AfD-Wahlerfolg: „Eine merkwürdige Wohlstandskritik“
Pirna in Sachsen, einen Tag nach der Wahl: 35,5 Prozent der Zweitstimmen konnte die rechtspopulistische und in Teilen rechtsextreme (vgl. Quent 2017) AfD hier im Wahlkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge für sich verbuchen. Die Region galt lange als Hochburg der rechtsextremen NPD. Neonazis verfügen hier über starke Strukturen, Angriffe auf Geflüchtete und deren Unterstützer_innen häufen sich bis heute. Dabei ist der Landkreis eine der am stärksten touristisch geprägten Regionen in Sachsen und gehört mit einer Arbeitslosenquote von 6,4 Prozent zu den wirtschaftlich stabileren Regionen. Im Interview mit einem Radiosender beschreibt ein Mitarbeiter einer karitativen Einrichtung in Pirna eine „merkwürdige Wohlstandskritik“, die die Menschen in der Region zur AfD-Wahl bewegt habe. Viele Menschen, die die AfD aus Unzufriedenheit gewählt hätten, hätten ein Haus, ein regelmäßiges Einkommen, zum Teil mehrere Autos. Von einem „Aufstand der Abgehängten,“ den viele Politiker_innen und Medienvertreter_innen nach der Wahl für den – in diesem Ausmaß unerwarteten – Rechtsruck verantwortlich machten, kann hier offenbar keine Rede sein. Im öffentlichen Diskurs machte sich Ratlosigkeit breit. Hatte es eine plötzliche Radikalisierung innerhalb der Wählerschaft oder eine Aktivierung von zuvor Wahlverdrossenen gegeben? Oder zeigte sich in Deutschland eine tiefgehende politisch-kulturelle Konfliktlinie zwischen nationalistischen und chauvinistischen Einstellungen einerseits und einer offenen, liberalen Gesellschaft andererseits? Eine Analyse der Bundestagswahlergebnisse1 in allen Wahlkreisen zeigt: Die Rechtspopulist_innen konnten nicht nur in relativ abgehängten, sondern auch in einkommensstärkeren Regionen erfolgreich mobilisieren. Die Gründe des AfD-Wahlerfolgs liegen vor allem in der politischen Kultur der Wahlkreise: Die AfD konnte dort erfolgreich mobilisieren, wo sich schon 2013 ein größerer Teil der Bevölkerung entweder komplett aus dem demokratischen Prozess entkoppelt hatte oder stärker rechtsextrem gewählt hatte als in Wahlkreisen mit niedrigeren Anteilen an Nichtwähler_innen und Wähler_innen der rechtsextremen NPD.
Theorien, Thesen und Operationalisierung
Der Forschungsstand zu rechtspopulistischem und rechtsextremistischem Wahlverhalten ist groß und die empirischen Befunde variieren über Länder, Forschungsansätze und inhaltliche Schwerpunkte stark in ihren Ergebnissen. Nach Peter Lösche (1933: 22) etablieren sich neue Parteien anhand verschiedener und im jeweiligen Kontext aktueller gesellschaftlicher Konfliktlinien. Zwei relevante Konfliktlinien, welche die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion in der Phase vor der Bundestagswahl in Deutschland allgemein und hinsichtlich der AfD im Speziellen geprägt haben, sind die sozioökonomische einerseits und die kulturell-politische Konfliktlinie andererseits (u. a. Inglehart/Norris 2016).
