Es ist kalt an diesem Tag. Wir schlendern entlang einer Straße im Damenviertel. Ein kurzer Blick in die Seitenstraßen verrät das Bevorstehende. Kurz hinter jeder Einbiegung verhindert eine Reihe aus Eisengittern den Durchgang. Fünfzig Meter dahinter begrenzen Gitter auch dort. Im Raum dazwischen stehen Beamt_innen wartend an ihren Autos und behalten die Straße im Blick […] Rund um den Spittelplatz ist alles abgezäunt. Überall an den Seiten entlang der Straße stehen die Einsatzwagen der Polizei. Einige der Beamt_innen ziehen sich ihre Einsatzausrüstung an. Andere lehnen scheinbar gelangweilt an den Autos, rauchen und unterhalten sich, trinken Kaffee oder Tee. Vereinzelt laufen Menschen durch den Bereich. Es ist kurz nach 15 Uhr. Noch vier Stunden bis Thügida läuft. (Feldnotiz 16/11/9/VI)
Gezogene Linien – Einleitung
Am 9. November 2016 hat das rechte Netzwerk Thügida („Thüringen gegen die Islamisierung des Abendlands“) am Gedenktag der Novemberpogrome eine Kundgebung mit anschließendem Fackelzug angemeldet unter dem Namen: „Durch Einigkeit zu Recht und Freiheit: Für eine echte politische Wende!!!“ [sic] im sogenannten Damenviertel im Innenstadtbereich Jenas. Einer der Anmelder, der ehemalige NPD-Organisationsleiter David Köckert, erklärte, sich hierbei auf den Tag des Mauerfalls als „inoffiziellen Tag der Deutschen Einheit“ (Köckert, zit. in Stadt Jena 2016: 5.) zu beziehen. Im Hinblick jedoch auf die auffällige Reihung der vergangenen Thügida-Demonstrationen, die jeweils an historischen Daten mit Bezug zum Nationalsozialismus1 stattfanden, versuchte die Stadt, die Veranstaltungen durch einen Auflagenbescheid einen Tag vorzuverlegen. Diese Versuche scheiterten vor dem Thüringer Oberverwaltungsgericht. Denn trotz der auffälligen Parallele zu den NS-Fackelzügen2 sah das Oberverwaltungsgericht von der Veranstaltung keine „konkrete Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ ausgehen (Beschluss ThOVG vom 07.11.2016, S. 3). Obwohl das Gericht bemerkt, dass „eine Gesamtbetrachtung den Schluss darauf zulässt, dass Hintergrund der geplanten Veranstaltung eine rechtsextreme, die Werte des Grundgesetzes missachtende politische Motivation ist, die vom weit überwiegenden Teil der Bevölkerung grundlegend abgelehnt wird“, stellt es weiterhin fest: „Dies allein berechtigt aber nicht zum Eingriff in die verfassungsrechtlich verbürgte Meinungs- und Versammlungsfreiheit.“ (Ebd.: 5) Eine Entscheidung, die nicht nur Unmut in der Bevölkerung hervorrief – auch die Verfassungsrechtlerin Barbara Bushart kritisierte diese beispielsweise in einem Interview (Bushart 2016).
Thügida durfte also am 9. November 2016 parallel zu dem jährlich in Jena stattfindenden Gedenken für die Opfer der Novemberpogrome im Jahr 1938 marschieren. Auch 2016 hatten verschiedenste Gruppen und Organisationen Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die jüdischen Opfer organisiert. Sie erstreckten sich räumlich über die ganze Stadt: von einer Fürbittandacht in der Stadtkirche über dezentrales Gedenken an den Stolpersteinen bis hin zu einem Mahngang vom Markt zum Westbahnhof mit anschließender Kranzniederlegung im Gedenken an die Deportation der Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma. Mit der Anmeldung und Durchsetzung des Fackelzuges wurde nun aber der Fokus der Wahrnehmung auf die Demonstrationen im Damenviertel gelenkt. Um „möglicherweise bestehende Gefährdungen des Gedenkens durch Präsentation nationalsozialistischen Gedankengutes“ (Beschluss ThOVG, S. 6) zu vermeiden, verwies das Gericht auf den Auflagenbescheid der Stadt Jena, der unter anderem das Mitführen von Fackeln auf eine je 15 Teilnehmer begrenzte und das Tragen von Sträflingskleidung, militärischen Uniformen sowie Bezugnahmen zu den Novemberpogromen untersagte (Auflagenbescheid Thügida, S. 3).
