Ungeliebte Nachbarn: warum Geflüchtete als Nachbarn abgelehnt werden

Offensichtlich spielen räumliche Zusammenhänge bei der Ablehnung von Geflüchteten eine Rolle. In der Stadtsoziologie wird davon ausgegangen: Der Nahraum nimmt für viele Menschen eine wichtige Dimension von Selbstkontrolle und Nähe ein. Deshalb gibt es Proteste, die sich auf den eigenen „Hinterhof“ (Backyard) beziehen. Vorstellungen von Fairness sind dabei besonders wichtig. Vorstellungen über die Bedeutung des Nahraums gehen davon aus, dass Nähe und Nachbarschaft die individuelle Integration durch intensive Sozialkontakte herstellen. Können also Diskurse über den Nahraum erklären, warum Geflüchtete abgelehnt werden? Und lassen sich die Annahmen aus der Stadtsoziologie auch im ländlichen Raum anwenden? Im Folgenden werden Untersuchungen aus dem ländlichen Raum in Thüringen vorgestellt.

In der Analyse von rechtsextremen Strategien ist die Eroberung von Räumen seit Langem bekannt. In vielen öffentlichen Diskussionen wird deshalb vermutet, dass hinter solchen lokalen Aktivitäten mehrheitlich Rechtsextreme stehen. Doch es stellt sich die Frage, warum raumbezogene Referenzen an die eigene Stadt – über den Kreis der rechten Aktivist_innen hinaus – immer mehr Anklang finden. In der Stadtsoziologie wurden viele Studien zu lokalen Protesten durchgeführt, mit denen sich auch die Anti-Asyl-Proteste vergleichen und ansatzweise erklären lassen könnten. Sie fokussieren auf die besondere Bedeutung der räumlichen Nähe und der Ortsbezüge bei Anti-Asyl-Protesten. Das trifft insbesondere auf Nachbarschaften zu, denen sowohl politisch wie sozial eine entscheidende Rolle für das Funktionieren einer gelebten Demokratie zugesprochen wird. Im Projekt „Ungeliebte Nachbarn“ wurde in den Jahren 2015 bis 2017 an der Bauhaus-Universität Weimar mit lokalen Fallstudien in Thüringen untersucht, warum Menschen Geflüchtete nicht als Nachbar_innen haben möchten (Eckardt 2018). Im folgenden Beitrag werden die wichtigsten Erkenntnisse des Projekts dargestellt.1

Die Stadtsoziologie des Nahraums

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Soziolog_innen die Wichtigkeit des urbanen Zusammenlebens für die Erklärung von gesellschaftlichen Konflikten erkannt. Hierbei ist der Raum relevant, den sich Menschen auf die eine oder andere Weise teilen. Offensichtlich ist das Teilen eines gemeinsamen Raumes ein hochgradig komplexes und herausforderndes Vorhaben, das noch schwerer fällt, wenn wenig Einigkeit und wenig vermeintliche Gemeinsamkeit vorliegen. Das Entstehen von Gewalt in Städten wurde deshalb in Studien schon bald auf Konflikte im Nahraum zurückgeführt. Mit dem Begriff der „moralischen Ökonomie“ erklärte der Historiker Edward P. Thompson (1971) den Ausbruch von Gewalt in Kleinstädten des 18. Jahrhunderts. Ausgehend von einer Situation, in der ein Gut – damals Brot – knappgehalten wird, ergibt sich demnach ein gewaltsamer Konflikt, da geklärt werden muss, nach welcher „Moral“ der Preis für das Brot bestimmt werden soll. Thompson fand heraus, dass sich Konflikte wegen unterschiedlicher Vorstellungen über Fairness entzünden. Dabei stehen sich lokale und global-abstraktere Definitionen von Gerechtigkeit gegenüber. Der Stadtethnologe Philippe Bourgois (Karandinos et al. 2014) hat in jüngster Zeit das Konzept Thompsons wieder aufgegriffen. Seine Untersuchungen beschäftigen sich mit der Drogen-Ökonomie in benachteiligten Stadtteilen Chicagos. Demnach entzündete sich die Gewalt dort ebenfalls an der Frage nach „Fairness“ (lokal). Das lokale Einfordern eigener Gerechtigkeitsvorstellungen verstetigt sich Bourgois folgend und führt dazu, dass Bewohner_innen eine lokale und destruktive Solidarität untereinander pflegen, die Gewalt als Beweis für Loyalität beinhaltet. Diese gründet sich auf einer engen und geschlossenen Form von Gemeinschaft – ihr gegenüber fühlen sich die Bewohner_innen mehr verpflichtet als allgemein geltenden Auffassungen von Gerechtigkeit. Die Basis für die Durchsetzung lokaler Fairness ist dann die physische Anwesenheit im Raum.

