Antisemitismus unter ‚Etablierten‘ und ‚Außenseitern‘

Wie gehen alteingesessene Gemeinschaften mit Menschen um, die neu dazukommen? Diese Frage hat der Soziologe Norbert Elias in den 1950 Jahren in einer englischen Gemeinde empirisch untersucht. Er fand dabei u.a. heraus: Die Gruppe der Etablierten neigt dazu, „der Außenseitergruppe insgesamt die ‚schlechten‘ Eigenschaften der ‚schlechtesten‘ ihrer Teilgruppen, ihrer anomischen Minorität, zuzuschreiben.

Und umgekehrt wird das Selbstbild der Etabliertengruppe eher durch die Minorität ihrer ‚besten‘ Mitglieder, durch ihre beispielhafteste oder ‚nomischste‘ Teilgruppe geprägt. Diese pars-pro-toto-Verzerrung in entgegengesetzter Richtung erlaubt es den Etablierten, ihre Glaubensaxiome vor sich und anderen als begründet zu erweisen: sie haben immer Belege dafür parat, daß die eigene Gruppe ‚gut‘ ist und die andere ‚schlecht‘.“ (Elias/Scotson 1993, S. 13) Dieser Mechanismus ist im gesellschaftlichen Umgang mit hinzukommenden Geflüchteten, Migrant/-innen und insbesondere Muslim/-innen derzeit zu beobachten.

Der Historiker Wolfgang Benz (2017) wies im ersten Band der IDZ-Schriftenreihe „Wissen schafft Demokratie“ zu Recht darauf hin, dass die Ängste von „Juden, die vor einer Zunahme des Antisemitismus warnen, weil Muslime aus Syrien nicht unbedingt Freunde Israels sind“ (S. 192), ernst genommen werden müssen. Der Befund, demzufolge auch nach Deutschland kommende Migrant/-innen problematische Einstellungen tragen, z.B. antisemitische, frauen- und homofeindliche, ist keineswegs neu (bspw. wurde in der 2015 verfassten Analyse „Gefährdungen der demokratischen Kultur in Thüringen“ darauf hingewiesen: Quent/Saalheiser/Schmidtke 2016, S. 59f). Es besteht kein Zweifel, dass dies die Einwanderungsgesellschaft herausfordert. Gerade angesichts des nach wie vor geringen Anteils von Menschen aus Einwanderfamilien in Thüringen sollte dieser Befund allerdings nicht als Ablenkung für den Antisemitismus in der Etabliertengruppe herhalten.

In der Agitation v.a. der islamfeindlichen populistischen und extremen Rechten werden Deutsche kurzerhand von einer der denkbar „schlechtesten“ Einstellungen freigesprochen, die man im Kontext der deutschen Geschichte haben kann, um dann den neu Dazukommenden jene Last zuzuschreiben. Das Muster findet sich auch in der Diskussion um Sexismus in Deutschland. Vor allem rechtsextreme Akteure versuchen – zum Beispiel in der Onlinekampagne „120db“ – die emanzipatorische Kraft der #meetoo-Bewegung umzulenken. Sexualisierte Gewalt, so der rechte Tenor, sei ein „importiertes“ Problem der Migrant/-innen. Die IDZ-Studie „Diskriminierung und ihre Auswirkungen für Betroffene und die Gesellschaft“ hat gezeigt: Sexismus in Thüringen ist durchaus nicht „importiert“.

Die Abwälzungen derartiger Verfehlungen auf Sündenböcke dient, neben der Denunzierung der Fremdgruppe, auch dazu, von den Fehlern der Eigengruppe abzulenken, Reflexion abzuwehren und Privilegien - etwa der Abwertung und Ausbeutung von Frauen - aufrechtzuerhalten.

Und: In Wirklichkeit verbinden Antisemitismus, Antiliberalismus, Frauen-, Homo- und Transfeindlichkeit extrem Rechte und radikalisierte Islamisten ideologisch miteinander; u.a. darauf weist eine neue Studie des IDZ in Kooperation mit dem ISD London hin (Fielitz et al. 2018). Eine Studie der Europäischen Agentur für Menschenrechte (FRA) zeigt: Im Jahr 2012 berichteten Juden und Jüdinnen in Deutschland mehr über antisemitische Belästigungen als im Durchschnitt der untersuchten EU-Länder (FRA 2013). Im Negativ-Ranking der acht untersuchten Staaten, in denen 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung der EU lebten, stand Deutschland auf Platz 3 – hinter Belgien (2) und Ungarn (1). Diese Befunde widersprechen der These des „importierten Antisemitismus“, ebenso wie folgende Beispiele: Der ehemalige Bundeswehrsoldat und mutmaßliche Rechtsterrorist Franco A. hat mit seiner Abschlussarbeit ein antisemitisches Verschwörungspamphlet vorgelegt, der zufolge eine jüdische Verschwörung eine Strategie der „Subversion“ verfolge, um die europäischen Völker zu vernichten, u.a. durch Menschenrechte, Demokratie und Migration. Derartige antisemitische Verschwörungslegenden im ideologischen Stil der gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ sind in den rechtspopulistischen und rechtsextremen Strömungen Europas weit verbreitet. Jüngst Teil waren sie Teil des Wahlkampfes des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der sich gleichzeitig als Verteidiger eines christlichen Europas inszeniert hat. Auch Thüringen ist nicht frei von Antisemitismus: Wiederholt wurden in den letzten Jahren, etwa in Gotha und Jena, jüdische Friedhöfe geschändet und mit rechtsextremen Symbolen beschmiert. Bei den Reden und Musikbeiträgen der rechten Hasskonzerte in Themar, Kirchheim, Eisenach und anderswo gehört Antisemitismus zur ideologischen Grundausstattung (vgl. Büchner 2018). Bei einigen Fußballfans und Jugendlichen gilt „Jude“ als Schimpfwort. Der repräsentative Thüringen-Monitor zeigt: Die Zustimmung wahlberechtigter Thüringer/-innen zur antisemitischen Aussage „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns“ ist 2017 auf 14 % angestiegen (2016: 10 %) (Best et al. 2017, S. 135). Das ist nicht durch „importierten Antisemitismus“ von geflüchteten Menschen zu erklären, die wurden nämlich gar nicht befragt.