Da somit der 9. November als Demonstrationstag von Thügida gesetzt war, blieb auch die bereits vorher von der Stadt Jena erlassene Allgemeinverfügung bestehen, die sich an alle anderen Personen in der Stadt richtete. Dort wurde prognostiziert, „dass nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist“ (ebd.: 4). Die Gefahrenprognose bezieht sich hier allerdings nicht auf Thügida, sondern auf die zu erwartenden Gegendemonstrationen und Protestveranstaltungen. Umeventuelle Konfrontationen zu verhindern, sah die Stadt „eine räumliche Trennung (…) für erforderlich“ an und errichtete einen Sicherheitsbereich, der „einerseits versucht, die verschiedenen politischen Lager räumlich zu trennen und andererseits beabsichtigt, Polizei und Rettungskräften den nötigen Handlungsspielraum zu gewähren“. Auch Verhaltensregeln an die Bevölkerung wurden erlassen und beispielsweise das „Mitführen von Wasserbombenpumpen, Wasserbällen, aufblasbaren Planschbecken und Eiswürfeln“ ebenso wie „Luftballons, Kondome [und] OP-Handschuhe“ untersagt (ebd.: 3ff.).
Die Begrenzungen und Eingrenzungen, die vorher auf dem Papier ausgehandelt wurden, trugen sich nun in die Praxis und auf die Straße. Dort bildete das Ausgehandelte den Rahmen der Praktiken des Protests und des Gedenkens. Im Büro der Stadt verfasst, wurden die auf Papier gezogenen roten Linien im physischen Raum selbst zu begrenzenden Eisengittern, schwarze Linien zu legalen Wegen des Demonstrierens und blaue Linien zu verbotenen Bereichen des Protests. Durch diese gezogenen Linien konstruierten die Verantwortlichen der Stadt einen Protestraum, in dem die Akteur_innen innerhalb ihrer zugewiesenen Plätze agieren dürften.
Zur Protestbeobachtung
Forschungsansätze, die Protest und Protestteilnehmende zum Gegenstand machen, gewinnen mit der Zunahme von Protestereignissen an Bedeutung (siehe auch den Beitrag von Bischof und Quent in diesem Band). So werden beispielsweise Zählungen, wie das von Stephanie Pravemann und Stephan Poppe durchgeführte „LEGIDA gezählt“-Projekt (Pravemann/Poppe 2015), oder Befragungen von Protestteilnehmenden durchgeführt, wie die Demonstrationsbefragung Pegidas von Mitgliedern des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung aus Berlin (Daphi et al. 2015). Andere fragen nach den jeweiligen historischen und kulturellen Gegebenheiten, von denen die Formen des Protests, ihre Handlungs- und Kommunikationsmuster, abhängig sind, und nutzen ethnografische Methoden zur Erforschung (Epstein 1991, Rucht 2003).3 Auch der vorliegende Beitrag beschäftigt sich auf Grundlage von ethnografischen Beobachtungen mit den Formen des Protests. Ihm geht es darum, Praktiken der Raumordnung während einer Demonstrationsveranstaltung in den Blick zu nehmen. Ob und wie werden diese Protesträume konstruiert, verändert und genutzt? Wer erhebt welche Ansprüche innerhalb dieser Räume und wie wird versucht, diese Ansprüche durchzusetzen? Darin sollen beispielhaft die Potenziale wissenschaftlicher Protestbeobachtungen dargestellt werden. Zugrunde liegen Protokolle von ethnografischen Beobachtungen von insgesamt sechs Forschenden, die am 9. November 2016 während der Veranstaltungen rund um den Aufmarsch von Thügida durchgeführt wurden. Ziel war es, Praktiken der Herstellung und Verhandlung von Protestraum zu analysieren. In den Fokus genommen wurden dabei vornehmlich die Versammlung von Thügida selbst, Anwohner_innen/Gegendemonstrant_innen sowie Polizist_innen, die jeweils von ein bis zwei Personen am 9. November entlang des Geschehens begleitet wurden. So konnten Ereignisse aus unterschiedlicher Perspektive aufgezeichnet, die Positionen der Anwesenden aufgenommen und in Verbindung gebracht werden.
Schwierigkeiten in der Erforschung von Protestereignissen liegen dabei nicht nur in der möglicherweise repressiven Verfolgung der Forschenden durch Strafbehörden (Schönberg/Sutter 2009), sondern auch bereits in der begrenzten Zugänglichkeit des Feldes vor Ort. So wurde unter anderem Forschenden am 9. November 2016 wiederholt der Zugang zur Demonstrationsroute von Thügida verweigert. In diesem Sinne wurde der öffentliche Raum zu einem Raum des Protests, der nicht mehr frei zugänglich war, sondern strukturiert, reglementiert und kontrolliert wurde.
