Einleitung
„Nazis morden, der Staat schaut zu – Verfassungsschutz und NSU“: Diese Parole war immer wieder in den letzten Jahren auf Demonstrationen und Kundgebungen zu hören, auf denen eine rückhaltlose Aufklärung der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gefordert wurde. Bis heute verlangen die Angehörigen der Mordopfer, Betroffene weiterer Taten des NSU sowie Politiker_innen, Nebenklagevertreter_innen und zivilgesellschaftliche Initiativen, dass insbesondere die Rolle der staatlichen Sicherheitsbehörden und ihre Verantwortung aufgeklärt wird. Die 13 parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und der NSU-Prozess in München haben bisher nicht endgültig nachweisen können, dass staatliche Behörden konkrete Kenntnisse über die Taten gehabt haben – wobei Aktenvernichtungen in den Ämtern und andere Formen der Sabotage die rechtsstaatlichen Untersuchungen zum Teil vorsätzlich behindert haben und von einer rückhaltlosen Aufklärung daher keine Rede sein kann (siehe dazu den Sammelband von Hoff et al. 2019). Unter diesen schwierigen Umständen konnte bisher jedoch nachgewiesen werden, dass staatliche Behörden die Radikalisierung der neonazistischen Szene befördert und die zunehmende Gefahr von rechtsterroristischen Strukturen nicht unterbunden haben. Im ersten Bericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses heißt es in Bezug auf die V-Leute des Verfassungsschutzes, hier am Beispiel von Tino Brandt: „Mit der Führung von Tino Brandt als V-Mann hat das [Amt für Verfassungsschutz Thüringen] wenigstens mittelbar die Struktur gestützt, in der sich das spätere NSU-Trio radikalisiert hat.“1 Und die Nebenklageanwältin Antonia von der Behrens fasste in ihrem Abschlussplädoyer im Münchner NSU-Prozess die gewonnenen Erkenntnisse folgendermaßen zusammen: „Auf diese intern sehr ernst genommene Gefährlichkeit [der extrem rechten Szene] reagierten die Dienste nicht mit konsequenter Gefahrenanalyse und Weitergabe der Informationen an die Strafverfolgungsbehörden und öffentlichen Warnungen, sondern mit Gestaltung und vermeintlicher Kontrolle dieser Strukturen, insbesondere über V-Personen“ (von der Behrens 2018: 289).
Die Frage nach der staatlichen Verantwortlichkeit für Mord- und Gewaltdelikte von Dritten stellt sich nicht nur im Rahmen des NSU-Komplexes. Auch im Fall des islamistischen Attentäters Anis Amri wird vor zwei Untersuchungsausschüssen der Frage nachgegangen, welche Kenntnisse die Behörden über seine Pläne hatten. Dabei stehen auch V-Personen des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Fokus, die im Umfeld von Amri eingesetzt wurden (Stoll 2019). Schließlich ist mittlerweile bekannt, dass das Berliner Landeskriminalamt und der Verfassungsschutz Berlin Kenntnisse davon hatten, wie Personen aus der extrem rechten Szene einen Lokalpolitiker der Linken ausspionierten. Ein später erfolgter Brandanschlag gegen die Person wurde nicht verhindert (Gürgen 2019).
In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, welche rechtsstaatliche Verantwortlichkeit Behörden haben, wenn sie nach der Schaffung eines Gefahrenpotenzials oder trotz Kenntnissen von abstrakten Gefahren untätig geblieben sind. In einem ersten Schritt werden wir den Begriff der „Kollusion“ konturieren, der das Zusammenwirken von staatlichen Behörden und Drittparteien beschreibt. Anschließend werden wir zentrale Elemente aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zum Schutz des Lebens aus Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention rekonstruieren. Schließlich wird der Frage nachgegangen, ob die vom EGMR statuierten Schutzpflichten auf Konstellationen wie im NSU-Komplex angewendet werden können bzw. inwiefern man sie für die abstrakte Gefahr des Einsatzes von V-Leuten erweitern kann.