Sozioökonomische Theorien (häufig Modernisierungsverlierertheorien) beziehen sich auf die wirtschaftliche Lebenslage der Menschen. Diese Theorien nehmen an, dass vorrangig gesellschaftliche Gruppen mit geringem Zugang zu Bildung, geringerem Einkommen sowie in Arbeitslosigkeit oder prekären Arbeitsverhältnissen stehend, betroffen sind. Sie seien Deprivations- und Konkurrenzdruck ausgesetzt und könnten sich aus Frust über ihre materielle und soziale Lage verstärkt populistischen und extremistischen Lösungsversprechen zuwenden (Lipset 1984, Betz 1993, Anastasakis 2000, Spier 2010). Während viele Studien europaweit Effekte im Sinne der sozioökonomischen Modernisierungsverlierertheorie bestätigen (Lubbers et al. 2002, Arzheimer/Carter 2006, Spier 2010, Dippel et al. 2017), gibt es gerade hinsichtlich der AfD in Deutschland unterschiedliche Befunde. Einige Studien verweisen auf eher niedrige Einkommens- und Bildungswerte der potenziellen Wähler_innen (u. a. Brähler et al. 2016, Brenke/Kritikos 2017), andere wiederum verorten die Partei eher in mittleren bis höheren Einkommenslagen mit relativ geringen sozioökonomischen Sorgen (Bergmann et al. 2016, Lengfeld 2017).
In der Studie wird untersucht, ob mit steigender Arbeitslosenquote, sinkendem Bruttoinlandsprodukt (BIP) und sinkendem Einkommen, höhere Wahlerfolge der AfD in den Wahlkreisen einhergehen. Die Variablen zu Bildung, zu Alter und Bevölkerungsstruktur dienen der Kontrolle der Variablen der sozioökonomischen und politisch-kulturellen Dimension.
Einen zweiten Erklärungsansatz bieten politisch-kulturelle Theorien die sich auf Wertorientierungen und ihren Wandel beziehen. Entscheidend für die Parteienpräferenz sind demnach vordergründig politische und kulturelle Einstellungsmuster. Besonderer Beliebtheit erfreut sich die These einer kulturellen Konfliktlinie. Liberalisierung, Flexibilisierung und globale Vernetzung im Zuge der strukturellen Veränderungen durch Modernisierungsprozesse führen demzufolge hinsichtlich der normativen Werteorientierungen zu neuen Konfliktlinien (Götz 1997, Binder 2005, Gabriel 2000, Inglehart/Norris 2016). Menschen, die im Modernisierungsprozess abgehängt werden oder normativ beispielsweise bei den Themen Familie, Sexualität oder nationale Identität im Konflikt dazu stehen, mobilisieren demnach als eine Art kulturelle Gegenbewegung gegen liberale und kosmopolitische Wertvorstellungen.
In den direkt nach der Bundestagswahl verfügbaren Aggregatdaten finden sich keine Variablen, die kulturelle und politische Merkmale direkt abbilden. Um dennoch Merkmale der politisch-kulturellen Dimension untersuchen zu können, wurde auf die NPD-Zweitstimmen in den Wahlkreisen zu den vorangegangenen Bundestagswahlen im Jahr 2013 und 2009 zurückgegriffen, da viele Studien zeigen, dass die rechtsextreme NPD und die AfD im Spektrum der Parteien hinsichtlich der Wertorientierungen nah beieinanderliegen (Bergmann et al. 2016, Brähler et al. 2014, 2016, Kroh/Fetz 2016). Da die Untersuchung nicht auf individuelles Wahlverhalten der NPD-Wähler_innen und mögliche Wählerwanderungen zur AfD abzielt, wird der Anteil der NPD-Wähler_innen von 2013 von den AfD-Wählerstimmen 2017 abgezogen. So lässt sich Annahme prüfen, dass der erhöhte Zuspruch zu rechtsextremen Parteien als Indikator für ein allgemeines, den einzelnen Wähler_innen und einzelne Wählergruppen übergreifendes Raumklima von Demokratieentfremdung und Demokratiefeindlichkeit dienen kann. Es ist anzunehmen, dass im Umfeld hoher NPD-Wähleranteile, zumindest teilweise ein höherer Zuspruch zu menschenfeindlichen Einstellungsmustern existiert, über bessere Mobilisierungsinfrastruktur verfügt wird und dass die NPD trotz ihrer bundesparlamentarischen Bedeutungslosigkeit die politische Kultur vor Ort stark beeinflusst. Rund 360 NPD-Mandatsträger_innen sind besonders in ostdeutschen Kommunen in ihrer politischen Funktion auf Stadtrats- und Gemeinderatsebene sowie in den Kreistagen verankert. Dort, wo über längere Zeit die rechtsextremen Inhalte der NPD Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs fanden, kann davon ausgegangen werden, dass hier in höherem Umfang Prozesse der Normalisierung und Relativierung mit sinkenden Widerstand gegen rechtsextreme Positionen im tagesaktuellen politischen Diskurs einhergehen.
