gegen diese Gruppen befördern. Insbesondere zu Beginn der Infektion waren vor allem asiatisch-gelesene Menschen betroffen (ADS Bund 2020; vgl. den Beitrag von Lauß/Schestak-Haase in diesem Band). Später erweiterte sich diese auch auf andere Gruppen, wie Geflüchtete in Massenunterkünften, Arbeiter*innen in Großfabriken (z. B. fleischverarbeitende Industrie), (Groß-)Familien, Sint*izze und Rom*nja sowie muslimisch- oder türkisch-gelesene Menschen, aber auch Jugendliche, Sexarbeiter*innen und die queere Community (ADS Bund 2020; Aertel/Rieß 2020; Queer.de 2020a, 2020b; Vertovec 2020). Die stigmatisierende Verknüpfung einer Corona-Infektion mit „abweichendem Verhalten“ oder einem unvorsichtigen, unverantwortlichen Lebensstil kann ebenso zur Abwertung von Infizierten führen. So berichten vermehrt Betroffene von „Corona-Shaming“, weil sie von ihren Mitmenschen als unverantwortlich bezeichnet werden, ihnen die Schuld an der Verbreitung des Virus gegeben wird und sie gemieden werden, auch nachdem sie längst schon als genesen gelten (Klovert 2020; Zoidl 2020).

Solidarität statt neoliberaler „Eigenverantwortung“

Der gesellschaftliche und gesundheitspolitische Umgang mit HIV/Aids war – insbesondere zu Beginn der Epidemie – hart umkämpft. In einem gesellschaftlichen Klima, das von Stigmatisierung und Bestrafungswünschen geprägt war, wurden autoritär-repressive Maßnahmen gefordert und diskutiert, etwa eine Zwangstestung von „Risikogruppen“, Einreiseverbote für und Internierung von HIV-Positiven sowie die Anwendung des damaligen Bundesseuchenschutzgesetzes. Diese Maßnahmen konnten in dieser Form glücklicherweise nicht um- und durchgesetzt werden (Tümmers 2017: 224ff.). Ein Zusammenschluss aus Institutionen, Betroffenen- und Berufsgruppen erkämpfte gemeinsam mit der damaligen Gesundheitsministerin Rita Süßmuth die bis heute gültigen Standards der HIV/Aids-Politik: Information, Aufklärung, non-direktive Beratung sowie freiwillige und anonyme HIV-Testung. Damit geht das Konzept der „strukturellen Prävention“ einher. Basierend auf der Einsicht, dass Stigmatisierung die Gesundheitschancen und ein gesundheitsförderndes Verhalten stark beeinträchtigen kann, hat die strukturelle Prävention von HIV/Aids die Destigmatisierung, Antidiskriminierung und Entkriminalisierung sozialer Randgruppen zum Ziel. Sie setzt den Fokus damit nicht nur auf individuelle Verhaltensanpassungen, sondern ebenso auf die Veränderung der sozialen Verhältnisse und Strukturen (Drewes et al. 2010). Die liberale Strategie in Form einer strukturellen, communitybasierten Prävention hat sich bewährt. So weist Deutschland unter den Industrieländern eine der niedrigsten HIV-Infektionsraten auf (Marcus 2007). Dennoch führt auch in Deutschland die nach wie vor bestehende Stigmatisierung zu Angst vor einem HIV-Test und somit zu einer hohen Zahl von Personen, die nichts von ihrer Infektion wissen (DAH 2020, 2019).2