Die derzeit in vielen europäischen Staaten virulente Frage, ob antisemitische Taten mit muslimischem Hintergrund zunehmen, zeigt einmal mehr die Schwächen der vorhandenen behördlichen Erfassungssysteme für Hasskriminalität in Deutschland, die der Komplexität des Problems nicht gerecht werden: Denn Antisemitismus wird in der Regel automatisch als „rechts motiviert“ eingeordnet – oder das antisemitische Ressentiment wird gar nicht erst anerkannt. Im aktuellen Fall eines Graffitis mit dem Slogan „Juden Jena“ in Rudolstadt etwa wurde es nach öffentlichen Verlautbarungen der Thüringer Polizei der Fußballszene zugeordnet, demzufolge sei es nicht „politisch motiviert“. Die Möglichkeit, dass eine Tat sowohl antisemitisch als auch fußballbezogen sein kann, dass also Fußballfans auch antisemitisch handeln können, ist offenbar nicht vorgesehen. Die tatsächliche Zahl von strafrechtlich relevanten Vorfällen, bei denen Antisemitismus eine Rolle spielt, dürfte daher auch in Thüringen deutlich über den vorhandenen Fallzahlen liegen. International vergleichbar sind die Behördenangaben allerdings aufgrund der vollkommen unterschiedlichen Erfassungssysteme nicht. 2013 forderte die europäischen Menschenrechtsagentur: „Die EU-Mitgliedstaaten sind dazu aufgerufen, auf systematische und effektive Art und Weise Daten darüber zu sammeln, wie die jüdische Bevölkerung ihre Grundrechte im Alltag erlebt bzw. wahrnimmt.“ (FRA 2013).

In diesem Sinne erprobt das IDZ in Kooperation mit der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen (JLGT) seit Januar 2017 die Dokumentation antisemitischer Vorfälle in Thüringen, die der JLGT gemeldet werden bzw. die Gemeindemitglieder betreffen. Ziel ist es, antisemitische Diskriminierung und Hasskriminalität zu erfassen, sichtbar zu machen und auf Grundlage empirischer Fakten geeignete Gegenmaßnahmen zu konzipieren. Denn: Von den Gefahren des Antisemitismus abzulenken oder diesen zu relativieren – sei es unter den „Etablierten“ oder den „Außenseitern“ –, nutzt letztlich nur den Antisemit/-innen.

Quellen

Benz, Wolfgang (2017): Aufstand der Ratlosen? Vormarsch der Rechten? Krise der Demokratie? Fremdenhass und Wutmenschentum in schwierigen Zeiten. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.): Wissen schafft Demokratie. Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft. Berlin: Amadeu Antonio Stiftung, S. 190–197.

Best, Heinrich; Niehoff, Steffen; Salheiser, Axel; Vogel, Lars (2017): Thüringens ambivalente Mitte: Soziale Lagen und politische Einstellungen. Ergebnisse des THÜRINGEN-MONITORs 2017. Online:  http://www.thueringen.de/th1/tsk/landesregierung/thueringenmonitor/.

Büchner, Timo (2018): „Weltbürgertum statt Vaterland“. Antisemitismus im RechtsRock. Münster: Edition Assemblage.

Elias, Norbert; Scotson, John L.; Schröter, Michael (1993): Etablierte und Aussenseiter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2013): Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung mit Diskriminierung und Hasskriminalität in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Online: http://fra.europa.eu/de/publication/2013/erfahrungen-der-jdischen-bevlkerung-mit-diskriminierung-und-hasskriminalitt-den.

Fielitz, Maik; Ebner, Julia; Guhl, Jakob; Quent, Matthias (2018): Hassliebe. Muslimfeindlichkeit und Islamismus im Tango. Forschungsbericht. IDZ.

Quent, Matthias; Saalheiser, Axel; Schmidtke, Franziska (2016): Gefährdungen der demokratischen Kultur in Thüringen. Expertise zur Überarbeitung des Thüringer Landesprogramms für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit. Kompetenzzentrum Rechtsextremismus der FSU Jena. Jena.