Als weitere Variable2 der politisch-kulturellen Konfliktlinie wird der Nichtwähleranteil zur Bundestagswahl 2013 untersucht. Trotz sehr unterschiedlicher Befunde zu den Motiven des Nichtwählens erscheint es sinnvoll, den Anteil der Nichtwähler_innen in den Wahlkreisen als Indikator der politischen Entfremdung zu verwenden. Politische Entfremdung kann sich dabei auf höchst unterschiedliche Weise äußern, ohne zwangsläufig mit einer höheren Bereitschaft zu antidemokratischen Einstellungen und Handlungen einherzugehen.
Da sich viele Wahlkreise mit hohen Nichtwähleranteilen gleichzeitig als sozioökonomisch stark benachteiligte Regionen zeigen, ist von einer hohen sozialen Exklusion der Nichtwähler_innen auszugehen. Dass sich einige Teile derer, die von sozialer Teilhabe ausgeschlossenen sind, autoritären Angeboten (im Falle des AfD- Wahlprogramms weniger materiell-ökonomische als vielmehr politisch-kulturelle Identitätsangebote) zuwenden, kann vor dem Hintergrund, dass das programmatische Angebot der AfD stark auf populistische Kritik der bisherigen „Eliten“ und eine vermeintliche Sprachrohrfunktion des schweigenden, nicht eingebundenen „Volkes“ abzielt, angenommen werden. Ausgehend von diesen Überlegungen wird erwartet, dass mit steigenden NPD- und oder Nichtwähleranteilen zur Bundestagswahl 2013, steigende Erfolge der AfD bei der Bundestagswahl 2017 einhergehen.
Die Studie
In einer multivariaten Analyse wurden zehn Mehrebenenmodelle hinsichtlich des Einflusses von unterschiedlichen Variablen im sozioökonomischen (Arbeitslosenquote, BIP, Verfügbares Einkommen), soziodemografischen (Alter, Schulabschlüsse, Bevölkerungsdichte, Migrationsanteile, und politisch-kulturellen Kontext (NPD-Zweitstimmen und Nichtwähleranteile zur Bundestagswahl 2013) in allen 299 Wahlkreisen untersucht. Die Datengrundlagen sind Angaben des Bundeswahlleiters sowie öffentlich einsehbare Daten der regionalen Statistikbehörden. Die multivariate Regressionsanalyse erlaubt es, mehrere unabhängige Variablen innerhalb eines Modells gleichzeitig hinsichtlich der Wirkung auf eine abhängige Variable und der Variablen untereinander zu testen.
Ergebnisse der Wahlkreisanalyse
Die sozioökonomischen Annahmen der Modernisierungsverlierertheorie lassen sich in der Wahlkreisanalyse zunächst weitestgehend bestätigen. Die AfD hat vor allem in Wahlkreisen mit hoher Arbeitslosigkeit und geringem BIP erfolgreich mobilisiert. Besonders im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 war die Partei 2017 in sozioökonomisch abgehängten Wahlkreisen erfolgreich. Ungleiche Verteilung wirtschaftlicher Leistungskraft, verfügbarer Einkommen und des Arbeitsmarktzugangs zieht nach wie vor große Gräben durch das Land. Am offensichtlichsten zeigen sie sich zwischen ost- und westdeutschen Wahlkreisen, aber auch außerhalb dieser Regionen, z. B. auf der Nord-Süd-Achse und innerhalb der Bundesländer (hier z. B. deutlich sichtbar im Stadt-Land-Gefälle). Allerdings ist die Erklärungskraft der sozioökonomischen Indikatoren für sich genommen sehr gering. Es gibt aber auch Wahlkreise mit mittleren und hohen Einkommen, in denen die AfD gut abschneiden konnte. Zudem konnte gezeigt werden, dass Wahlkreise mit hohen NPD- und oder Nichtwähleranteilen im Vergleich zu den anderen Parteien am stärksten von wirtschaftlicher Deprivation betroffen sind.
