Matthias Quent:
Für die Allermeisten ist der 9. November ein Tag des Gedenkens, der Mahnung, der Reflexion. Aber eben nicht für alle. Ich zitiere Thügida: „Am 9.11. sehen wir uns erneut in der Universitätsstadt Jena. Setzen wir an diesem denkwürdigen Tag ein Zeichen der Erinnerung für den Freiheitskampf unseres Volkes, leisten wir auch Widerstand gegen ein System, welches die Zukunft unseres Volkes systematisch vernichtet. Wir sehen uns am 9.11. in Jena, gemeinsam über Partei- und Organisationsgrenzen hinweg, vereint für Familie, Volk und Vaterland.“ So mobilisiert Thügida für die Veranstaltung am 9. November. Wenn man deren Webseiten betrachtet findet man eine weitere Veranstaltung: das sogenannte „Heldengedenken“ in Schleusingen, das sie bewerben mit den Worten: „70 Jahre Lüge und Verrat – Ruhm und Ehre dem deutschen Soldat“. Geplant ist ein Fackelmarsch zum Gedenkstein mit Livemusik und Kranzniederlegung. Es ist eigentlich überflüssig zu erwähnen, jedenfalls überflüssig für jeden, der eine durchschnittliche Geschichtsbildung hinter sich hat, dass das Zitat für den „Freiheitskampf unseres Volkes“, ausgesprochen von Nazis, identisch ist mit dem Kampf zur Unterdrückung, zur Verfolgung und Vernichtung der Juden. Eigentlich selbstverständlich, nicht aber für das Geraer Landgericht, welches das von der Stadt ausgesprochene Verbot der Thügida-Demonstration kassiert hat und meint: „Durch Verwendung des Begriffs ‚Wende‘ wird vielmehr Bezug genommen auf ein anderes an einem 9. November stattgefundenes Ereignis, nämlich den Mauerfall, einer der Höhepunkte der politischen Wende in der DDR. Diese Wende sieht der Antragssteller [also Thügida] mit Blick auf die von ihm gewählte Wortwahl für eine echte politische Wende ganz offensichtlich als noch nicht abgeschlossen bzw. ausreichend an.“
Sehr geehrte Damen und Herren, offenkundig bedarf es, auch 78 Jahre nach der Reichspogromnacht und aktuell 5 Jahre nach dem öffentlichen Bekanntwerden des NSU-Komplexes und des damit verbundenen Versagens von Behörden gar nicht viel, um die Institution dieses Staates vorzuführen, die Opfer des nationalsozialistischen und des rassistischen Unrechts zu verhöhnen, Polizeibeamte in schwierige moralische und operative Situationen zu bringen und der demokratischen Zivilgesellschaft, den Bürgerinnen und Bürgern in Jena das Gefühl zu geben, im Stich gelassen zu werden. Vor allem setzen sich Defizite in der Analyse und in der gesellschaftspolitischen und historischen Einordnung fort. Denn der organisierte Rechtsextremismus verkörpert eine dynamische soziale Erscheinung, er repräsentiert eine, eingebettet in vielfältige soziale Austauschprozesse, wandlungsfähige und sich bewusst modernisierende soziale Bewegung, die mit diversen Chiffren, Bezügen, Anspielungen und Provokationen arbeitet und dabei sehr erfolgreich ist, die Demokratie bloßzustellen.
