Die Diskriminierung und existenzielle Gefahr, der Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind, zeigte sich beispielsweise 2021, als eine Pflegerin vier Bewohner*innen des Oberlinhauses in Potsdam ermordete, u. a. aus ableistischen Motiven. Im Mai 2024 erfolgte ein rechtsextremer Angriff auf eine Wohneinrichtung der Lebenshilfe in Mönchengladbach. Diese Vorfälle illustrieren jedoch nur die gewaltvolle Spitze ableistischer Denkmuster und Strukturen dieser Gesellschaft. Rechtsextremist*innen, rechtsextreme Parteien sowie religiös-fundamentalistische Vereinigungen propagieren ihre ableistischen Menschen- und Weltbilder zunehmend offen und docken dabei mit erschreckender Leichtigkeit an gesellschaftliche Überzeugungen über Menschen mit Behinderungen an.
Das Zusammendenken von Diskursen über Demokratie und ihre Gefährdungen mit Ableismus und seinen Auswirkungen für die Lebensrealität vieler Menschen muss dringend intensiviert werden. Dazu möchte der vorliegende Band der Schriftenreihe mit dem Fokus auf die „Behindernde Gesellschaft“ einen Beitrag leisten. Die Beiträge, Interviews und Projektvorstellungen schlagen hierbei den Bogen von theoretisch-politischen Fokussierungen hin zu konkreten Bezügen auf bestimmte Handlungsfelder und Lebensrealitäten. Vor diesem wissenschaftlichen und anwendungsorientierten Hintergrund liefert der Band ein umfassendes Bild einer gesellschafts-, aber auch berufspolitischen Situation, in welcher ein aufgeklärter und aufklärender Diskurs mit mehr Demokratiebezug und Ableismuskritik vonnöten ist.
Teil I wimdet sich dem Themenbereich Ableismus als Ungleichwertigkeitsideologie. Im Interview mit Rebecca Maskos wird die Bedeutung von Ableismus als Konzept ausgeführt und es werden Parallelen und Unterschiede zu anderen Ungleichwertigkeitsideologien dargelegt. Die Disability-Studies-Forscherin beleuchtet zudem u. a. die gesellschaftlichen Auswirkungen der historisch gewachsenen medizinischen Fokussierung auf Behinderung: fehlende Teilhabe, das Schaffen von Sonder-Strukturen, die Nicht-Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und das Fehlen von Menschen mit Behinderung mit ihren Themen in Demokratiediskursen und -forschung. Es folgt die erste Projektvorstellung #AbleismusTötet von Karina Sturm – ein Rechercheprojekt der Behindertenrechtsorganisation AbilityWatch e. V., das Gewalt an Menschen mit Behinderungen in stationären Wohneinrichtungen in Deutschland dokumentiert, Hilfsangebote für betroffene behinderte Menschen recherchiert und Forderungen an die Politik stellt, die behinderte Menschen vor Gewalt schützen muss. Jan Riebe untersucht anhand der bis Ende 2023 verabschiedeten Wahl- und Grundsatzprogramme der AfD auf Landes- und Bundesebene sowie anhand exemplarischer Positionierung führender Politiker*innen der AfD die Grundhaltung der rechtsextremen Partei zu Inklusion und zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Er arbeitet die Argumentationsstränge der AfD in ihrer Positionierung gegen Inklusion heraus und ordnet diese kritisch in Hinblick auf das Weltbild der rechtsextremen Partei ein. Pao Nowodworski & Marie Marleen Heppner untersuchen mithilfe einer Bildanalyse Cover von Spielfilmen und Romanen über Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und diskutieren auf Basis der Ergebnisse Fragen hinsichtlich medientheoretischer Konsequenzen sowie des Konzeptes von Ableismus. Im Rahmen einer Bachelorarbeit im Studiengang Soziale Arbeit hat Lea Doll zur gesellschaftlichen Teilhabe von queeren Menschen mit Behinderung geforscht. In ihrem Beitrag gibt sie einen Einblick in Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit unterschiedlichsten Sexualitäten, Geschlechtsidentitäten und Beeinträchtigungen. Eines der Ergebnisse: Alle Interviewpartner*innen berichten von Benachteiligung in verschiedensten Lebensbereichen und von einer erschwerten Teilhabe. Heinrich Grevings diskursiv gestalteter Beitrag führt die Thesen, einerseits Postmoderne als Grundlegung für gesellschaftliche Spaltung sowie andererseits Inklusion als mögliche Überwindung, in der Synthese zusammen, welche Demokratie als politische Ausrichtung von Inklusion vorschlägt. Daraus resultieren Anhaltspunkte zur Bedeutung des Diskutierten für die Profession der Heilpädagogik. In der zweiten Projektvorstellung präsentieren Anne Stöcker & Karina Korneli das Forschungsprojekt ZuSichT – Perspektiven von Menschen mit Behinderungen auf gesellschaftliche Positionen und Zusammenhalt, das im Rahmen des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ, 2022–2024) entstanden ist. Erste Ergebnisse zeigen, dass beeinträchtigte und behinderte Personen sich öfter am Rande der Gesellschaft positioniert fühlen und allgemein vorsichtiger im Umgang mit anderen Menschen sind.