Im Hinblick auf soziodemografische Indikatoren zeigt die Analyse, dass mit steigendem Altersdurchschnitt in den Wahlkreisen höhere Wahlergebnisse (hier besonders innerhalb der Gruppe der 35-59-Jährigen) der AfD einhergehen. Darüber hinaus zeigt sich, dass die AfD in ländlichen Wahlkreisen erfolgreicher mobilisieren konnte, als in großen Städten. Auf der politisch-kulturellen Ebene zeigen die Ergebnisse, dass mit steigenden NPD- und/oder Nichtwähleranteilen 2013 auch der Wahlerfolg der AfD zur Bundestagswahl 2017 deutlich und signifikant ansteigt. Die beiden Indikatoren haben die mit Abstand höchste Erklärungskraft unter allen Variablen. Hierbei ist der NPD-Zusammenhang der stärkste über alle Bundesländer hinweg. Der Nichtwählerzusammenhang dagegen ist deutlich schwächer und gilt auch nicht für alle Wahlkreise. Das zeigt, dass die relevanten Grundlagen, die den Wahlerfolg der AfD erklären, bis mindestens 2013, im Fall des NPD-Effekts, sogar bis zur Bundestagwahl 2009 zurückgehen.
Dies belegt die These, dass die AfD besonders dort erfolgreich war, wo sich schon vor Jahren ein größerer Teil der Bevölkerung entweder komplett aus dem demokratischen Prozess entkoppelt oder stärker rechtsextrem gewählt hatte. Ein Effekt, der sich in allen Bundesländern Deutschlands findet. Um zu unterstreichen, dass es sich hierbei nicht um Effekte der Wählerwanderung handelt, wurden die Zweitstimmenanteile der NPD 2013 von denen der AfD 2017 abgezogen.
Zusammenfassung und Diskussion
Insgesamt zeigt sich, dass die politisch-kulturelle Ebene im Vergleich zu den anderen Indikatoren am stärksten zur Erklärung des AfD-Wahlerfolgs beiträgt. Die Erklärungskraft der sozioökonomischen und soziodemografischen Indikatoren beläuft sich auf ca. 25 Prozent, während sich die restlichen 75 Prozent unter Hinzunahme der politisch-kulturellen Indikatoren ergeben. Für sich genommen können also Arbeitslosenquote, das BIP und die Einkommen nur in geringem Umfang Antworten auf den Mobilisierungserfolg geben. Gleichzeitig zeigt sich, dass die AfD auch in einkommensstärkeren Wahlkreisen profitieren konnte. Hier kommt eine ausschließlich sozioökonomisch begründete Deprivationsthese an ihre Grenzen, denn offensichtlich bestehen auch unabhängig von einer sozioökonomisch prekären Lage starke ideologische Motive, rechtspopulistisch zu wählen. Insgesamt deutet also viel darauf hin, dass die relevantere Dimension des Wahlerfolgs der Rechtspopulist_innen tatsächlich in einer Mobilisierung der Wählerschaft entlang der politisch-kulturellen Konfliktlinie zu suchen ist, die zwischen einer offenen, liberalen und pluralistischen und einer eher homogenen, autoritären und nationalistischen Konzeption von Gesellschaft verläuft. Die erfolgreiche Besetzung dieses Konflikts scheint der inhaltliche Schlüssel zum Wahlerfolg der Rechtspopulist_innen; von hier aus ist es der Partei gelungen, in viel größerem Maße als es der NPD je gelang, sowohl sozioökonomisch deprivierte, aber eben auch wohlständigere Wählergruppen zu mobilisieren. Die sozioökonomische Heterogenität der Wählerschaft und die Unmöglichkeit, diese konstruktiv wirtschafts- und sozialpolitisch zu binden, gibt Anlass zur Sorge, dass die Partei auch weiterhin auf radikale populistische Ausbeutung dieser politisch-kulturellen Konfliktlinie setzen wird, um die soziostrukturelle Gegensätzlichkeit ihrer Wählerschaft zu überbrücken.