In meiner Untersuchung zur Radikalisierung des NSU in Jena habe ich über die 1990er Jahre in dieser Stadt geschrieben: „Während sich die Neonazis unter dem Druck sahen, trotz der vermeintlichen Verfolgung der Behörden handlungsfähig zu bleiben, blieben die Institutionen in einem statischen Verständnis über den Rechtsextremismus verhaftet. Weil die Rechtsextremen annahmen, der Staat sei ihnen dicht auf den Fersen, waren sie ihm bald zwei Schritte voraus. Die Institutionen fielen hinter taktischen Innovationen der Rechtsextremen zurück, die sie durch die strafrechtlichen Verfolgungen angestoßen hatten.“ Offenkundig hat sich an der Wirksamkeit dieser Innovationsmechanismen nichts geändert und es braucht nicht viel, um das Oberverwaltungsgericht und in zweiter Sequenz somit auch die Stadt Jena vorzuführen; es reicht schon, wenn die Nazis selbst nicht von „Pogrom“ sprechen, sondern das Wort „Wende“ benutzen – und die Institutionen fallen rein auf die Selbstinszenierung dieser Bewegung, die keine demokratische Veränderung nach vorn, sondern einen völkisch-nationalistischen Staat will, und daraus auch keinen Hehl macht, wenn sie durch Jena zieht und lautstark den „Nationalen Sozialismus“ fordert.
Als eine Konsequenz aus dem umfassenden gesellschaftlichen und politischen Versagen im NSU-Komplex hat im August dieses Jahres das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft – Thüringer Dokumentations- und Forschungsstelle gegen Menschenfeindlichkeit in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung, gefördert durch das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit, hier in Jena unter meiner Leitung die Arbeit aufgenommen. Neben eigener empirischer Forschung geht es darum, praktisches und akademisches Expertenwissen, Erfahrungen aus der Zivilgesellschaft und der Politik in Dialog miteinander zu bringen, um die Sensibilität und Resilienz unserer Gesellschaft gegen demokratie- und menschenfeindliche Bewegungen und Prozesse zu stärken. Dies ist auch das Ziel der heutigen Podiumsdiskussion, die zugleich die erste öffentliche Veranstaltung des IDZ ist.
„Der 9. November und wir Deutsche“ – das ist der Titel unserer Veranstaltung in Anlehnung an ein Buch von Prof. Frei mit dem Titel „1945 und wir“. Professor Frei, Warum eigentlich gilt der 9. November als Schicksalstag und was ist das für eine Beziehung, die wir als deutsche Staatsbürger zu diesem historischen Datum haben?
Norbert Frei:
Es ist ein Tag, der vier Mal im 20. Jahrhundert in der deutschen Geschichte im Negativen wie eben auch am Ende im Positiven Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Der 9. November 1918, die Ausrufung der „Deutschen Republik“, wie Philipp Scheidemann gesagt hat, und dann natürlich gleich zwei Stunden später die Ausrufung der freien sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht. Diese doppelte Ausrufung der Republik war ja schon eines der zentralen Probleme in den ersten Tagen dieser Nachkriegsgesellschaft: Was für eine Demokratie soll es eigentlich werden, und was für eine Demokratie beginnt jetzt mit all diesen Strukturproblemen, die in diesem Gründungsakt lagen?
Dann der 9. November 1923, der Hitlerputsch, als das vor allem auch retrospektiv prominenteste Beispiel der Versuche, die Weimarer Republik zurückzunehmen. Man hat natürlich im Wissen um das, was danach kam, diesen gescheiterten Staatsstreich als Vorzeichen des Scheiterns der Weimarer Republik gelesen. Inzwischen sind wir gerade dabei, zu versuchen, diese erste deutsche Demokratie nicht nur von ihrem Ende her zu betrachten, sondern auch die durchaus vorhandenen Chancen dieser Republik zu betonen, die bis zur Weltwirtschaftskrise auch beträchtlichen Lernerfolge und Lernerfahrungen.
Dann ein weiterer 9. November, die „Reichskristallnacht“ 1938. Ich muss ehrlich sagen: Den heute meist verwendeten Begriff der Reichspogromnacht finde ich immer etwas künstlich – das ist ein Kunstwort, das unsere Distanz eher vergrößert. In der englischsprachigen Literatur ist noch immer von der „crystal night“ die Rede. Entscheidend ist, dass dieser Tag den Beginn des sozialen Todes der deutschen Juden markiert. Mit einer gewissen Berechtigung kann man sagen, das ist ein knappes Jahr vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges die Zäsur, die bereits auf den Krieg hindeutet.