Kollusion
Der Begriff Kollusion ist vor allem im Forschungsstrang der State Crime Theory entwickelt worden. Unter „State Crimes“ werden Handlungen verstanden, die als rechtswidrig normiert sind und die von Beamt_innen in ihrer Rolle als Repräsentant_innen des Staates ausgeführt werden (Kramer/Michalowski 2005: 447). Zugleich lässt sich beobachten, dass Staaten auf vielfältige Weise versuchen, die Verantwortung für das rechtswidrige Verhalten ihrer Behörden und öffentlichen Bediensteten zu negieren, weshalb das international kodifizierte Recht, das mitunter den nationalstaatlichen Beschränkungen enthoben ist, zunehmend relevanter wird (ebd.). Vor dem Hintergrund der gezielten Tötungen von Anhänger_innen der Irish Republican Army (IRA) in Nordirland und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei wurde der Begriff der Kollusion als Spezialfall von „State Crime“ entwickelt, um die Verantwortlichkeit von staatlichen Akteur_innen zu begründen, wenn gezielte Tötungen oder andere Verbrechen durch nichtstaatliche Drittparteien durchgeführt werden. Auch die Nebenklage im NSU-Prozess und zivilgesellschaftliche Akteur_innen benutzen den Begriff in der Aufarbeitung zum NSU-Komplex, um die Bedeutung des V-Leute-Netzwerks und die Folgen von Strukturen des institutionellen Rassismus im Hinblick auf die Arbeit der Ermittlungsbehörden zu beurteilen (NSU Watch 2015; Eick 2016; Soditt/Schmidt 2017). Die Nebenklageanwältin Antonia von der Behrens sagte hierzu in einem Interview: „Die Frage ist, ob man in unserem Fall von ‚Kollusion‘ sprechen kann. Also ob man auf einen Begriff zurückgreift, der aus dem nordirischen Kontext kommt, wo das Zusammenwirken staatlicher Stellen und rechter Gruppen noch eindeutiger war, als wir es hier haben.“ (von der Behrens 2016)
Der Kriminologe Mark McGovern definiert den Begriff der Kollusion als direkte oder indirekte Beteiligung von staatlichen Akteur_innen an nichtstaatlicher politischer Gewalt durch Auftragsvergabe, Kollaboration oder stillschweigende Duldung (McGovern 2011: 215f.). Im Stevens „Three Inquiry Report“ von 1999 wird Kollusion als „eine Serie von ‚schwerwiegenden Handlungen und Unterlassungen‘ durch Mitglieder der nordirischen Royal Ulster Constabulary (RUC) [beschrieben], mit dem Ergebnis, dass Menschen ermordet oder schwer verletzt wurden“ (zitiert nach Eick 2016: 57). Im Rahmen von Kollusion seien zudem Fälle aufgetreten, in denen staatliche Akteur_innen den Nachweis der direkten oder indirekten Unterstützung verschleiern, um Verantwortlichkeiten zu negieren. Nach dem „Cory Report“, der sich ebenfalls mit der Rolle britischer Geheimdienste in den nordirischen „Troubles“ beschäftigt hat, könne zum Begriff der Kollusion überdies zählen, dass Staatsapparate durch ihre Informanten-Netzwerke zu Mitwissern werden, indem angesichts von Gewaltverbrechen ein Auge zugedrückt werde, man untätig gegenüber bekannt gewordenem Fehlverhalten sei und hierdurch stillschweigendes Einvernehmen zeige (ebd.). McGovern zeigt auf, dass zwischen den Geheimdiensten und seinen Quellen institutionalisierte Systeme aufgebaut werden, um wechselseitig den Schutz vor Strafverfolgung sicherzustellen (McGovern 2016: 6). Im Rahmen der justiziellen und politischen Aufarbeitung des Nordirlandkonflikts sind immer wieder Fälle bekannt geworden, in denen britische Sicherheitsbehörden über ihre Quellen Informationen über beabsichtigte Tötungen gewonnen haben, die überwiegend nicht dazu verwertet wurden, die potenziellen Opfer vor den Taten zu schützen. Ruth Jamieson und Kieran McEvoy sprechen deshalb in Bezug auf die Zeit der Troubles von einer „institutionellen staatlichen Kollusion“ (Jamieson/McEvoy 2005: 512). Diese Konstellation habe sich dadurch ausgezeichnet, dass die polizeilichen Ermittlungsbehörden oft keine Informationen von den Geheimdiensten erhalten hätten und zum Beispiel im Rahmen von Observationen nicht wussten, dass sie in diesem Moment Quellen der Geheimdienste beobachteten. Zudem hätten sich die Gerichte unfähig gezeigt, die Hinweise auf eine Kollusion hinreichend zu untersuchen (ebd.).