Geschlossene Gemeinschaften sind auch ein Ausgangspunkt für eine zweite theoretisch-stadtsoziologische Lesart von Anti-Asyl-Protesten. In der NIMBY-Forschung2 geht man davon aus, dass es sich bei Protesten gegen die Ansiedlung ungewünschter Einrichtungen (z. B. Obdachlosenheime oder Windräder vor der eigenen Haustür) um eine Art Ortsverteidigung handelt, die teilweise aus rationalen Gründen (etwa der Angst vor Wertverlust des Grundstückes) und teilweise aus emotionalen, meist diffusen Motiven heraus entsteht. NIMBY-Proteste lassen sich als Ausdruck einer fragmentierten Gesellschaft verstehen, in der sich eine (auch vermeintliche) Minderheitenposition nicht mehr anders zu artikulieren vermag – in diesem Fall die Ablehnung von Geflüchteten. Sie können daher auch auf eine Problematisierung der politischen Repräsentation verweisen. Während einzelne Studien (Dear/Takahashi 1997) NIMBY-Protesten positive Demokratie-Effekte zuschreiben (Stichwort Empowerment), wird allgemein davon ausgegangen (Devine-Wright 2009), dass NIMBY-Proteste eher denjenigen nützen, die bereits gewisse Privilegien besitzen – und sei es nur die Möglichkeit, durch Proteste auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen.

Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, Anti-Asyl-Proteste zu interpretieren. Diese nimmt ebenfalls eine zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft an, bezieht aber weitergehend die Sozialfigur des „Nachbarn“ mit ein. Demnach hat die gesellschaftliche Individualisierung die gemeinschaftlichen Bande von Nachbarschaften so erodiert, dass der Protest gegen Geflüchtete als Nachbar_innen als eine Ablehnung von nachbarschaftlicher Vergemeinschaftung insgesamt verstanden werden könnte. Die dekonstruktive Nachbarschaftsforschung (Reutlinger et al. 2015) geht davon aus, dass nahräumliche Beziehungen grundlegend entwertet worden sind und die Bedeutung der sozialen Figur des „Nachbarn“ verlorengegangen ist. Im Gegensatz zur Theorie der moralischen Ökonomie sind also nicht zu enge Bindungen in der Nachbarschaft das Problem, sondern eher das Gegenteil. Die Ablehnung der Asylsuchenden hängt demnach damit zusammen, dass zwischen Nachbar_innen zu schwache Beziehungen bestehen.

Die drei stadtsoziologischen Erklärungsansätze resultieren aus Studien, die sich mit (groß-)städtischen Kontexten beschäftigen. Es stellt sich daher die Frage, ob diese im ländlichen Raum mit kleinstädtischen Strukturen ebenfalls Geltung beanspruchen können. Es wird davon ausgegangen, dass Faktoren wie Bevölkerungsdichte, abseitige Lage und demografischer Wandel das Kleinstadtleben mehr prägen können als Großstädte. Gleichwohl kann dem Leben auf dem Land nicht per se mehr „Gemeinsinn“ oder sozialer Zusammenhalt zugesprochen werden (Jayne/Bell 2006).

