Einleitung
Laut ihrem wichtigsten Gründungsmythos verstand sich die DDR als „erster antifaschistischer Staat auf deutschem Boden“. Verknüpft mit der Vorannahme einer „Stunde Null“ schuf dieses Verständnis nach 1945 einen Raum, in dem sich die Bevölkerungsmehrheit von Schuld und persönlicher Verantwortung im Nationalsozialismus entlastete. Tradiertes Denken zeigte sich zu Beginn der 1950er Jahre während der antisemitischen Kampagnen im Ostblock (Goschler 2005: 368–379). Doch auch der Antiziganismus überdauerte in den sozialistischen Sinnwelten (Behrends et al. 2003: 9–21).1 Diese mentale Konstitution zog für die wenigen überlebenden Sinti nach sich, dass ihre Anerkennung als Verfolgte des Naziregimes (VdN) blockiert, wenn nicht aktiv verhindert wurde. Denn die Behörden versagten ihnen diese mit Hinweis auf ihre angebliche „Asozialität“ (Fings 2008: 273–308; Fings 2012: 24–34).
Abwertung und Ausgrenzung überdauerten nicht nur in den Polizeikarteien. Auch in der Gesellschaft hielten sie sich zum Nachteil der Überlebenden und ihrer Nachkommen. Dieser Beitrag diskutiert deshalb am Beispiel einer Sinteza den Antiziganismus in der DDR. Ausgehend von einer kurzen Betrachtung der wenigen überlebenden Sinti und der Rehabilitierungspraxis werden die persönlichen Strategien von Selbstbehauptung sowie der Umgang der Behörden mit diesen einbezogen. Die Grundlage der folgenden Analyse bildet neben der einschlägigen Literatur der Nachlass des DDR-Journalisten Reimar Gilsenbach im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg. Dieser hatte sich seit Mitte der 1960er Jahre zunehmend zu Fragen der Anerkennung verfolgter Sinti engagiert. In Heidelberg sind neben Schriftverkehr mit Behörden, Engagierten und Historiker*innen auch Gespräche überliefert, die zum Teil transkribiert vorliegen. Sie dokumentieren die Sicht der Betroffenen zumindest in dem Rahmen, den das eigenwillige SED-Mitglied Reimar Gilsenbach am Ende der 1960er Jahre mit seinen Fragen nach ihrer Verfolgung setzte. Weiterhin verdanke ich eine Kontextualisierung dieses Fundus dem Bundesarchiv, den regionalen Archiven und nicht zuletzt dem International Tracing Archiv (ITS) Arolsen.2
Abwerten, Ausgrenzen, Vernichten im Nationalsozialismus – Abwerten, Ausgrenzen, Verdrängen in der DDR
Um 1980 lebten in allen sozialistischen Ländern etwa 2,5 Millionen Sinti und Roma (Zimmermann 1996: 3). Auf dem Gebiet der SBZ/DDR hatten 1945 von insgesamt 5.000 Angehörigen der Gruppe etwa 600 überlebt (Gilsenbach 1993: 67f.). Für 1954 wurde dort die Zahl von 122 NS-Verfolgten dokumentiert (Gilsenbach 2001: 71f.). Bis 1966 wurden 141 verfolgte Sinti festgestellt, denen der Status nicht wieder aberkannt worden war (Goschler 2005: 386; Baetz et al. 2007: 31f.; zur Nieden 2003). Diese bescheidene Rate resultiert einerseits aus der hohen Westwanderung der Überlebenden (Fings 2016: 98). Andererseits versuchten viele Sinti, gegenüber den DDR-Behörden möglichst unsichtbar zu bleiben. Aus Angst vor erneuter Repression verschwiegen sie die rassistischen Stigmatisierungen und die Ermordung fast aller ihrer Familienangehörigen und versuchten, durch die Maschen der staatlichen Bürokratie zu schlüpfen (Kenrick/Puxon 1981: 139f.; Reuss 2015: 159ff.). Ihre Ängste waren berechtigt, denn die Kriminalpolizei führte die eher zufällig überlieferten „Zigeunerpersonalakten“ aus der NS-Zeit zunächst weiter (Baetz et al. 2007: 144f.).
In der Westwanderung und wechselseitigen Unsichtbarmachung spiegelt sich so das Weiterwirken der Stereotype, die nicht zuletzt auch in den Regelungen über die NS-Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes zum Tragen kamen (vgl. Neumann-Thein 2014: 122–128). Während die Verfolgten die Polizeibürokratie fürchteten, war diese nicht nur mit weitreichenden Informationen und Befugnissen ausgestattet. Die Ordnungshüter verharrten weitgehend im stigmatisierenden Denken, das durch die Gesetzeslage stabilisiert wurde. Nach der ersten SBZ-Richtlinie von 1946 hatten „Zigeuner“, da „im Zuge von Aktionen gegen asoziale Elemente verhaftet"3, beweisen müssen, im Nationalsozialismus aus „rassischen“ Gründen oder wegen antifaschistischer Tätigkeit verfolgt worden zu sein. Wenn ihre Beweise als glaubwürdig eingestuft wurden, folgte die Anerkennung, vorausgesetzt, sie wiesen einen festen Wohnsitz in der DDR und eine Arbeit im Angestelltenverhältnis nach (Baetz et al. 2007: 16).
Im Lichte der über die Jahrzehnte geführten Kontroversen war es durchaus plausibel, dass das SED-Zentralorgan Neues Deutschland noch 1990 die „Richtlinie für die Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes“ von 1950 als „Akt humanistischer Gesinnung“4 pries (Bock 2015: 114ff). Doch auch nach dieser Richtlinie galten für die Sinti und Roma im Gegensatz zu anderen Opfergruppen Einschränkungen. Anerkannt wurden diejenigen, welche „wegen ihrer Abstammung in Haft waren und nach 1945 durch das zuständige Arbeitsamt erfasst wurden und eine antifaschistisch-demokratische Haltung bewahrt haben“5. Dies nachzuweisen war in der Nachkriegszeit generell schwierig, für die Überlebenden jedoch fast unmöglich, denn die meisten derer, die ihr Schicksal hätten bezeugen können, waren umgekommen oder in alle Richtungen versprengt. Somit waren diese Forderungen auch durch die Folgen ihrer Extremtraumata eigentlich unerfüllbar. Der Fortbestand antiziganistischer Vorurteile, darunter die Annahme, sie seien „arbeitsscheu“, blockierte überdies die unvoreingenommene Wahrnehmung ihrer Schicksale. Auch wenn sie die Voraussetzungen erfüllten, verwehrten ihnen die regionalen Kommissionen oftmals den Verfolgtenstatus.
Zu Recht bezeichnete Goschler den Status als NS-Verfolgte als „Wohlverhaltensprämie“, war dieser doch an die „sozialistische Lebensweise“ gebunden, zu deren Propagierung die anerkannten Verfolgten im „antifaschistischen Arbeiterstaat“ verpflichtet waren (Goschler 2005: 375). Die Unterordnung der „Opfer des Faschismus“ (OdF) unter die „Kämpfer gegen den Faschismus“ sowie moralisierende Opferhierarchien verschärften die Gegensätze und führten die bekannte Ausgrenzungspraxis weiter.6 Die in den Konzentrationslagern willkürlich festgelegten Kategorien „asozial“ und „kriminell“ wurden nicht infrage gestellt, sodass deren Funktion nicht problematisiert wurde (Hörath 2014: 28–33). Sie dienten im Gegenteil der anhaltenden Ausgrenzung. In der DDR hieß das für die Sinti und Roma, einer kaum zu entrinnenden Abstiegsdynamik unterworfen zu sein, weshalb viele in die Bundesrepublik ausreisten. Doch auch dort konnten sie kaum auf Verständnis hoffen und verharrten am Rande der Gesellschaft (Fings 2016: 92–120; Fings 2008: 308f.). Allerdings erhoben dort zivilgesellschaftliche Initiativen Einspruch, sodass die Sinti und Roma, anders als in der DDR, im öffentlichen Diskurs sichtbar wurden (Fings/Sparing 2005: 347–351). Doch erst 2020 beschloss der Bundestag, auch die Konzentrationslagerhaft der als „asozial“ Stigmatisierten anzuerkennen.
Als verfolgte Sinteza im Nachkrieg: ein Beispiel
Der Pionier der Erforschung posttraumatischer Belastungsstörungen Leo Eitinger hat u. a. 1992 die Folgen der Konzentrationslagerhaft zusammengefasst, die in internationalen Langzeitstudien beobachtet worden waren. So mussten die Gefühle der Isolation und Unsicherheit, Angst, Depression und fehlender Lebensmut gegen alle Widerstände bewältigt und in ein Leben einer Gesellschaft der Arbeit, der Ideologien und Bürokratien integriert werden. Diese Gesellschaft blieb eng an die alten Denkmuster gebunden. Nicht zuletzt gründeten diese auf dem überlieferten Bild, dass nur diejenigen zur Gemeinschaft gehören sollten, die ihr ganzes Leben am gleichen Ort und auf derselben Arbeitsstelle verharrten. Diese Vorstellung revidierte sich nach 1945 nicht, sondern blieb auch in der DDR bestehen und umfasste somit nicht die Erfahrungen jener, die geflüchtet, vertrieben, deportiert worden waren und knapp überlebt hatten. Sinti und Roma litten unter dem fortdauernden Antiziganismus und unter fehlendem Mitgefühl. Sie waren durch die Vorurteilsstrukturen einer Ausschluss-Spirale ausgesetzt, der ihrer Trauma-Bewältigung und dem Ankommen in der Nachkriegsgesellschaft entgegenstand. Besonders den überlebenden Frauen unter den Sinti gelang es oft nicht, als Verfolgte anerkannt zu werden, womit sich ihre Verfolgungsgeschichte zusätzlich verlängerte.
Das Beispiel einer ursprünglich in Stralsund ansässigen Sinteza belegt dies eindrücklich. Seit 1939 war die damals kaum Siebzehnjährige verfolgt worden.7 Sie musste mehrere Zwangs- und Konzentrationslager durchleiden.
Obwohl sie noch am 2. Mai 1942 als nicht vorbestraft gegolten hatte, wurde auf ihrer Häftlingskarteikarte zwei Wochen nach der Festsetzung „2xDiebstahl“ vermerkt, womit das Klischee der „diebischen Zigeunerin“ aktenfest wurde. Dies wurde ihr in der Mangelsituation des Lagers angelastet, wo selbst der Mundraub einer Kartoffel als Diebstahl in das Register gelangte. Im Konzentrationslager wurde sie regelmäßig zum Blutspenden für verletzte Wehrmachtssoldaten gezwungen, was ihre Kräfte schwinden ließ. Neben den allgemein bekannten Peinigungen spritzte ihr das Krankenhauspersonal zusätzlich ebenso regelmäßig brennende Injektionen in die Bauchhöhle, die ihre Gebärfähigkeit und Gesundheit zerstörten.
Nach der Befreiung kehrte sie körperlich schwer beschädigt nach Stralsund zurück. Aus Angst vor erneuter Haft stellte sie keinen Antrag auf Anerkennung. Als sie sich 1947/48 dennoch dazu entschloss, erlegte das Amt ihr auf, Zeugen beizubringen. Doch diese waren entweder ermordet oder versprengt. Die auf ihrem Arm eintätowierte Häftlingsnummer ließ man nicht gelten:
Da hat er gesagt, wenn ich keine Zeugen bringen kann, kann er mich nicht anerkennen. Sagt mein Vater: Ja, aber sie hat doch die Nummer auf`n Arm. Ja, sagt er, die Zeit konnt sich jeder `ne Nummer auf`n Arm machen.8 (NG-O 04: 305)
Der Behördenverantwortliche blendete damit nicht nur ihre körperlichen Leiden und die Häftlingsnummer aus. Er unterschlug die Zeugenschaft des Vaters und unterstellte ihr kriminelle Motive, sich materielle Leistungen erschleichen zu wollen. Die Tätowierung war nur eine unter vielen Narben auf ihrem noch jungen Körper, die zusammen die Geschichte grausamer Gewalt erzählten. Während des Gesprächs hätte der VdN-Vorsitzende ihre auffällige Gesichtsnarbe wahrnehmen und nachfragen können, woher die tiefe Wunde stammte. Doch auch die Betroffene selbst bezog sich nicht auf dieses Zeugnis ihres Leidens.
Somit ist zu sehen, dass der Amtswalter zur Anerkennung ihrer Verfolgung sie nicht als Leidende und Überlebende wahrnahm, sondern schlicht übersah. Auf seiner mentalen Landkarte existierte sie lediglich im Klischee der „diebischen Zigeunerin“, hinter dem sie als Mensch und Frau verschwand. Somit stellte sich der für die Belange der Verfolgten des Naziregimes behördlich Bevollmächtigte auf die Seite der Täter*innen. Seine Haltung wurde in der Gesellschaft des Nachkriegs mit ihren nach wie vor wirksamen Helden- und Opferbildern nicht infrage gestellt. Vielmehr wurde er durch die Anerkennungsrichtlinien mit ihren Zumutungen an die Opfer hinsichtlich Zeugenschaft, Arbeit und Wohnsitz bestärkt. Damit zeigt sich, wie stark die mentale Landkarte der NS-Täter*innen die Anerkennung der Verfolgung rahmte.
Dies setzte somit auch den Handlungsrahmen der Betroffenen. Die junge Frau erinnerte die Gesichtswunde, die sie im Lager davongetragen hatte, als ein SS-Mann ihr einen Gewehrkolben ins Gesicht gerammt hatte, wohl als vergleichsweise geringfügig. Diese tiefe Wunde war schmerzhaft und demütigend gewesen, doch nicht regelmäßig erlitten wie die Sterilisationsspritzen. Im Jahr 1969 beschrieb sie den Kolbenschlag eher beiläufig, während die „Spritzen“ breiten Raum beanspruchten:
Wenn wir diese Spritzung bekommen haben, das war ja so, als wenn Sie innerlich ganz und gar verbrennen. So eine Hitze, die können Sie ja überhaupt gar nicht aushalten. (NG-O 04: 304)
Noch im Nacherleben deutet sich die Qual des inneren Verbrennens an, das sie offenbar wieder und wieder durchlitt. Die Folgen der Torturen zeigten sich u. a. in wiederkehrenden Ohnmachtsanfällen, Unterleibs- und Kopfschmerzen, das Laufen fiel der noch gar nicht alten Frau zunehmend schwerer.
Dieses Nach-Leiden konnte sie auf dem Amt nicht zur Sprache bringen. Aus der Antragstellung erwuchsen vielmehr wie geschildert erneute Demütigungen, in denen die alten ausgrenzenden Stigmatisierungen fortwirkten. Die Unterstellung, nicht wahrheitsgetreu zu berichten, verhinderte die Thematisierung der erlittenen Gewalt genauso wie die der Nachwirkungen. Die Ablehnung ihrer Anerkennung als Verfolgte des Naziregimes zog tief greifende Folgen für ihre Existenzbewältigung nach sich. Ihren Unterhalt hatte sie kurz nach der Rückkehr verdient, indem sie zunächst beim Enttrümmern geholfen und später in einer Fischfabrik gearbeitet hatte. Als ihr Gesundheitszustand sich verschlimmerte und sie somit schwerer körperlicher Arbeit umso weniger gewachsen war, verdiente sie ein wenig Geld mit Wahrsagen. Die Wahl dieses Feldes der Existenzsicherung zeigt, dass ihr der Zugang zu Weiterbildungen und zum öffentlichen Versorgungssystem versagt geblieben war, und sie sich auf die ihr bekannten Ressourcen stützte. Anstatt ihre Mühe zu würdigen und die prekäre Existenz abzumildern, galt dies als Argument, sie als „Kriminelle“ zu stempeln und sie 1955/56 erneut, diesmal zu 2,5 Jahren Haft, zu verurteilen. Wegen guter Arbeitsleistungen wurde sie nach zwei Jahren unter der Bedingung entlassen, sich auch weiterhin als angestellte Lohnarbeiterin zu bewähren.
Die Bewertung dieser als „gesellschaftlich nützlich“ bezeichneten Arbeit oblag den Behörden, die allerdings an das Verfolgungsnarrativ anknüpften. Ihr durch die Haft- und Lagerjahre schwer beeinträchtigter Gesundheitszustand blieb ausgeblendet, obwohl sie nur schwer laufen konnte, sodass es ihr beinahe unmöglich war, einer regelmäßigen oder, wie gefordert, gar körperlich anstrengenden Arbeit nachzugehen.
Auf dieses Schicksal reagierte die Polizeibürokratie nicht, sondern presste sie in das Feindnarrativ. Sechs Wochen nach ihrer Haftentlassung wurde sie 1958 unangekündigt aus der DDR vertrieben:
Ich hab ja SO ein Knie gehabt. Ich lag zu Hause. Da kam die Polizei mit`n Auto. Musst ich rin in das Auto. Ich sag, ich kann ja nicht laufen. Ich wusste nirgends, wo ich hinkomm oder was se machen, gar nichts. Da sind se hingefahren mit uns auf de Polizei. […] Die haben uns in`n Wagen reingelegt und uns bis an de Grenze gefahren. Dadrauf haben die uns gesagt, wir sind ausgewiesen.9 (NG-O 04: 305f.)
Dieses Erlebnis musste in ihr die Erfahrung und damit die Ängste aus der Zeit des Nationalsozialismus aufschrecken, zumal auch mehrere Familienangehörige ausgewiesen wurden. Damit nicht genug, durfte sie selbst ihre wenige Habe nicht mitnehmen: „Wir durften gar nichts mitnehmen, nur unsere Papiere und das, was wir anziehen.“ (NG-O 04: 305f.) Die ohnehin dürftigen Existenzen wurden wiederum zerstört. Die altbekannte Polizeipraxis setzte sich somit ungeachtet der Rede von der „Stunde Null“ über das Jahr 1945 hinaus fort. Von Beschämung über die ihr von Jugend an zugefügte Gewalt konnte keine Rede sein, geschweige denn von Wiedergutmachung. Vielmehr offenbart sich eine Kontinuität, die unter der Chiffre angeblicher Kriminalität weiterwirkte und geheim durchgesetzt wurde, sodass sie für die Augen der Öffentlichkeit unsichtbar blieb.
Dass sich diese Praxis spiralförmig-destruktiv weiterzog, zeigt ihre weitere Geschichte. Als sie 1965 ihre in der DDR zurückgebliebene Mutter besuchen wollte, wurde sie dort festgehalten, weil sie keinen Interzonenpass vorweisen konnte. Dieser war ihr zuvor als Ausgewiesene verweigert worden. Nun konnte sie umgekehrt nicht dahin zurückkehren, wohin die DDR-Behörden sie geschickt hatten: in die Bundesrepublik.
Das hieß für sie, allein seit 1945 zum dritten Mal ihrer Existenz beraubt zu sein. Nun musste sie, in der DDR ohnehin arm, wiederum neu beginnen, ohne über nennenswerte Ressourcen zu verfügen. Sie blieb dort durchgängig stigmatisiert. In der Bundesrepublik war sie kurz zuvor dank eines wachen Anwalts als NS-Verfolgte anerkannt worden und hatte begonnen, sich existenziell zu konsolidieren.10 Diese Hoffnung zerstob mit der abgeschnittenen Rückkehr aus der DDR. In der Annahme, der Verfolgtenstatus werde ihr nun auch im antifaschistischen Staat nicht mehr verwehrt, stellte sie dort erneut einen Antrag. Das Amt jedoch lehnte ab.
Die momentan vorliegenden DDR-Akten reichen bis in das Jahr 1970. Anhand dieser lässt sich nicht nachvollziehen, ob sie in der DDR jemals rehabilitiert worden ist. Die Akten der Bundesrepublik sind nur zum Teil zugänglich. Offenbar gelangte sie in den 1980er Jahren wiederum dorthin, doch die Quellenlage lässt nur darauf schließen, dass die dortige Bürokratie trotzdem das Stigma „Asozialität“ ohne Infragestellung der NS-Lesart anwandte.11
Ihre Geschichte erzählt die einer permanenten Entmutigung, Abwertung und Ausgrenzung, eines fortgesetzten Displacements. Dennoch nahm sie es nicht hin, dass ihr Schicksal hinter den deutschen Schweigemauern unsichtbar blieb. Die Zuschreibung der „Asozialität“ verinnerlichte sie nicht, sondern wies sie als Fremdbezeichnung von sich. Bis zum 40. Jahr nach Kriegsende gab sie nicht auf, ihr Schicksal anerkennen zu lassen.
Ausblick
Das Beispiel verdeutlicht, wie vielschichtig sich die Negativ-Konstruktionen kreuzten und verflochten, die stetig erneuerten Klischees festigten, wie lang anhaltend diese die Ausgrenzungen bis hin zu Gewalt gegen die Stigmatisierten rechtfertigten (vgl. Hohmann 1991).
Die gesetzlichen Grundlagen, sozial Abweichende zu verfolgen, waren seit dem Mauerbau 1961 und mit dem Inkrafttreten des DDR-Strafgesetzbuchs 1968 fest im institutionellen Handlungskanon verankert. Sowohl durch das Weiterwirken als auch durch die Neuetablierung der Stereotype in Recht, Politik und Gesellschaft verfestigten sich unhörbar ausgrenzendes Denken und sozialrassistische Vorverurteilungen. Dieser Rahmen blockierte den Blick auf persönliche Schicksale. Vorurteile, die bei versagten Anerkennungen von Überlebenden als NS-Verfolgten sichtbar wurden, schlugen sich unmittelbar nieder, sobald Familien als „Zigeuner“ ins Blickfeld rückten. Deren Selbstbehauptungsversuche mündeten vielfach in Zwangsmaßnahmen der pädagogischen, sozialfürsorgerischen und juristischen Institutionen. Das traf in doppelter Weise die überlebenden Frauen und Kinder.
Die Verfolgungserfahrung bis 1945 und die anschließend fortdauernde Stigmatisierung blockierten das Ankommen der Überlebenden in der Nachkriegsgesellschaft. Mit dem Rückgriff auf tradierte Handlungsoptionen versuchten sie, trotz der geschmälerten Chancen zu überleben. Im geschilderten Beispiel griff die Frau nach 1945 auf das Familien- und Freundschaftsnetz und auf Kenntnisse des Wahrsagens zurück. Nur deshalb inhaftierte man sie erneut wegen „Asozialität“. Mit der Kriminalisierung des Wahrsagens zeigt sich eine Kontinuitätslinie, auf der Sintezze bereits seit dem Mittelalter bis hin in den Nationalsozialismus verfolgt worden waren (Kenrick/Puxon 1981: 22–38). Diese Kontinuität brach in der DDR nicht ab. Auch dort kriminalisierte man das Wahrsagen unter dem Vorwurf der „Asozialität“ mit Freiheitsstrafen.
Mithilfe des Stigmas wurden nicht nur die materielle Existenz, sondern auch die Bildungs- und Aufstiegsoptionen und die sozialen Netzwerke der Betroffenen stetig dezimiert. Das stieß kaum auf Kritik. Die Disziplinarmechanismen wurden so von dem narrativen Rahmen der NS-Täter*innen gesetzt. Der Korrespondenzraum, in dem sich unter der Patina des Antifaschismus das überlieferte Ausgrenzungsmuster aktualisierte, stabilisierte sich mit der Gesetzgebung insbesondere seit dem Mauerbau. In diesem Raum sah sich die Gesellschaft mit der Herrschaftsbürokratie vereint. Das Stigma wirkte als mächtige horizontale und vertikale Bindekraft, die bequemer nicht sein konnte, und die mit dem Jahr 1989 nur oberflächlich betrachtet zerfiel.
1 Zur Antiziganismusdebatte vgl. Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma (2015).
2 Sehr herzlicher Dank gilt den Mitarbeiter*innen der genannten Archive sowie dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg für die Unterstützung bei den Recherchen, besonders Daniela Ott. Außerdem danke ich den Peer-Reviewer*innen und der Redaktion sowie meinen Kolleg*innen Cornelia Bruhn, Elena Demke und Martin Jung für die hilfreichen Fragen und Kritiken am Text.
3 Rundschreiben des Provinzialamtes für Arbeit und Sozialfürsorge, Abt. OdF, betr. Zigeuner, Anerkennung Hinterbliebener, Lebensmittel u. a. vom 06.02.1946, abgedruckt in Kessler/Peter (1996: 49 f.). Vgl. den Entwurf der Richtlinie vom Januar 1946, BArch, DQ 2/3382, abgedruckt in Baetz et al. (2007: 16).
4 Neues Deutschland, 23.06.1990, Das Schicksal der Sinti und Roma. Vgl. Christoph Hölscher (2002).
5 Richtlinie für die Anerkennung als Verfolgte des Naziregimes vom 10.02.1950, auszugweise abgedruckt in Kessler/Peter (1996: 148–151).
6 Richtlinie 10.02.1950, S. 148–151. Zur Opferkonkurrenz am Beispiel des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos vgl. Neumann-Thein (2014).
7 Sofern zum Folgenden nicht einzeln nachgewiesen: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Heidelberg, Sammlung Gilsenbach, NGO-04. Der Name wird nicht genannt, da ihr Schicksal die Strukturen des Umgangs mit der Vergangenheit verdeutlicht und somit paradigmatisch sein dürfte.
8 Das Ignorieren der Häftlingsnummer war kein Einzelfall, vgl. Lenski (2019).
9 Der Zeitpunkt datiert noch vor dem Mauerbau. Das ergibt sich aus dem Zeitpunkt ihres Antrags. Schreiben ITS Arolsen 09.01.1968 an Rechtsanwalt Sauerbaum 30.07.1958.
10 Vgl. die zitierten Akten des ITS Bad Arolsen. Derzeit nicht zugänglich sind die Akten des Finanzministeriums. Vgl. BGH-Grundsatzurteil 07.01.1956, lt. dem Sinti wegen „Asozialität“ aus den Wiedergutmachungsregelungen der BRD ausgeschlossen wurden, was Ende der 1970er Jahre zu Protest führte (vgl. u. a. Romani Rose 2011: 48).
11 Briefwechsel Regierungspräsident Köln/ITS Arolsen 1985/86, Digit.-Nr. ITS Arolsen 6.3.3.2./104264760-78.
Literatur
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