Der Begriff der Kollusion kann zusammenfassend als Analysekategorie verstanden werden, um das Zusammenwirken von staatlichen Sicherheitsbehörden und nichtstaatlichen Akteur_innen in einen politischen wie rechtlichen Verantwortungszusammenhang zu stellen. Die überwiegenden Konstellationen von Kollusion beschreiben Vorgänge, in deren Rahmen nichtstaatliche Akteur_innen das Leben anderer bedrohen und die staatlichen Akteur_innen Kenntnisse von diesem Verhalten bekommen und entweder nicht reagieren oder die Aktivitäten stillschweigend dulden. Für eine rechtliche Verantwortlichkeit staatlicher Behörden wird also auf die Beauftragung, Kollaboration, Mitwisserschaft oder auf die Ingangsetzung von abstrakten Gefahren abgestellt.
EGMR-Rechtsprechung
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu präventiven Schutzpflichten ist für die Untersuchung von Kollusion im Falle des deutschen Rechtsterrorismus von besonderer Relevanz, um etwaige Verantwortlichen des Staates zu adressieren.2 Im Juni 1998 stellte der EGMR im Urteil L.C.B. gegen das Vereinigte Königreich fest, dass Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) neben dem Tötungsverbot für staatliche Hoheitsträger_innen auch eine staatliche Pflicht zum Schutze des Lebens enthalte, wenn eine Gefahr für das Leben eines Menschen besteht.3 Diese Verpflichtung hat der Gerichtshof in diversen Fällen verschiedenartig ausgeformt.
Die Pflicht zur Verhinderung von Tötungsdelikten
Zentral ist dabei die Pflicht, Tötungsdelikte zu verhindern. Diese Verpflichtung nannte der EGMR erstmals in der Rechtssache Osman gegen das Vereinigte Königreich4. In dem Fall ging es um die Ermordung des Herrn Osman durch den früheren Lehrer seines Sohnes. Der Lehrer, der sich in den Sohn verliebt hatte, war der Polizei wegen Stalking bekannt. In der Rechtssache wollten die nächsten Angehörigen wissen, ob die Behörden Maßnahmen zum Schutze des Lebens hätten ergreifen müssen. Unter den konkreten Umständen des Falls verneinte der EGMR zwar, dass die britischen Behörden zu präventiven Maßnahmen verpflichtet gewesen seien, stellte aber zugleich fest, dass Art. 2 EMRK die Konventionsstaaten zu Präventivmaßnahmen verpflichte, wenn das Leben eines Menschen durch einen Dritten bedroht ist. Da solche Schutzmaßnahmen, beispielsweise der individuelle Personenschutz, den Staat in einem hohen Maße in Anspruch nehmen, könne nicht jede Gefahr eine derartige Schutzpflicht nach sich ziehen. Aus der Pflicht zu präventiven Maßnahmen sollen für die Konventionsstaaten keine unangemessenen Belastungen erwachsen. Deshalb bestehe eine Pflicht zur Verhinderung von Tötungsdelikten nur dann, wenn eine tatsächliche und unmittelbare Gefahr vorliegt und der Staat die Gefahr gekannt hat oder gekannt haben müsste.5 Dieser sogenannte Osman-Test stellt für die Schutzpflicht des Staates eine nicht abänderbare Voraussetzung dar. Selbst wenn der Staat zur Entstehung der Gefahr beigetragen hat, kann vom Osman-Test nicht abgewichen werden.6
V-Leute im NSU-Komplex: konkrete oder abstrakte Gefahren?