Wie verhält es sich nun im ländlichen Raum Thüringens? – Lässt sich die Anti-Asyl-Haltung hier als NIMBY-Protest, Dynamik urbaner Gewalt oder Erosion von Nachbarschaft verstehen?

Beobachtungen aus dem Eichsfeld

Das Eichsfeld entspricht als Landkreis im Nordwesten Thüringens mit ca. 100.000 Einwohner_innen und einer geringen Bevölkerungsdichte den Kriterien eines ländlichen Raums. Der Landrat des Eichsfelds kündigte im Jahr 2015 an, eine Förderschule zu schließen und diese stattdessen als Flüchtlingsunterkunft zu nutzen. „Besorgte Eltern“ waren daraufhin die wichtigsten Protagonist_innen des Protests. Zunächst gab es eine konstruktive und von sachlichen Argumenten geprägte Debatte. In deren Fokus stand die Schließung der Förderschule und die damit verbundenen längeren Schulwege für die Kinder des Flächenlandkreises. Zu finden waren Argumente, die unabhängig von der Kommune bei jeder bevorstehenden Schulschließung vorgebracht und von zahlreichen Bürger_innen als nachvollziehbar bewertet werden. Jedoch wandelte sich das Narrativ des Protests zügig von der Schließung der Fördereinrichtung hin zum Thema „Geflüchtete im Allgemeinen“. Bei den dann folgenden Protesten waren nicht länger die Eltern der Schule Hauptakteur_innen. Vielmehr übernahm eine rechtsradikale Bewegung die Wortführerschaft, die das Thema besetzte und als Plattform für die Verbreitung ihrer fremdenfeindlichen Ressentiments und Ideologien nutzte. Als Instrumente dienten „zivilgesellschaftliche“ Aktionen und Bündnisse. Die Proteste der Eltern gegen die Schulschließung waren nicht direkt an die Ankunft weiterer Geflüchteter gebunden. Erst die unmittelbare Verknüpfung der Themen Schulschließung und Geflüchtete diente der NPD und ihren Anhängerschaft als Grundlage, ihr Anliegen der Elternschaft mit dem Argument „zum Wohl ihrer Kinder“ unterzujubeln. Die Gründe für die Schulschließung wurden so verfälscht und in ein rassistisches Narrativ integriert. Allerdings setzten weder die Bürgerschaft noch die kommunalen Verantwortlichen ein wirksames Gegen-Narrativ, das die sachlichen Gründe für die Schulschließung hätte thematisieren können.

Die Duldung dieser rechtsradikalen Übernahme kann jedoch nicht nur mit einer einseitigen Instrumentalisierung erklärt werden. Vielmehr wurde die Transformation des Protests durch die politische Grundeinstellung bzw. Mentalität vieler Einwohner_innen begünstigt. Mehrere Interviewpartner_innen wiesen auf den ausgeprägten Konservatismus der lokalen Bevölkerung hin, der die Integration von Zugezogenen grundsätzlich erschwere. Zugleich waren viele Eichsfelder_innen der Meinung, „im Eichsfeld ist die Welt noch in Ordnung“. Zivilgesellschaftlich Engagierte berichteten, dass es grundsätzlich erfolgreicher sei, Bürger_innen zur Teilnahme an Aktionen und Veranstaltungen für Geflüchtete zu gewinnen, als sie gegen Rechtradikale zu mobilisieren. Grundsätzlich seien solche und ähnliche Veranstaltungen aber nur schlecht besucht – egal wofür oder wogegen und von wem sie veranstaltet würden.

Konträre Weltbilder in Sondershausen

Während das Eichsfeld als eine traditionell wenig an die urbanen Zentren Thüringens angebundene Region angesehen werden kann, ist Sondershausen durch einen Strukturwandel geprägt. Der lässt sich als De-Industrialisierung beschreiben. Damit geht die Entwertung von Arbeitskarrieren einher und so kann Sondershausen als Beispiel für einen ländlichen Raum gelten, der sozio-ökonomisch peripherisiert (Kühn 2018) wurde. „Abgeschottet sein“, „von der Politik nicht gehört werden“ – das waren immer wieder genannte Motivationserklärungen für die Anti-Asyl-Proteste, die in den Interviews berichtet wurden. Die These vom Abgehängtsein wurde zumeist nicht weiter begründet oder durch persönliche Erfahrungen plausibel gemacht. Offensichtlich war es an ein Gefühl von Ohnmacht gekoppelt, ohne dass die Personen selbst so genau sagen konnten, wie sich das Gefühl begründen ließ und was es mit Geflüchteten zu tun hatte. Ob es leitend für die Protestierenden war, kann nicht beurteilt werden. Zudem wurde nicht ersichtlich, warum Menschen, wenn sie sich von der Politik nicht beachtet fühlen, ihr Ohnmachtsgefühl fast ausschließlich auf Asylsuchende beziehen. In der nicht selbstverständlichen Schlussfolgerung von Ohnmacht auf Fremdenfeindlichkeit müssen Emotionen und deren Kanalisierung scheinbar vorherrschend sein.

In Sondershausen wurden die Anti-Geflüchteten-Proteste stark von Individuen und kleinen Gruppen geleitet und getragen, die viel Energie in die mediale Verbreitung steckten. Manche anfangs noch sehr allgemeine Sorgen, die sich in der Bevölkerung fanden, lenkten Bewegungen wie „Sondershausen gegen Asylmissbrauch“ auf andere, allgemein politische Themen, die teilweise in einen Zusammenhang mit der Ankunft von Asylbewerber_innen in der Stadt gestellt wurden. Hierbei sind Verbindungen zur NPD nachgewiesen worden. Die Bezüge waren zumeist sehr konstruiert oder einzelne Vorfälle wurden hochgradig symbolisch aufgeladen. Dabei wurde auf abstrakte Ängste gegenüber Geflüchteten angespielt, um sachfremde Probleme in den Vordergrund zu stellen, statt Problemlösungen für die Belange der Bürger_innen zu suchen. Bewegungen und Gruppen wie „Sondershausen ist Bunt“ versuchten, ein offeneres, empathischeres und hoffnungsvolleres Weltbild entgegenzustellen – und damit ein Weltbild, das grundsätzlich die Fähigkeit zum Vertrauen in den Zusammenhalt der Gesellschaft, in das politische System, in Zwischenmenschlichkeit voraussetzt.

Keine Geflüchteten in Blankenberg

Da oftmals kleinsten Gemeinschaften im ländlichen Raum ein gewisser Gemeinschaftssinn nachgesagt wird, wurde eine dritte Kommune in Südthüringen an der bayrischen Grenze ausgewählt. Dort wehrten sich die Einwohner_innen 2016 mit einem Referendum erfolgreich gegen die zeitweilige Notaufnahme von Geflüchtete. Der Gemeindepfarrer vor Ort sah einen Zusammenhang zwischen der Ablehnung der Geflüchteten und der subjektiven Einschätzung, die die Einwohner_innen von ihrer sozialen Lage vornahmen. Ausschlaggebend für die Ablehnung der Asylsuchenden sei die Wahrnehmung gewesen, dass für die Daseinsvorsorge der Menschen in der Region nicht genug Geld da sei – also ein Gefühl der kollektiven Benachteiligung.