Der Raum des Protests
Orte können als Punkte im physischen Raum definiert werden, an dem sich ein Akteur oder ein Ding befindet. Als Körper sind sie stets ortsgebunden und nehmen einen konkreten Platz ein. Auch gesellschaftliche Akteur_innen, „die als solche immer durch die Beziehung zu einem Sozialraum herausgebildet werden, und ebenso die Dinge, insofern sie von den Akteuren angeeignet, also zum Eigentum gemacht werden, sind immer an einem konkreten Ort des Sozialraums angesiedelt“ (Bourdieu 1998: 160). Dabei wirken physischer Raum und der Sozialraum stets ineinander. Straßen, Wege und Orte sind eingeflochten in ein Netzwerk und damit auch in ein Bedeutungsgewebe innerhalb einer städtischen Ordnung. In den Wechselbeziehungen zwischen den Strukturen des Sozialraums und jenen des physischen Raums spiegeln sich die Machtverhältnisse einer Stadt (ebd.). In diesem Sinne kommt auch dem Damenviertel eine besondere Position innerhalb der Stadt zu. Das Gründerzeitviertel liegt im Innenstadtbereich Jenas und ist bereits seit Beginn seiner Erbauung ab 1885 das Symbol der gutbürgerlichen Mittelschicht. Zum ersten Mal wurden Badezimmer in Wohnungen gebaut und breite Sichtachsen sollten den Blick auf zentrale Bauwerke Jenas gewährleisten, wie die Zentralfabrik, die Spitalskirche und das Elektrizitätswerk. Das als Denkmalensemble ausgewiesene Viertel erstreckt sich über 14 Hektar und wurde vornehmlich als Wohngebiet gebaut. Bewohnt wurde es von gut situierten Bürger_innen der Stadt (Lörzer 2016). Heute hat das Gebiet einen Grünen-Ortsteilbürgermeister, wird vornehmlich von Akademiker_innen und Studierenden bewohnt und ist wie kein anderes Viertel die baulich-symbolische Verkörperung der linksliberalen Bevölkerung Jenas.
Symbolische Botschaften I
Wie das Datum nimmt auch der Ort einer Demonstration selbst Einfluss auf die jeweilige Innen- wie Außenwirkung der Versammlung (Denk/Waibel 2009: 63ff.). Demonstrationen an zentralen und/oder symbolträchtigen Orten bilden, neben bestimmten Tagen, ein Erfolgserlebnis, das für den Solidarisierungseffekt innerhalb der neonazistischen Szene zentral ist und zu einer anhaltenden Motivation führen kann, politisch tätig zu werden (Virchow 2006: 84). Jena ist in dieser Hinsicht für neonazistische Aufmärsche interessant, denn sie gilt als „linke Hochburg“ (Köckert zit. nach Feldnotiz 16/11/9/VI).4 Darauf bezog sich auch Thügida in der Demonstrationsankündigung für den 9. November 2016. Dort heißt es: „Seht es als Lehrstunde für eure „Demokratie“!!!!! Der linken Gesinnungspolizei und ihren Helfern wird es Angst und Bange! Wir kommen wieder!!!!!!!!“ [sic] (Thügida auf Facebook am 19.08.2016). Suggeriert wird hier eine linke Vorherrschaft in der Stadt, die offensiv infrage gestellt werden soll. Der Aufmarsch von Thügida selbst bezieht sich also nicht nur auf das Thema der angemeldeten Versammlung, sondern adressiert politische Gegner_innen und staatliche Institutionen. Nach Virchow ist dies eine „Machtfunktion (…), die Entscheidungsträger in Politik, Verwaltung und Polizei unter Druck setzen soll“ (Virchow 1998: 91), eine gezielt eingesetzte Demonstrationspolitik, die sich als Machtpolitik „auch gegen das Verhalten der Institution des bürgerlichen Staates“ richtet (ebd.: 92). Die Anmeldung und Genehmigung einer Route innerhalb dieses Viertels ist so nicht nur eine Irritation des wohnenden Alltags, sondern auch eine symbolische Positionierung von Thügida im Raum der Stadt. Es ist ein außeralltägliches Eindringen in ein Wohnviertel und damit auch in den Wohnraum – in die comfort zone der Bürger_innen.