Die Unterteilung in die sozioökonomische und die politisch-kulturelle Ebene ist methodisch sinnvoll, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich beide Dimensionen in der Realität überschneiden. Strukturschwäche, Demokratieentfremdung und höhere Bereitschaft zur Wahl rechtsextremer Parteien gehen in vielen Regionen Hand in Hand. Aber die Tatsache, dass besonders die wirtschaftlich schwächeren Wahlkreise hohe Nichtwähleranteile und rechtsextremes Wählerpotenzial aufweisen, deutet auf eine enge Verzahnung zwischen dem Ausschluss von sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe und dem Rückzug aus der demokratischen Kultur bis hin zu ihrer offenen Verneinung. Die demokratische und die soziale Frage sind eng miteinander verflochten. Im gesellschaftspolitischen Diskurs über Gleichwertigkeit zu sprechen, ohne Gleichwertigkeit und Chancengleichheit herzustellen, führt zumindest Teile der Bevölkerung in den Rechtsextremismus. Dieser gibt vor, den Widerspruch durch nationalen und rassistischen Egoismus, durch Antipluralismus und die Negierung der demokratischen Gleichheitsversprechen aufzulösen. Allerdings lässt sich der starke Einfluss der politisch-kulturellen Indikatoren eben auch nicht erschöpfend aus der sozioökonomischen Lage erklären, denn der NPD- und der Nichtwählereffekt trägt auch dann sehr stark, wenn die moderierenden Effekte von Einkommen, Arbeitslosigkeit, BIP, Bevölkerungsdichte, Migration, Alter und Bildung kontrolliert werden. Das verweist auf einen starken eigenständigen Aspekt des politisch-kulturellen Raumklimas. Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland, besonders in wirtschaftlich abgehängten, aber auch in prosperierenden Regionen, kann die AfD von einer lokalen politischen Kultur, in der sich Demokratieverdrossenheit und Rechtsextremismus normalisieren konnten, profitieren.
Insgesamt wird deutlich, dass es sich um einen langfristigen Prozess handelt, der nicht über Nacht kam und sich auch nicht politisch mit einem einfachen „Weiter so“ stoppen lässt.
Fazit: Herausforderungen für Zivilgesellschaft und eine progressive Sozialpolitik
Der inflationäre Verweis auf die sogenannte „Flüchtlingskrise“ 2015 als Erklärung des AfD-Erfolgs verkennt Anlass und Ursache. Vielmehr handelt es sich hierbei eher um einen den Rechtspopulist_innen willkommenen Anlass, der Artikulations- und Mobilisierungsmöglichkeiten für länger existierende Einstellungen bietet. Viele Studien, (u. a. Heitmeyer 2012, Zick/Klein 2014, Brähler et al. 2014/2016), untersuchen in regelmäßigen Abständen rechtsextreme und menschenfeindliche Einstellungen und zeigen insgesamt ein relativ hohes und kontinuierliches Potenzial menschenfeindlicher Einstellungen quer durch die Gesellschaft auf. Diese Einstellungsmuster, das zeigt auch die vorliegende Studie, sind die Grundlage des Mobilisierungserfolgs der AfD. In diesem Kontext ist eine ausschließlich auf außerordentliche Ereignisse bezogene öffentliche Diskurskultur problematisch, weil sie die Kontinuität rechtsextremer und menschenfeindlicher Einstellungen quer durch die gesellschaftlichen Schichten ignoriert. Mehr noch: Werden die langfristigen Einflussfaktoren ignoriert, wird der Anlass schnell zur Ursache verklärt und damit läuft der demokratische Diskurs Gefahr, zum Zugpferd rechtspopulistischer Diskursstrategien zu werden. Da der AfD-Wahlerfolg im öffentlichen Diskurs meist ausschließlich durch die „Flüchtlingskrise“ begründet wird, wenden sich die Parteien vermehrt dem restriktiveren Umgang mit Einwanderung zu, anstatt eine nachhaltige Debatte über Ursachen und Umgang menschenfeindlicher Einstellungen zu führen.