Wenngleich die HIV-Prävention insbesondere in der Anfangszeit auf einer demokratisch-solidarischen Strategie beruhte, ist diese nicht gefeit vor neoliberalen Einflüssen und dem Diktum der selbstaktiven Eigenverantwortung. In der heutigen HIV-Prävention ist – analog zu den Entwicklungen in der Gesellschaft – eine Verschiebung der Risiko- und Sicherheitsverantwortung ins Private und Individuelle wahrnehmbar. So ist beispielsweise das Konzept des „individuellen Risikomanagements“ aus der Einsicht entstanden, dass in Zeiten einer erfolgreichen HIV-Therapie die sich manchmal widersprechenden Wünsche nach Schutz vor einer Infektion sowie Lust und Rausch individuell ausgehandelt werden müssen. Das kann auch die Inkaufnahme einer Infektion einschließen. Das vorherrschende gesundheitspolitische Postulat der Eigenverantwortung und ein leistungsorientiertes Verständnis von Gesundheit (Schmidt 2010, 2008) führen jedoch dazu, dass eine HIV-Infektion heute als ein individuelles Versagen gedeutet wird. Dies lässt auf eine Subjektivierung des Schuld-Stigmas schließen, welches sich in den Schuldgefühlen bei Menschen mit HIV sowie bei Personen, die ein vermeintliches HIV-Risiko eingegangen sind, manifestiert (Hartung 2020). Zudem impliziert der Fokus auf ein individuelles Risikomanagement eine vermeintliche Gleichheit an Lebens- und Gesundheitschancen sowie Möglichkeiten sich zu schützen, wobei die sozialen Verhältnisse mehr und mehr aus dem Blick geraten (Langer 2010; Schmidt 2010). Der Gedanke gesellschaftlicher Solidarität und der besondere Schutz von vulnerablen Gruppen gehen dabei verloren. Dies zeigt sich z. B. an der Verteilung der HIV-Neuinfektionen in den USA, wo eine neoliberale Präventionsstrategie vorherrscht: Hier liegt der Anteil der HIV-Neuinfektionen bei Black and People of Color höher als im Rest der Bevölkerung (Schaffar 2020).

Die gesundheitspolitischen Herausforderungen in der aktuellen Corona-Situation bestehen ebenso darin, zwischen notwendigen politischen Maßnahmen und der Beschneidung von Grundrechten und individueller Freiheit abzuwägen, um die Verbreitung des Virus zu verhindern. Es finden sich sowohl autoritäre als auch (neo-)liberale Bestrebungen und Strategien, die auf Eigenverantwortung setzen (Schaffer 2020). Während HIV vor allem bereits stigmatisierte „Risikogruppen“ betraf und die HIV-Community in der Anfangszeit hart für gesellschaftliche Solidarität kämpfen musste, steht heute die „Solidarität“ als Schlagwort von Beginn an im Zentrum politischer und zivilgesellschaftlicher Präventionsbemühungen. So zeigt sich in der aktuellen COVID-19-Pandemie ein hohes Maß an solidarischem Verhalten in der Bevölkerung, das sich an der Eindämmung des Virus orientiert: Über 90 % der Bevölkerung halten sich an die empfohlenen Maßnahmen und über 85 % an die Lockdown-Regeln.3 Je länger jedoch die Einschränkungen andauern, desto höher ist die Gefahr, dass die zunehmende Pandemiemüdigkeit und das sinkende Vertrauen in die Regierung zur Verringerung der Maßnahmenakzeptanz sowie des Schutzverhaltens führen. Es setzen sich zunehmend (neo-)liberale Strategien durch, die sich insbesondere an wirtschaftlichen Interessen orientieren und mit einer Zunahme von sozialer Ungleichheiten einhergehen. So sind vulnerable Gruppen wie Wohnungslose, Sexarbeiter*innen, Geflüchtete in Massenunterkünften oder prekär Beschäftigte ungleich härter von der Infektion betroffen und werden von politischen Maßnahmen nicht adäquat berücksichtigt (Hövermann 2020).

Lehren aus dem gesellschaftlichen Umgang mit HIV/Aids für die aktuelle Pandemie

Auch wenn die HIV-Politik nicht unkritisch betrachtet werden darf, bieten Erkenntnisse aus der HIV/Aids-Krise Möglichkeiten, einen solidarischen und diskriminierungssensiblen Weg aus der aktuellen Pandemie aufzuzeigen. Die Erfolge der HIV-Prävention hierbei lediglich auf die Eigenverantwortung zu reduzieren (wie bspw. Ludigs 2020), würde dabei jedoch zu kurz greifen.