Und dann der 9. November 1989. Ich denke, für die meisten Deutschen war es ein Freudentag – und natürlich auch die „zweite Chance“, wenn man Fritz Stern zitieren will, um es jetzt als geeinte Nation besser zu machen. Zugleich wissen wir, dass diese neu gewonnene politische Freiheit für die Deutschen in Ostdeutschland mit ökonomischen Härten und großen Veränderungen einhergegangen ist und mit bald einsetzenden ausländerfeindlichen Gewalttaten. Ich meine, von heute aus nimmt sich das Ganze doch als eine ziemlich deprimierende Kette von rechtsmotivierter Gewalt aus: von der Pogromstimmung der frühen 90er über den NSU – wovon wir lange nichts wussten –, bis hin zu den Entwicklungen der letzten etwa fünf Jahre mit Pegida, AfD und der Neuen Rechten, die sich jetzt wieder stärker artikuliert. Und dann die hinzugekommene Feindlichkeit gegenüber Flüchtlingen und anderen Fremden in unserer Gesellschaft. Das ist keine gute Situation, in der wir uns befinden. Aber ich möchte am Ende doch darauf hinweisen – und das zeigt ja auch eine Veranstaltung wie die heutige –, es gibt, bei allen Problemen, die wir jetzt haben, doch auch eine permanente Gegenrede aus Politik und Gesellschaft. Da würde ich im Übrigen einen Unterschied sehen: Nicht, dass es Anfang der 90er Jahre gar keine Gegenreaktionen gegeben hätte, aber ich glaube, in diesem Sinne sind wir heute ein Stück weiter, die Sensibilität der übergroßen Mehrheit der Gesellschaft ist größer als vor 25, 30 Jahren.
Matthias Quent:
Frau Ohler, Sie sind in Mainz geboren und 2003 aus Berlin nach Thüringen gekommen. Was bedeutet der 9. November für Sie persönlich?
Gabi Ohler:
Für mich ist der 9. November immer verbunden mit der Reichspogromnacht: Ich war mit 14 Jahren mit der Schule in München und wir haben das KZ Dachau besucht, dort die Befreierfilme gesehen von den Leichenbergen, den kaum noch lebenden Menschen. Wir haben eine Ausstellung gesehen zu den Menschenversuchen von Mengele und die Gaskammern besucht. Diese Grausamkeit hat sich mir tief eingebrannt. Das ist heute noch da. Und das zweite Datum, der Mauerfall, ist für mich eher persönlich wichtig, weil ich ohne den Mauerfall und den 9. November nicht hier säße, dann wäre ich noch auf der anderen Seite der Mauer. In meinem Bewusstsein handelt es sich hier eher um einen Zeitraum: Für mich ist 1989 eher der Herbst 89 in Erinnerung. Der 9. November ist immer der 9. November der Reichspogromnacht.
Matthias Quent:
Liebe Katja Fiebiger, Mobit ist landesweit aktiv, dokumentiert, beobachtet und berät im Umgang mit rechtsextremen Veranstaltungen und Kundgebungen: Ist das so eine Ausnahmesituation, dass Rechtsextreme heute den Nationalsozialismus so eindeutig verherrlichen?
Katja Fiebiger:
Die Verherrlichung des Nationalsozialismus ist absolut keine Ausnahme innerhalb der extremen Rechten. Allerdings ist es eher die Ausnahme, dass sich jetzt – wie in Jena – so viele Menschen dem entgegenstellen. Dabei gibt es ähnliche Veranstaltungen im ganzen Freistaat: Neonazistisches Gedenken in Nordhausen und Weimar, die Veranstaltungen zum „Volkstrauertag“ in Friedrichroda. Überall dort versuchen Neonazis die Geschichte umzudeuten und dabei sind natürlich alle engagierten Menschen vor Ort gefordert, sich dem entgegenzustellen. Wenn man mit offenen Augen durch die Städte und Kommunen geht, sieht man an jeder Ecke eine Verherrlichung des NS – sind es T-Shirts oder Autoaufkleber. Aktuell gibt es zum Beispiel dieses Motiv „HKNRZ“, wo positiv Bezug genommen wird zum Hakenkreuz, und das wird öffentlich getragen. Oder wir sehen jetzt ganz oft auch die Aufkleber „I love NS“ [NS = Nationalsozialismus].
Matthias Quent:
Warum benutzen die Rechten solche Daten, wo sie wissen, dass sie auf das empfindlichste Kapitel der deutschen Geschichte anspielen und damit im Widerspruch zu weiten Teilen der Bevölkerung stehen?
Katja Fiebiger:
Also für den 9. November würde ich für Jena eindeutig sagen: Provokation, Provokation, Provokation. Da geht es weniger um den Inhalt an sich, sondern darum, diese Stadt Jena zu provozieren – weil man weiß, wie stark die Zivilgesellschaft hier aufgestellt ist, weiß man auch, dass man sie empfindlich trifft.
Norbert Frei:
Aber ist es nicht nur Provokation in dem Sinne, sondern es steckt nach meinem Dafürhalten, wenn ich jetzt an die etwas elaborierten Vertreter der Rechten denke, auch die Überzeugung dahinter, dass man politisch und gesellschaftlich in Zusammenhänge zurückwill, die vermeintlich erstrebenswerter sind als unsere Demokratie. Dieses Gefasel von „Volksgemeinschaft“ und „ethnischer Reinheit“ in entsprechenden Broschüren, in vermeintlich intellektuellen Darlegungen – das sind ja auch konkrete Programmatiken.
Gabi Ohler:
Und noch eine kurze Ergänzung: Ich glaube, es ist schlicht eine Machtdemonstration: Ich denke, es gibt schon relativ lange immer wieder den Versuch von rechts und ganz ganz rechts, möglichst weit die Grenzen aufzumachen, auszuprobieren, wie weit sie gehen können und alles immer noch weiter zu verschieben.
Matthias Quent:
Frau Ohler, die Erwartungen an die rot-rot-grüne Landesregierung in der Bekämpfung von Rechtsextremismus waren und sind, gelinde gesagt, nicht die geringsten. Es gab aber auch beispielsweise von den Jusos und von anderen Akteuren harte Kritik am Regierungshandeln, das in die Verantwortung dieser Regierung fällt – zum Beispiel ein Neonazikonzert in Hildburghausen mit 3.500 Teilnehmenden und nur 350 Polizisten im Mai 2016. Wie reagieren Sie auf diese Kritik?
Gabi Ohler:
Wir nehmen diese Kritik sehr ernst. Wir sind ja gerade dabei, das Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit zu überarbeiten und dieses Mal, im Vergleich zur letzten Legislatur, es wirklich zu einem Landesprogramm der gesamten Landesregierung zu machen. In der letzten Legislatur hat sich zwar der gesamte Landtag dazu bekannt, es wurde aber letztlich zu einem Programm des Sozialministeriums. Jetzt sind wir dabei zu sagen, wir müssen als gesamte Landesregierung gemeinsam daran arbeiten und auch mit dem Innenministerium in die Diskussion zur Weiterentwicklung gehen.
Matthias Quent:
Betrifft das auch den Bildungsbereich?
Gabi Ohler:
Wir bekommen vermehrt Meldungen, die bei uns als „besondere Vorkommnisse“ gekennzeichnet sind. Das sind Meldungen von Hakenkreuzschmierereien, von rassistischen Übergriffen – das ist für mich das Hauptproblem gerade für junge Leute, die irgendwann mal in den Schuldienst wollen: das Lernen, mit provokanten Jugendlichen umzugehen.