Hinsichtlich der Frage des Umgangs scheint es erfolgversprechender, die Aufmerksamkeit insbesondere auf die große Gruppe der Nichtwähler_innen zu richten, als sich mit inhaltlichen Angeboten ausschließlich an jene zu wenden, die sich ohnehin entschieden haben. Der Anteil an Nichtwähler_innen repräsentiert mit rund 23 Prozent in etwa ein Viertel der Wahlberechtigten insgesamt. Besorgniserregender als die Anzahl der Nichtwähler_innen ist der Umstand, dass die Wahlkreise mit hohen Nichtwähleranteilen ein relativ klares sozioökonomisches Muster aufweisen: mit steigender Deprivation steigt auch der Anteil der Nichtwähler_innen in den einzelnen Wahlkreisen signifikant an. Dieser Umstand ist alarmierend, weil so ganze Wählergruppen systematisch im demokratischen Prozess außen vor bleiben. Innerhalb der Parteien Konzepte zu entwickeln, die über die soziale und materielle Teilhabe Nichtwähler_innen wieder in den demokratischen Diskurs integrieren, scheint daher dringend notwendig. Angesichts des deutlichen Zusammenhangs zwischen dem AfD-Wahlergebnis, der politischen Kultur und der wirtschaftlichen Lage ist es nötig, die soziale Frage und die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nicht den extremen Rechten zu überlassen. Der Staat muss beweisen, dass er fähig ist, notwendige Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse zu regulieren und zu moderieren. Eine Debatte über soziale und materielle Teilhabe ist notwendig und muss universalistisch, d.h. unter Einschluss aller sozialer Gruppen und jenseits ethnischer oder religiöser Zuschreibungen, öffentlich diskutiert werden.
Insgesamt handelt es sich bei dem rechtspopulistischen Wahlerfolg also um einen langfristigen Prozess, der langfristige Gegenstrategien erfordert. In manchen Regionen haben in diesem Jahr mehr Menschen rechtsradikal und/oder rechtspopulistisch gewählt als demokratisch oder gar nicht ihre Stimmen abgegeben. Demokratische Errungenschaften müssen immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Dazu zählt, menschen- und verfassungsfeindliche, rassistische und völkische Positionen konsequent als solche zu benennen, ihrer Normalisierung entgegen zu wirken und diejenigen Akteure zu stärken, die sich vor Ort für demokratische Kultur einsetzen.
Die Zäsur des Rechtsrucks, den die Bundestagswahl 2017 darstellt, kann insofern auch als Chance für eine radikale Neubestimmung demokratischer und sozialer Teilhabe gesehen werden.
1
Die Wahlkreisanalyse hat das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft im November 2017 unter dem Titel „Demokratieferne Räume? Wahlkreisanalyse zur Bundestagswahl 2017“ veröffentlicht. <link www.idz-jena.de/pubdet/demokratieferne-raeume-wahlkreisanalyse-zur-bundestagswahl-2017/.>Online:http://www.idz-jena.de/pubdet/demokratieferne-raeume-wahlkreisanalyse-zur-bundestagswahl-2017/.</link>
2 Zusätzlich wurden soziodemografische Indikatoren wie die durchschnittlichen Altersanteile, Schulabschlüsse, Migrationshintergrund und Bevölkerungsdichte der Wahlkreise in die Untersuchung einbezogen, von denen bekannt ist oder erwartet wird, dass sie im Zusammenhang zur Parteienwahl stehen können.
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