Wie bereits deutlich wurde und es zahlreiche Studien belegen, können Stigmatisierung, Diskriminierung und soziale Ungleichheit Gesundheitschancen und – in Bezug auf Viruspandemien – erfolgreiche Prävention verhindern (UNAIDS 2020). Daher sollte in der aktuellen COVID-19-Situation (neben hygienischen Präventionsmaßnahmen) auch Stigmatisierungsdynamiken entgegengewirkt werden – sowohl strukturell durch Politik und Medien als auch individuell durch jede*n Einzelne*n. In Bezug auf die Destigmatisierung von COVID-19 empfehlen Frontline Aids (2020) und die WHO (2020) auf die Wirkmacht der Sprache zu achten, da diese stigmatisierende Botschaften senden kann. So sollte bspw. vermieden werden von „Krieg“ oder „Kampf“ zu sprechen. Begriffe wie „Infektionsherde“ oder „Superspreader“ sollten nicht genutzt werden, um bestimmte Menschen(gruppen) moralisch abzuwerten oder ihnen Schuld zuzuschreiben. In Bezug auf die Entwicklung wirksamer Präventionsstrategien hat sich in der HIV-Prävention bewährt, transdisziplinäres Wissen einzubeziehen. So wurde neben akademischem (z. B. aus Medizin, Sexualwissenschaft) auch lebensweltliches Wissen von Menschen mit HIV sowie HIV/Aids- und Queer-Aktivist*innen einbezogen und ernst genommen. Zudem wurden im Rahmen der öffentlichen Debatte das Für und Wider verschiedener Präventionsstrategien, ihre Kosten und Nutzen sowie ihre Folgen nicht nur in Bezug auf eine Infektionsvermeidung, sondern auch in Bezug auf Menschenrechte und sexuelle Freiheit diskutiert. Darüber hinaus fanden gegenseitige Solidarität und Reziprozität ihren Ausdruck in Safer-Sex-Regeln für alle – unabhängig vom Infektionsstatus. Hierdurch wurden insbesondere vulnerable Communitys geschützt (Schaffar 2020). Auch die UN-Organisation UNAIDS formuliert in Bezug auf die aktuelle COVID-19-Pandemie die Forderung an politisch Verantwortliche und Entscheidungsträger*innen, zivilgesellschaftliche Akteur*innen und betroffene, besonders vulnerable Communitys in den Mittelpunkt der Maßnahmen zu stellen und diese an Menschenrechten und Gleichstellung auszurichten. Hierbei sollte ein besonderes Augenmerk „[…] auf die Beseitigung sanktionierender, willkürlicher und diskriminierender rechtlicher und politischer Maßnahmen […], die die Marginalisierung erhöhen und den Zugang zu wesentlichen Präventions- und Behandlungsdiensten untergraben“, gerichtet werden (UNAIDS 2020, Übersetzung der Autorinnen). Zudem sollten effektive Strategien zur Eindämmung von COVID-19 mit allgemeinen Unterstützungsmaßnahmen verbunden sein, welche neben der Viruseindämmung den Abbau bestehender sozialer und struktureller Ungleichheiten zum Ziel haben (ebd.).

In der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Dynamiken bei HIV/Aids sowie COVID-19 wird deutlich, dass Viren Gesellschaften den Spiegel vorhalten und zu einer Zerreißprobe für den gesellschaftlichen Zusammenhalt werden können. Daher ist es wichtig, den Umgang mit (pandemischen) Viruserkrankungen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen und dieses Verständnis allen zu vermitteln (Ntontis/Rocha 2020). Hierfür braucht es eine gesellschaftliche Solidarität, die alle einschließt. Aus den Erfahrungen mit HIV wissen wir hierfür um die Wichtigkeit des Schutzes insbesondere marginalisierter und vulnerabler Gruppen und die Herstellung von strukturellen Bedingungen, die dies möglich machen.

 

1 Dieser Beitrag bezieht sich sowohl in Bezug auf HIV/Aids als auch COVID-19 gesellschaftsanalytisch und epidemiologisch auf Deutschland und entstand in einer äußerst dynamischen Pandemie-Situation im Januar 2021.

2 Zu aktuellen Zahlen und der epidemiologischen Entwicklung zu HIV in Deutschland: RKI 2020.

3

Ergebnisse der COSMO-Befragung Januar 2021 (KW 04, Stand 29.01.21) online unter dfncloud.uni-erfurt.de/s/izLRePpZi85tQRX.

 

 

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