Fast noch fassungsloser als über den wie selbstverständlichen Gebrauch des N-Wortes auf einem Arbeitsblatt für Grundschülerinnen und -schüler war ich über die Reaktion einer Pädagogin im Jahre 2017. Sie ist vielleicht symptomatisch für eine Gesellschaft, in der sich nicht wenige noch immer schwertun, Vielfalt zu leben. Eine Gesellschaft, in der manche nicht wissen – nein, wohl doch eher: nicht wissen wollen –, welche Worte, welches Verhalten ihre Mitmenschen zutiefst verletzen. Eine Gesellschaft, in der noch immer gern sortiert und aussortiert wird. Etwa wenn einem schwarzen Mitglied des Bundestags bei seinem ersten Besuch im Abgeordnetenrestaurant der Zutritt verwehrt wird, weil er eben nicht so aussieht, wie „man“ sich einen Volksvertreter vorstellt. Einstellungen, die Menschen ausgrenzen und abwerten, sind nicht nur am rechten Rand, sondern bis weit in der Mitte der Gesellschaft verbreitet. Sie bilden die Wurzel von Diskriminierungen, sie können das gesellschaftliche Klima vergiften. Das eine sehe ich alltäglich in unserer Arbeit, das andere haben wir alle in den vergangenen Monaten nicht nur an Wahltagen beobachten müssen.
Und doch ist das eben gezeichnete, eher düstere Bild nur ein Teil der Wahrheit. Denn in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten auch unbestreitbar viel zum Positiven verändert. Das Land ist ganz ohne Zweifel bunter und vielfältiger geworden, und zwar auch in der Politik, in den Medien, selbst in den Verwaltungen. Die Konzepte derer, die laut tönend vorgeben, für „das Volk“ zu sprechen, lehnen die meisten Menschen ab. Das Land ist in der Gesamtschau auch sensibler geworden für Diskriminierungen – die Schaffung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im Jahr 2006 war dafür ein Meilenstein. Antidiskriminierung hat seither einen festen Platz im öffentlichen Bewusstsein errungen. Wir haben gelernt hinzusehen. Einen unverzichtbaren Beitrag dazu leisten die Stellen im Land, die Diskriminierungen dokumentieren und sichtbar machen – seien es Beratungseinrichtungen oder Forscherinnen und Forscher wie die des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft. Durch das AGG gilt: Von Diskriminierung Betroffene haben klare Rechte. Aber wir müssen ihnen auch zur Durchsetzung verhelfen.
Im Föderalismus brauchen wir dazu die Bundesländer. Thüringen ist seit 2013 Mitglied der Koalition gegen Diskriminierung, die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ins Leben gerufen wurde. Der Beitritt war ein wichtiges Bekenntnis zum Ziel einer Gesellschaft, die gleiche Rechte für alle garantiert und Ausgrenzung nicht zulässt. Der Freistaat hat sich seither in wechselnden politischen Koalitionen dieser Verpflichtung gestellt – an vielen Stellen sehr erfolgreich. Und gerade darum werbe ich dafür, mutig weiter voranzugehen, Beratungsstrukturen zu verbessern und Schutzlücken zu schließen. Der eingangs geschilderte Fall des rassistisch gefärbten Arbeitsblatts etwa wird vom AGG nicht erfasst, denn Bildung ist Ländersache. Landesantidiskriminierungsgesetze mit Geltung für Schulen und andere staatliche Stellen könnten hier helfen; ich freue mich über jedes Land, das diese Diskussion führt.
Eine völlig diskriminierungsfreie Gesellschaft mag ein Fernziel sein. Eine Gesellschaft, in der wir Opfern von Diskriminierung aktiver zur Seite stehen und in der wir das Nicht-Wissen-Wollen nicht mehr durchgehen lassen, die ist erreichbar. Packen wir‘s an.
Herzlichst,
Ihre Christine Lüders
Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes