Ich bin überzeugt: Barrierefreiheit ist ein Qualitätsmerkmal eines modernen und demokratischen Landes. Wir können es uns nicht leisten, Menschen auszuschließen, Menschen mit wie ohne Behinderungen haben das gleiche Recht auf Teilhabe an unserer Gesellschaft. Mein Motto als Behindertenbeauftragter ist bereits seit 2018 „Demokratie braucht Inklusion“, und ich bin sicher, dass nicht nur die Menschen mit, sondern auch die Menschen ohne Behinderungen von einem inklusiven Land profitieren. Wir müssen uns denen entgegenstellen, die versuchen, uns diese Demokratie streitig zu machen.
Ganz besonders leidenschaftlich diskutieren wir in Deutschland das Thema Inklusion am Beispiel Schule – dabei betrifft es die wenigsten Menschen mit Behinderungen. Denn es werden weit weniger als 10 Prozent aller Menschen mit Behinderungen mit ihrer Einschränkung geboren, die anderen über 90 Prozent erwerben sie nach der Schulzeit im Laufe ihres Lebens, zum Beispiel durch einen Unfall oder eine Krebserkrankung. Dennoch: Ich bin ganz entschieden für das gemeinsame Lernen, denn auch ich habe als stark sehbehinderter Mensch davon profitieren dürfen. Und ich bin davon überzeugt, dass wir die Inklusion nur voranbringen können, indem wir Begegnungen schaffen, und genau das kann in der Schule passieren.
Die mangelnde Barrierefreiheit, die der Fachausschuss der Vereinten Nationen kritisiert hat, zeigt sich besonders eklatant beim Zugang zum Gesundheitssystem. Insbesondere Arztpraxen und Rehakliniken sind aufgrund der fehlenden gesetzlichen Verpflichtung häufig nicht barrierefrei, was oftmals zu einer schlechteren Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen führt. Wussten Sie zum Beispiel, dass es in Deutschland kaum barrierefreie gynäkologische Praxen gibt? Diese mangelhafte Ausstattung führt dazu, dass manche Frauen ihre Vorsorgeuntersuchungen schlichtweg nicht wahrnehmen können. In der Folge dürfte die Wahrscheinlichkeit einer unentdeckten schweren Krebserkrankung bei Frauen mit Behinderungen höher sein als bei Frauen ohne Behinderungen.
Leider hat die Erfahrung gezeigt, dass es nicht ausreicht, auf Vernunft und Freiwilligkeit zu setzen. Andere Länder machen bereits vor, wie es gehen kann. So gilt in Österreich seit 2016 das Gesetz über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen für alle Unternehmen: Alle Waren, Dienstleistungen und Informationen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, müssen barrierefrei angeboten werden, und das gilt auch für Arztpraxen. Wenn Menschen mit Behinderungen in Österreich auf Barrieren stoßen, kann es darüber hinaus teuer werden, denn dann ist Schadenersatz fällig. Eine ähnliche Regelung habe ich bei der anstehenden Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) eingefordert, dessen Entwurf in Kürze vorliegen soll. Ob sich die Bundesregierung hier etwas traut?
Auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt finden wir anhaltend exkludierende Strukturen und Vorbehalte, die dazu führen, dass nach wie vor die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderungen annähernd doppelt so hoch ist wie die von Menschen ohne Behinderungen. Dabei sind diese arbeitslosen Menschen mit Behinderungen in der Regel viel besser ausgebildet als diejenigen ohne Behinderung. Sprechen nicht gerade alle über den Fachkräftemangel, der Deutschlands Wirtschaft fast zum Erliegen bringt? Warum wird nicht auf die Ressource und die Motivation von Menschen mit Behinderungen zurückgegriffen? Ich bin davon überzeugt: Es gibt nicht eine einzige Arbeitsstelle, die nicht auch von einem Menschen mit Beeinträchtigung mit entsprechender Unterstützung ausgefüllt werden könnte.
Wir können nur besser werden, wenn wir in Deutschland Teilhabe und Inklusion endlich mit mehr Mut vorantreiben. Inklusion ist kein Ideologieprojekt, sondern ein Menschenrecht.
Herzlich
Ihr Jürgen Dusel