Der Pfarrer stellte fest, dass die Menschen, die der Unterbringung von Geflüchteten eher offen gegenüberstanden, relativ still blieben – vor allem junge Menschen. So konnten die Gegner_innen der Notunterkunft von Anfang an die Diskussion bestimmen. Die Stimmung zuvor war von Protesten und Aktionen der Elternsprecher_innen und Elternbeiräte der Schule gegen deren Schließung gekennzeichnet. Die Asylunterkunft in der geschlossenen Schule wäre in der Ortsmitte sehr präsent gewesen. Es gab Stimmen, die die Ablehnung der Flüchtlingsaufnahme mit der Angst vor Kriminalität in Verbindungen brachten. Diese Befürchtungen wurden damit begründet, dass Asylsuchende prinzipiell als Gefahr zu betrachten seien. Daneben gab es auch besonnene Äußerungen. Dazu gehörte zum Beispiel die Kritik an der Vorgeschichte der Schulschließung, die Forderung nach ärztlicher Versorgung der Geflüchteten und der Wunsch nach Sicherheit aller dann in Blankenberg lebenden Menschen. Die Grundstimmung im Ort jedenfalls war schon vor den Ereignissen im September 2015 fremdenfeindlich: „Oft werden Sachen gesagt,“ so eine Darstellung im Interview, „die kann man nicht so stehenlassen, aber man weiß selber nicht wie man dagegen argumentieren soll.“

Der wichtige unbekannte Nachbar

Während die drei Fallstudien die Diskurse über die NIMBY-Theorien und die Übertragbarkeit vom Konzept der „moralischen Ökonomie“ ermöglichen sollten, konnte für die dritte stadtsoziologische Forschungstradition keine adäquate qualitative Forschungsstrategie gefunden werden. Deshalb wurde von November 2016 bis Januar 2017 eine telefonische Befragung in allen Thüringer Landkreisen durchgeführt. Die überwiegende Mehrheit der Befragten stimmte der Aussage zu, dass die Nachbarschaft sehr wichtig ist (69 %). Weitere 22 % stimmten „mehr oder weniger“ zu. Nur ein sehr geringer Anteil der Befragten hielt die Nachbarschaft also für unwichtig. Zudem fühlten sich mehr als 80% der Befragten in ihrer eigenen Nachbarschaft wohl. Auch bezüglich des Sicherheitsgefühls ergab sich ein eindeutiges, überwiegend positives Ergebnis. Zwischen dem wahrgenommenen Ist-Zustand und dem Idealbild von Nachbarschaft empfanden die Befragten jedoch eine bemerkenswerte Differenz. Wichtig für die These zur Erosion von Nachbarschaft ist der Befund, dass die Kommunikation mit den Nachbar_innen vor allem über den spontanen Kontakt auf der Straße verläuft. 19 % gaben an, nie, ein- bis zweimal im Jahr oder einmal im Monat mit ihren Nachbar_innen zu reden. Dem stehen Nachbar_innen (22 %) gegenüber, die täglich – also sehr oft – miteinander kommunizieren. Bei der Mehrheit kommt es dabei nie oder maximal zweimal im Jahr zu Besuchen. Mindestens einmal pro Monat oder häufiger besuchen sich weniger als 10 %. Sich vor der Tür zu treffen oder eher zufällig zu begegnen, ist somit die Regel. Diese Kontakte reichen allerdings nicht aus, um starke Beziehungen entstehen zu lassen: Die Mehrheit der Befragten ist nicht der Meinung, dass sie ihre Nachbar_innen gut kennen. Lediglich jede_r Zehnte gab an, seine Nachbar_innen „sehr gut“ zu kennen.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Die Nachbarschaft hat nur sehr abstrakt eine große Bedeutung. Es fehlen „starke“ Beziehungen, die auf enge und intensive Formen des alltäglichen Zusammenlebens ausgerichtet sind. Das war einst charakteristisch für Kommunen im ländlichen Raum. Es besteht heute nur noch ein vages Bewusstsein, dass die Nachbar_innen verlässlich sind, wenn Hilfe benötigt wird, und dass man mit ihnen kommunizieren kann, wenn man sie trifft. Insgesamt kann deshalb die Bedeutung der Nachbarschaft als ambivalent bezeichnet werden. Unter Nachbarschaft wird für die meisten Befragten kein Raum für soziale Integration verstanden. Die Nachbarschaft ist für sie ein durch relativ geringe Kommunikation und Aktivität hergestellter Sozialraum. Er ist dennoch wichtig, weil er mit der Vorstellung eines „selbst-regierten“ und kontrollierten Raums verbunden ist, der eine selektive Wahl von Menschen für eine vertiefte soziale Beziehung (Freundschaft/Bekanntschaft) erlaubt.