Im NSU-Komplex wurden die Opfer von Dritten ermordet, nämlich den Mitgliedern der extrem rechten Terrororganisation NSU. Die konkrete Gefahr für das Leben der Opfer ging also von Personen aus, die – nach Aussagen des Verfassungsschutzes – in keiner Weise eine Verbindung zu staatlichen Hoheitsträgern hatten. Die Frage, ob der Staat präventive Maßnahmen zur Verhinderung der Tötungsdelikte hätte ergreifen müssen, kann nur dann bejaht werden, wenn der Staat Kenntnis von der konkreten Gefahr gehabt hat oder gehabt haben müsste. Die Vertreter_innen der Verfassungsschutzbehörden stritten jedoch bei ihren Befragungen vor den Untersuchungsausschüssen ab, Kenntnis vom NSU und damit von der konkreten Gefahr des Rechtsterrorismus gehabt zu haben.
Das erste Problem besteht also darin, dass zur Begründung einer präventiven Schutzpflicht – unabhängig von der Fallgruppe – eine deutsche Behörde Kenntnis von den terroristischen Gefahren gehabt haben müsste. Inwiefern die deutschen Behörden tatsächlich unwissend waren, ist umstritten. Unstrittig ist jedoch, dass die Ämter für Verfassungsschutz über 40 V-Leute in der Neonazi-Szene hatten, die zum Teil im Umfeld des NSU installiert waren (Scharmer 2018). Wie eingangs erwähnt, erhielten die V-Leute durch den Verfassungsschutz umfangreiche finanzielle Zuwendungen. Insbesondere V-Leute aus dem Umfeld des Thüringer Heimatschutzes bekamen hohe Summen (im Falle von Tino Brandt insgesamt 200.000 DM), die sie zum Teil in den Aufbau der Szenestrukturen steckten. Der Verfassungsschutz hat mit der indirekten Finanzierung der Neonaziszene zwar nicht die Terrorzelle selbst geschaffen. Indem der Inlandsgeheimdienst aber vor allem Führungspersonen aus dem Thüringer Heimatschutz und Blood & Honour-Netzwerk anwarb, verschafften die Verfassungsschutzämter gerade den zentralen Akteur_innen finanzielle Mittel und Schutz vor Strafverfolgung. Damit einhergehend radikalisierte sich die Szene durch die vom Verfassungsschutz finanzierten V-Leute. Die Unterstützung der Informant_innen hat unmittelbar die Entstehung und Radikalisierung der neonazistischen Szene begünstigt, in der auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe politisch sozialisiert wurden (Stolle 2018: 116 ff.). Letztlich haben die Verfassungsschutzämter über die V-Leute eine spezifische Form der Kollusion mit der extrem rechten Szene etabliert, mithin eine abstrakte Gefahr für jene Personen und gesellschaftlichen Gruppen mitverursacht, die in der Ideologie der extremen Rechten als mögliche Ziele von Gewaltdelikten gelten.
Aus der Finanzierung der V-Leute lässt sich aber auch ableiten, dass der Verfassungsschutz Kenntnis von der Gefahr einer radikalisierten Szene gehabt haben muss. Gerade die Verfassungsschutzämter sollten als Behörden, die zur Erkennung von terroristischen Gefahren dienen, ein Fachwissen über die Entstehung terroristischer Vereinigungen haben. Die Behörden müssen sich also darüber im Klaren gewesen sein, auf welche Art und Weise ihre Unterstützung der V-Leute die Szene gestärkt hat. In diesem Sinne kann man davon ausgehen, dass die Verfassungsschutzbehörden ein Bewusstsein über die Existenz von abstrakten Gefahren hatten, die von dieser Szene ausgehen. Nach den Maßgaben des Osman-Tests verlangt der EGMR jedoch die Kenntnis oder das Kennenmüssen einer konkreten Gefahr, die freilich auch über Berichte von V-Leuten geschaffen werden kann (Holder 2017: 183) – ob die jeweiligen Informationen von den V-Leuten über die Verfassungsschutzämter an die Ermittlungsbehörden weitergegeben werden, ist ein internes, organisatorisches Problem der staatlichen Behörden, denn aus Sicht des EGMR wird alleine darauf abgestellt, ob das Wissen überhaupt in staatliche Strukturen