Der Schwerpunkt des II. Teils liegt auf Ableismuskritik und Organisationen. Erik Weber beschäftigt sich mit der Entstehung, Wirkweise und Veränderungsresistenz von Institutionen für Menschen, die als behindert bezeichnet werden. Trotz fortschreitender De-Institutionalisierung und menschenrechtsbasierter Orientierungen, wie in der UN-Behindertenrechtskonvention, bleibt das institutionelle Modell hartnäckig bestehen. Im Beitrag wird fokussiert, wie es im Sinne des Auf- und Ausbaus inklusionsorientierter Dienste überwunden werden kann. Julia Kett-Hauser betrachtet in ihrem Beitrag anhand zehn qualitativer Interviews mit Regelschullehrkräften, Sonderpädagog*innen und einer Teilhabeassistentin Macht- und Hierarchiestrukturen, die sich in der schulischen Inklusion finden. Deutlich wird: Damit Inklusion in Schulen gelingt, muss ein hohes Maß an Akzeptanz und Wertschätzung für die unterschiedlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler*innen vorhanden sein. Claudia Spindler diskutiert aus der Perspektive internationaler und europäischer Menschenrechtsdokumente das Thema Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Behinderungen. Dabei gibt der Beitrag einen Überblick über wichtige internationale und europäische Dokumente zu Arbeitsrechten und analysiert dann die in Staatenberichtsverfahren der Bundesrepublik Deutschland zur UN-Konvention und zum Sozialpakt geäußerten Kritikpunkte und Handlungsempfehlungen. Im Interview mit Viktoria Kamuf berichtet eine Beschäftigte in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung über ihre beruflichen Erfahrungen und zeigt auf, wo die strukturellen Barrieren für Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt liegen. Die kritische Einschätzung umfasst auch die fehlende Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt und die daraus resultierende gesellschaftliche und berufliche Isolation. Ilona Hülsmann hebt hervor: Medizinische Aufklärung für Menschen mit Beeinträchtigungen in Kliniken sollte eine partizipative bildungspolitische Aufgabe sein – sowohl für Krankenhäuser als auch für Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Vor diesem Hintergrund skizziert der Beitrag die aktuelle Situation sowie Konsequenzen für den bildungspolitischen Prozess. In der dritten Projektvorstellung präsentiert Stefan Willich die GEBe-Methode zur Partizipation junger Menschen mit Behinderung in den ambulanten Eingliederungshilfen. Durch die Anwendung der GEBe-Methode werden junge Menschen dazu befähigt, ihre Rechte zu verstehen und aktiv in der Gemeinschaft mitzuwirken, wodurch Verbindungen zur Partizipation in der Kommune entstehen.
Die Beiträge des III. Teils setzen sich mit Teilhabe und Partizipation auseinander. Julia Fischer betrachtet in ihrem Beitrag die Konzepte Disability Mainstreaming sowie das Design für Alle im Rahmen einer Integration in das Handlungskonzept der Sozialraumorientierung. Dabei legt sie auch Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung dieser Konzepte und Instrumente dar. Im Beitrag von Sabrina Schramme wird u. a. mit Daten der Studie „Biografische Erfahrungen mit Integration (Inklusion) in Kindergarten und Schule aus der Rückschau behinderter Frauen und Männer“ verdeutlicht, wie diese Erfahrungen Grundlagen für politischen Aktivismus und Demokratieentwicklungsprozesse sein können und welche Bedeutung Intersektionalität dabei einnimmt. Alexander Brick betrachtet als Geschäftsleiter der LIGA der politischen Interessen- und Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen in Thüringen e. V. die rechtlichen Konstellationen für die politische Partizipation von Menschen mit Behinderungen in Thüringen und weist darauf hin: Während einerseits die Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen in Landesgremien zwar grundsätzlich gegeben ist, fehlt andererseits aber die rechtlich verbriefte Gleichberechtigung durch fehlendes Stimmrecht. Vorurteilsfrei e. V. legt in seinem Beitrag die Gründung, Ziele und Einzelprojekte des Vereins offen. Das Autor*innenteam mit vielfältigen Perspektiven auf psychische Krise berichtet von der praktischen Umsetzung von Projekten zur Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Krisenerfahrungen und stellt u. a. die trialogischen Aktivitäten mit dem Ziel der Stärkung, Gestaltung und Schaffung von inklusiven, nicht stigmatisierenden Strukturen für Menschen mit psychischen Krisenerfahrungen vor. Caroline Ellenberger und Eva Göbel berichten in der vierten Projektvorstellung von der Ausrichtung des möglichst barrierefreien und inklusiven Kulturfestivals Schranken Los!, mit dem der kommunale Eigenbetrieb JenaKultur das Bewusstsein für die Barrieren in seinen eigenen Einrichtungen, in der Stadtgesellschaft und in der Stadtpolitik steigern wollte.
Der Band schließt mit der Rubrik Aktuelles aus der Forschung, in der Zusammenfassungen ausgewählter wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu den Themenbereichen „Vielfalt, Engagement und Diskriminierung“ sowie „Rechtsextremismus- und Demokratieforschung“ kompakt dargestellt sind.
In eigener Sache: Das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) ist selbst eine lernende Institution – auch was das Thema Ableismus und Barrierefreiheit angeht. Das Institut wurde nicht von Anfang an im „Design für alle“ (siehe Fischer in diesem Band) konzipiert. Dies wird auch im Erscheinungsformat dieser Publikation sichtbar. Sie (re-)produziert Ausschlüsse für bestimmte Zielgruppen. Das IDZ nimmt die inhaltlichen und strukturellen Erkenntnisse dieses Bandes und seiner Herausgabe mit in die Weiterentwicklung der eigenen Forschungs-, Struktur- und Transferarbeit.
Im selbstkritisch benannten Rahmen wünschen wir eine gute Lektüre und zahlreiche Denkanstöße. Melden Sie sich gern, wenn wir Ihnen die Zugänglichkeit einzelner Beiträge erleichtern können.
Das Redaktionsteam Julia Fischer (Universität Marburg/Vorstand LIGA Selbstvertretung Thüringen e. V.), Heinrich Greving (Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen) & Janine Dieckmann (IDZ Jena)