Fazit: Integration in der Nachbarschaft?

Die Diversität der Befunde aus den Fallstudien und der Umfrage erlauben nicht, über die Richtigkeit der drei theoretischen Diskurse über die Ablehnung von Geflüchteten zu befinden. Die drei stadtsoziologischen Ansätze haben sich aber auch für den ländlichen Raum als begründet erwiesen: Es ist deutlich geworden, dass Rechtsextreme Anti-Asyl-Proteste instrumentalisiert haben und dass die Instrumentalisierung nur vor dem Hintergrund weitverbreiteter rassistischer Vorstellungen über die Asylsuchenden stattfinden konnte. In der Tat ließen sich Prozesse destruktiver Solidarität feststellen, im Hinblick auf die Forschung über städtische Gewalt, die auch geschlossene Gemeinschaften als Ursache haben. Im Sinne des moralischen Ökonomie-Ansatzes können diese Proteste als Kampf um die verknappte Ressource Anerkennung verstanden werden – und als Versuch, eine lokale Definition einer normativen Ordnung durchzusetzen. Mit Bezug auf die NIMBY-Forschung lassen sich Beobachtungen anführen, die die Proteste in einem Zusammenhang emotional motivierter Argumentationen erscheinen lassen. Die Auseinandersetzungen wurden wenig rational geführt. Das erschwerte die Auseinandersetzung. Von einem Interessensausgleich und konstruktiver Problemlösung in einem demokratischen Prozess lässt sich kaum sprechen. Die Relevanz der These von der Erosion der gesellschaftlichen Bedeutung von Nachbarschaft in ländlichen Kommunen ließ sich nachvollziehen. Demnach ist Vorsicht geboten, von einer größeren Gemeinschaft und eventuell mehr Integrationspotenzialen im ländlichen Raum auszugehen.

 

1 Um die Lesbarkeit des Artikels zu erhöhen, wird hier auf eine umfangreiche Quellenanalyse sowie methodische und theoretische Diskussionen verzichtet, tiefer gehend dazu siehe Eckardt 2018.

2 NIMBY ist eine US-amerikanische Abkürzung für „Not in my backyard“. Die deutsche Übersetzung lautet: „Nicht in meinem Hinterhof“.

Literatur

Dear, Michael J./Takahashi, Louis M. (1997): The Changing Dynamics of Community Opposition to Human Service Facilities. In: Journal of the American Planning Association, 63, Heft 1, S. 79–94.

Devine-Wright, Patrick (2009): Rethinking NIMBYism: The Role of Place Attachment and Place Identity in Explaining Place-protective Action. In: Journal of Community and Applied Social Psychology, 19, Heft 6, S. 426–441.

Eckardt, Frank (2018): Ungeliebte Nachbarn: Anti-Asyl-Proteste in Thüringen. Bielefeld: transcript.

Karandinos, George et al. (2014): The moral economy of violence in the US inner city. In: Current anthropology, 55, H. 1, S. 1–22.

Reutlinger, Christian/Stiehler, Steve/Lingg, Eva [Hrsg.] (2015): Soziale Nachbarschaften: Geschichte, Grundlagen, Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS.

Thompson, Edward P. (1971): The Moral Economy of the English Crowd in the Eigtheenth Century. In: Past & Presence, 50, S. 76–136.