eingeflossen ist. Soditt und Schmidt argumentieren in diesem Sinne überzeugend, dass die sehr wahrscheinliche Nichtweitergabe von Informationen bzw. ihre unzureichende Verwendung zum Schutz des Lebens eine Verletzung von Art. 2 EMRK indiziere (2017: 199). Für dieses Ergebnis müssen sie indes auf eine etwaige konkrete Gefahr abstellen. Eine solche Kenntnis von einer konkreten Gefahr erkannte der EGMR in der Rechtssache Dink gegen die Türkei. Die Nebenklage der nächsten Angehörigen des ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink konnte nachweisen, dass die Trabzoner Polizeibehörde bereits mehrere Monate im Voraus über einen V-Mann von der geplanten Ermordung durch Personen aus der extremen Rechten informiert wurde; weil die Behörden daraufhin nicht tätig wurden, haben sie, so der EGMR, ihre präventive Schutzpflicht für das Leben verletzt.7
Nun ließe sich in Bezug auf den NSU-Komplex angesichts des staatlichen Beitrags zur Entstehung und Duldung einer radikalisierten extrem rechten Szene argumentieren, dass die Anforderungen des Osman-Tests den Umständen entsprechend gesenkt werden müssen. Ein Abweichen von den strengen Vorgaben des Osman-Tests hat der EGMR jedoch im Fall Van Colle gegen das Vereinigte Königreich ausdrücklich abgelehnt.8 Legt man diesen Maßstab zugrunde, dann wäre der deutsche Staat nicht zu präventiven Maßnahmen verpflichtet gewesen.
Schutz vor Gefahren aus staatlichen Aktivitäten
Der EGMR hat im Rahmen seiner Rechtsprechung zu staatlichen Schutzpflichten jedoch ebenso anerkannt, dass die Staaten zur Ergreifung von Schutzmaßnahmen verpflichtet sind, wenn aus staatlichem Handeln abstrakte Gefahren für unbestimmte Personen, sprich die Gesellschaft selbst erwachsen. Hierzu ist zum einen die Rechtssache Öneryıldız gegen die Türkei zu nennen. In dem Fall kam es zu einer Methangasexplosion auf einer Mülldeponie. Bewohner_innen der nahegelegenen Siedlung wurden dabei getötet. Der Gerichtshof verurteilte die Türkei, da die Behörden von den Gefahren wussten, aber untätig blieben. Wenn die Konventionsstaaten die Entstehung einer Gefahr für Leib und Leben zulassen, seien sie zur Absicherung und Überwachung der gefährlichen Aktivitäten verpflichtet. Ebenso bestehe die Pflicht, praktische Maßnahmen zum Schutze des Lebens zu ergreifen, wenn Gefahren für das Leben der Menschen der Aktivität innewohnend sind.9
Zum anderen ist die Rechtssache Maiorano und andere gegen Italien zu nennen. Dort hatte ein Häftling, dem der offene Vollzug gewährt wurde, zwei Frauen entführt, vergewaltigt und ermordet. Italien hatte keine Möglichkeit, von den konkreten Tötungsabsichten des Häftlings Kenntnis zu erlangen. Im Urteil stellte der Gerichtshof erneut fest, dass die Konventionsstaaten nach Art. 2 EMRK auch verpflichtet sind, die Gesellschaft vor Gefahren zu schützen, die von einer Person ausgehen, die eine Freiheitsstrafe wegen einer Gewalttat verbüßt. Dies erfordere bei Gewährung des offenen Vollzugs, dass die Konventionsstaaten sorgfältig überprüfen, ob von dem Häftling noch Gefahren für die Gesellschaft ausgehen und gegebenenfalls keinen offenen Vollzug gewähren.10
Der EGMR sieht damit die Konventionsstaaten in der Pflicht, wenn aus ihren staatlichen Aktivitäten Gefahren für einen unbestimmten Personenkreis erwachsen. Die Arten der Präventivmaßnahmen sind dabei vielfältig. Sie reichen von Absicherung und Überwachung der Gefahr bis hin zur Ergreifung praktischer Maßnahmen.11 Eine solche praktische Maßnahme kann aufgrund des unbestimmten Kreises gefährdeter Personen kein Personenschutz sein. Vielmehr kann eine Schutzmaßnahme nur in der Einstellung der gefahrbringenden Aktivität bestehen, wenn sich die Gefahr selbst nicht anders einhegen lässt.