Norbert Frei:
Ich will an der Stelle doch mal sagen, was wir als Historiker auch bei dieser Welle von Fremdenhass und Pogromstimmung Anfang der 90er Jahre gesagt haben – ein Kollege hat das in diesem Sinne auf den Punkt gebracht: Man muss vom Nationalsozialismus und von der Geschichte des „Dritten Reiches“ überhaupt nichts wissen, um zu wissen, dass man keine Menschen anzündet. Soll heißen: Immer dann, wenn irgendwo rechtsradikale Gewalt sich äußert, nach Geschichte und historischer Aufklärung zu rufen, das ist zu kurz gesprungen. Es geht um Zivilität in einem umfassenden Sinn, und da kann man nicht sagen, wenn nur die Schulklassen, natürlich heute auf eine ganz andere Weise als zu DDR-Zeiten, durch die KZ-Ausstellung auf dem Ettersberg geführt werden, dann ist schon ein wichtiger Punkt erledigt. Das ist bestenfalls der Anfang.
Katja Fiebiger:
Ich würde den Kreis noch erweitern! Wir erleben das auch in Kindergärten: Wenn der klassische Neonazi seine zwei Kinder da hinbringt, ist auch eine Kindergärtnerin gefordert, damit umgehen zu müssen und zu können. Wir erleben derartiges an vielen Stellen auch in Verwaltungen, dass man auch da ein relativ starres System hat. Deshalb finde ich es gut, relativ breit zu denken.
Matthias Quent:
Das betrifft auch den Bereich der Polizei, die als Ausputzer ran muss, wenn Politik und Gesellschaft versagt haben. Heute habe ich beim MDR gelesen: „Land will Versammlungsrecht verschärfen“. Aus der Sicht von Mobit: Brauchen wir härtere Gesetze?
Katja Fiebiger:
Das klingt nach einer großen Hilflosigkeit – wenn ich nicht mehr weiß, was ich machen kann, verschärfe ich ein Gesetz. Wenn man die Demokratie einschränkt, also auch beim Versammlungsrecht Verschärfungen vornimmt, ist es auch für andere Demonstrationen der Fall und deshalb würde ich da mit Vorsicht umgehen, ob ich durch eine Verschärfung, nur um den Nazis Herr zu werden, dafür meine eigenen Freiheiten einschränke. Wir dürfen die Demokratie im Kampf gegen die Anti-Demokraten nicht selbst einschränken.
Norbert Frei:
Es geht in der Tat um die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die wir führen müssen. Und natürlich gibt es auch minderbegabte Juristen, die vielleicht nicht so kreativ mit den Möglichkeiten, die sie gesetzlich haben, umgehen, wie wir uns das wünschen. Aber dann sollen wir das kritisieren und nicht nach härteren Gesetzen schreien.
Gabi Ohler:
Grundsätzlich geht es darum, die Zivilgesellschaft zu stärken und das vorhandene Engagement – da, wo wir das als Landesregierung können – zu unterstützen, nicht nur verbal, sondern auch faktisch. Wir haben durchaus die Möglichkeit, mehr Geld in die Unterstützung zu geben. Das haben wir bisher auch gemacht. Das hört sich so fiskalisch an, ist aber eine ganz wichtige Arbeit, die damit finanziert wird.
Matthias Quent:
Herr Professor Frei, ich zitiere Sie aus einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung: „Die Führungsriege der AfD zündelt mit Begriffen aus dem ‚Wörterbuch des Unmenschen‘. Für die Rechtsradikalen ist das NS-Vokabular Lebenselixier.“ (SZ vom 15./16.10.2016, S. 5) Die AfD, schreiben Sie, sei nicht nur rassistisch, sondern schlimmer, daher müsse man deutlich machen, wie Sie schreiben, „worauf vor wenig mehr als zwei Generationen die Fantasien und Zwangsvorstellungen der ersten völkischen Bewegung in Deutschland hinausliefen: auf Völkermord.“ Wie ist das zu verstehen? Ist die AfD der besser gekleidete und sich besser artikulierende Teil der gleichen völkisch-nationalistischen Bewegung, für die auch Thügida steht?
Norbert Frei:
Die AfD ist offenkundig ein Spektrum von Menschen – und nicht jeder, der AfD wählt, ist den Rechtsradikalen, die da morgen demonstrieren, zuzurechnen. Das Problem scheint mir zu sein, dass mit einer solchen Partei und ihren spezifischen Protagonisten die Grenzen des Sagbaren verschoben werden und dass Leute, die aus einem gefühlten sozialen Unbehagen heraus ihr Glück mit der nächsten Protestpartei suchen, vor den Karren einer solchen Bewegung gespannt werden. Es gibt innerhalb dieser Partei und zumal unter denen, die sich als Frontpersonen artikulieren, ganz gezielte Versuche, den Diskurs weiter zu radikalisieren. Jemand wie Höcke weiß ganz genau, was er tut; seine einschlägigen „geschichtlichen“ Anspielungen sind ja alle genau platziert. Nicht alle, die ihm da zuhören und begeistert sind, wissen womöglich ganz genau, worauf er im Einzelnen hinaus will. Aber es wird eine Stimmung erzeugt, es werden Affekte bedient, die man dann weitertreiben kann. Das meine ich mit „die Grenzen des Sagbaren ausdehnen“.
Matthias Quent:
Beobachtet Mobit ebenfalls eine Radikalisierung, eine Verrohung? Ist nicht auch die Zivilgesellschaft sensibler geworden?
Katja Fiebiger:
Ja, wir sind sensibler geworden, aber wir beobachten auch, dass es mal einen Konsens gab, mit Nazis nichts zu machen. Gerade seit das Thema „Asyl“ so bestimmend in der Öffentlichkeit ist, hat sich das gewandelt. Einer großen Zahl Menschen ist es egal, ob die Demo von der NPD angemeldet wurde oder neben ihnen eine Neonazi-Gruppe mitdemonstriert. Damit wurde dieser wichtige Konsens gebrochen. Und auch insgesamt die Stimmung ist deutlich angespannter: Das erlebt man auch am Rand von Demonstrationen, dass man sieht, dass die Stimmung so aufgepeitscht ist, dass der normale Bürger, die normale Bürgerin, so aggressiv schreit, bis hin dass sie handgreiflich wird, weil ihr etwas nicht passt. Darüber muss man eine Debatte führen, was da passiert und wie es wieder einzufangen ist.
Norbert Frei:
Ich glaube, das hängt auch in nicht unerheblichem Maße damit zusammen, dass es so eine Art von populistischer Selbstermächtigung gibt über die sogenannten sozialen Medien, die zutiefst asozial sind, weil jeder vollkommen ohne Rücksicht auf den sozialen Kontext alles von sich geben kann. Es haben sich Möglichkeiten der Entäußerung ergeben in einem ja im Grunde noch ganz jungen Medium. Dagegen haben wir noch kein Rezept. Das sind ganz andere Formen, im Guten wie im Bösen, Gruppen zu organisieren – aus absolut minoritären Positionen schnell substanzielle Gruppen zu machen. Wir haben es mit einem massiven Problem des Zerfalls von bürgerlicher Öffentlichkeit zu tun. Der Stammtisch von vor 50, 100 Jahren in Dorf A wusste nicht unbedingt, dass es im Dorf B einen Stammtisch gibt, an dem die gleichen unschönen Reden geschwungen werden. Aber jetzt können sich die „Stammtische“ in beängstigender Schnelligkeit elektronisch vernetzen und entwickeln dadurch das Gefühl, sie seien die Mehrheit. Wir haben eine umfassende Strukturveränderung von dem, was Öffentlichkeit ist, was verantwortliches Sprechen in der Öffentlichkeit ist.
Matthias Quent:
Sie sitzen hier als herausragende Persönlichkeiten, aber auch als Vertreter bzw. Vertreterinnen, um das pauschalisierend und somit unzulässig zu fassen, für die unterschiedlichen Bereiche in der Gesellschaft – den Bereich der Wissenschaft, den Bereich der Politik, den Bereich der Zivilgesellschaft. Was wünschen Sie sich von den anderen Bereichen?
Gabi Ohler:
Diese Frage möchte ich nutzen, um Danke an die Zivilgesellschaft zu sagen, insbesondere denjenigen, die in Institutionen arbeiten, also sowohl die Thüringer Bürgerbündnisse als auch Mobit und ezra, Netzwerk Demokratie und Courage, das Netzwerk Schule ohne Rassismus. Ich wünsche mir, dass alle, die so engagiert sind, weitermachen und wir gemeinsam zusammen diesen Weg gehen, auch im gegenseitigen Austausch voneinander lernen, dass wir auch zurückgespiegelt bekommen, wo noch was verbessert werden muss, z. B. bei der Diskussion in Schule und Polizei und dass die Auseinandersetzungen friedlich und sehr engagiert bleiben. Bei der Wissenschaft wünsche ich mir neue Erkenntnisse, eine öffentliche Bildung über die Medien, aber auch Intervention und Versachlichung, so wie wir das heute hier machen können. Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft auf den Weg zu bringen, von dem wir uns schnelle nachvollziehbare Analysen und eine Institutionalisierung des Dialogs von Wissenschaft und Gesellschaft über die Hochschulen hinaus wünschen. Damit sollen die Diskussionen aus dem Rahmen der Hochschule in einen größeren Dialog transformiert werden. An dieser Stelle möchte ich auch die Gelegenheit nutzen, Prof. Frei für seine deutlichen Worte und sein umfangreiches Engagement sowie allen entsprechenden Hochschulvertreterinnen und – vertretern meinen Dank dafür zu sagen.
Norbert Frei:
Ich danke für Ihren Dank, aber ich finde, dass wir alle unser Selbstverständliches tun sollten und müssen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass man als Geisteswissenschaftler eben nicht auch versucht, jenseits seiner eigenen Fachperspektive und Fachkompetenz als Bürger das Seine zu tun. Ich denke, wir müssen mit denen, die erreichbar sind, reden. Manche sind nicht erreichbar, das weiß ich auch: Mit Fundamentalisten und Verschwörungstheoretikern ein rationales Gespräch führen zu wollen hat keinen Zweck. Aber uns allen muss es darum gehen, auch im persönlichen Umfeld den Mund aufzumachen, dort wo die Grenzen des Sagbaren ausgedehnt und verschoben werden. Wir müssen dann sagen: ‚Stopp mal, Du bist zwar mein Freund, aber an diesem Punkt kann ich nicht nur nicht mit, sondern ich möchte Dich darauf aufmerksam machen, in welche Richtung das geht, was Du hier formulierst, und was die Konsequenzen dessen sind, was Du so schnell dahinsagst.‘
Katja Fiebiger:
Ich fand die deutlichen Worte hier sehr gut und es braucht häufiger die deutlichen Worte und auch bei allen Differenzen, die wir miteinander haben, ob es nun Wissenschaft oder das Praktische ist. Auch auf einer politischen Ebene sind es genau die Tage wie morgen, wo wir zusammenstehen müssen. Es braucht auch die Anerkennung für Engagement, aber es braucht eben vor allem die Menschen, die auch auf die Straße gehen und dort deutlich machen, dass extrem rechte Ideologie für sie eben keine akzeptable und „normale“ Meinungsäußerung ist.
Matthias Quent:
Vielen Dank für die engagierte und eloquente Debatte!