Schlussbetrachtungen im Hinblick auf den NSU-Komplex
Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus retrospektiv für den NSU-Komplex oder vergleichbare Konstellationen? Zuallererst hätten die Verfassungsschutzämter, um einer konventionswidrigen Kollusion zu entgehen, ihre geheimdienstlichen Aktivitäten überprüfen müssen und eruieren müssen, inwiefern diese zu einer abstrakten Gefahr beitragen. Indem die Finanzierung und Unterstützung von V-Personen in der extrem rechten Szene, wie bereits dargelegt, zur Entstehung von abstrakten Gefahren beigetragen hat, hätte dies zu einem Abbruch der spezifischen geheimdienstlichen Aktivitäten, sprich der Einstellung der Finanzierung von V-Leuten, führen müssen. In seiner Rechtsprechung hat der EGMR zudem einen weiteren Aspekt betont: Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, effektive Untersuchungen durchzuführen, um eine etwaige Schutzpflichtverletzung hinreichend aufzuklären. Um zumindest im Nachhinein effektive Untersuchungen zu ermöglichen, müssten die Verfassungsschutzämter den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen sowie in Strafprozessen den Vertreter_innen der nächsten Angehörigen eine umfassende Einsicht in die Akten von V-Personen gewähren, um zu untersuchen, ob es zu einem konventionswidrigen Zusammenwirken von staatlichen Behörden und Drittparteien gekommen ist (Pichl 2016; von der Behrens 2018: 198f.; Soditt/Schmidt 2017: 199ff.).
Die Rechtsprechung des EGMR stellt zusammenfassend die geheimdienstliche Tätigkeit von V-Personen grundsätzlich infrage. Die Finanzierung und Unterstützung von Personen, die aus Szenen wie der extremen Rechten angeworben werden, kann zur Entstehung abstrakter Gefahren für das Leben führen, selbst wenn die Ämter dies nicht intendiert haben. Nichtsdestotrotz sind die Ämter dann verpflichtet, ihre unmittelbaren oder mittelbaren Beiträge für die abstrakten Gefahren zu unterbinden. Dieses rechtsstaatliche Gebot behält auch nach dem NSU-Komplex seine Relevanz, denn trotz der offenkundigen Probleme des Einsatzes von V-Leuten haben weder der Gesetzgeber noch die Ämter dieses geheimdienstliche Instrument abgeschafft.
1 Thüringer Landtag, Drucksache 5/8080, S. 1405.
2 Das erste Urteil fällte der EGMR in der Rechtssache: EGMR, McCann u. a. v. United Kingdom, Urteil vom 27. September 1995, No. 18984/91.
3 EGMR, L.C.B. gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 9. Juni 1998, No. 14/1997/798/1001, §36.
4 EGMR, Osman gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 28. Oktober 1998, No. 87/1997/871/1083, §115.
5 EGMR, Osman gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 28. Oktober 1998, No. 87/1997/871/1083, §116.
6 EGMR, Van Colle gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 13. November 2012, No. 7678/09, §91.
7 EGMR, Dink gegen Türkei, Urteil vom 14. September 2010, Nos. 2668/07, 6102/08, 30079/08, 7072/09 und 7124/09.
8 EGMR, Van Colle gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 13. November 2012, No. 7678/09, §91.
9 EGMR, Öneryıldız gegen die Türkei, Urteil vom 30. November 2004, No. 48939/99, §90.
10 EGMR, Maiorano und andere gegen Italien, Urteil vom 15. Dezember 2009, No. 28634/06, §110ff. Ebenso lässt sich das Urteil EGMR, Mastromatteo gegen Italien, Urteil vom 28. Oktober 2002, No. 37703/97, §69ff. nennen.
11 EGMR, Öneryıldız gegen die Türkei, Urteil vom 30. November 2004, No. 48939/99, §90.
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