Policing des Protestraums
Die Beamt_innen bereiten sich vor. Legen ihre Ausrüstung an, stellen sich an die ihnen zugewiesenen Stellen, betrachten die Bürger_innen. […] An den Schleusen ist mehr los. Dort haben sich mittlerweile mehrere Menschen angesammelt, die durch den Bereich wollen. Organisatorisch hat das ein junger Mann in schwarzer Kleidung in der Hand. Er gehört zum ZEVD5 und er soll als Ortkundiger überprüfen können, ob die davorstehenden Personen berechtigtes Interesse anmelden, die Straße zu überqueren. Es bildet sich eine Traube von Menschen, die, sobald sie im Gespräch mit Beamt_innen sind, in unterschiedliche Richtungen weisen; erklären, wohin sie müssen. Haben sie die Legitimation bekommen, den abgesperrten Bereich zu betreten, werden sie, wenn möglich, in kleinen Gruppen gesammelt und ein Beamter begleitet sie auf die gegenüberliegende Seite. Nicht alle jedoch wollen das. Eine Frau will nach rechts und geht einfach los. Der Beamte ruft ihr laut hinterher: ‚Hey! Sie!‘ – ‚Ich muss aber hier lang!‘, erwidert die Frau ungerührt und setzt ihren Weg fort. Entnervt winkt der Beamte ab und begleitet die anderen, die bislang gewartet haben, auf die gegenüberliegende Seite. Währenddessen erhebt an der Schleuse ein Mann die Stimme. ‚Sie wollen mir doch nicht etwa sagen, dass ich jetzt diesen Umweg in Kauf nehmen muss?‘ (Feldnotiz 16/11/9/VI)
Das Gebiet des Aufmarschs wurde abgeriegelt, vergittert und mit nahezu 1.000 Beamt_innen6 gesichert. Es ist eine „Strategie der Gewaltprophylaxe“ zu versuchen, durch hohen personellen Einsatz eine Anwendung von Pfefferspray, Schlagstock, Wasserwerfer etc. zu vermeiden (Winter 1998: 12). Da es im Zuge vorheriger Thügida-Aufmärsche zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, wurde ein Einsatzkonzept erstellt, das die Möglichkeit von Auseinandersetzungen unterbinden sollte und zu einer Gesamtabsperrung des Protestraums führte. Eine Entscheidung, die aus Perspektive der Anwohner_innen und Gegendemonstrant_innen teilweise als illegitim erlebt wurde. Die vollständige Abriegelung der Strecke und die damit verbundene Verunmöglichung einer Blockade erscheinen als illegitime Beschränkung der demokratischen Möglichkeiten des Protests. Durch das Aufstellen von Gittern und das Abstellen von Polizeibeamt_innen wurden bereits einige Stunden vor Beginn der Demonstration Zugänge, wie Straßen, Wege und Trampelpfade, die zur Aufzugsstrecke führen, versperrt. Anwohner_innen mussten sich an bestimmten Stellen, den „Schleusen“, einfinden, sich durch Vorzeigen von Personaldokumenten als im Bereich Wohnende legitimieren lassen und erhielten erst dann Zugang zum abgesperrten Protestraum.
Zur „Sicherung und Wahrung der Versammlungsfreiheit“ ist es Polizeibeamt_innen gestattet, in „einem angemessenen Maß“ in den Privatraum von Menschen einzugreifen, sofern es „verhältnismäßig“ ist (Ebert/Seel 2016). Was als „verhältnismäßig“ und als „im angemessenen Rahmen“ betrachtet wird, obliegt der Entscheidung der Polizei in der Situation. In der Handhabung komplexer Handlungsverläufe und uneindeutiger Situationen stellt das Gesetz einen Ermessensraum zur Verfügung; auf diesen für die „Polizei (…) nötigen Handlungsspielraum“ (Allgemeinverfügung Stadt Jena, S.4) wird auch in der Allgemeinverfügung der Stadt Jena verwiesen. Nach Walter Benjamin kommt hierbei der Polizei eine „gespenstische“ (Derrida 1991: 90) Position zu, weil in der Polizei sowohl die erhaltende als auch die (be-)gründende Gewalt vermischt und aufgehoben ist (Benjamin 1921). Polizeibeamt_innen werden durch ihre Handlungen nicht nur zu Anwender_innen von Gesetzen, durch die die gesellschaftliche Ordnung erhalten werden soll, sondern „zur rechtsetzenden, gesetzgebenden Macht, jedes Mal, wenn das Recht unbestimmt genug ist, um ihnen diese Möglichkeit einzuräumen“ (Derrida 1991: 91). Zugleich sind sie der leibgewordene Staat, der im Alltag zumeist körperlich abwesend ist, hier aber präsent wird und die Koordinierung des öffentlichen Lebens zeitweilig übernimmt. In der Umgitterung des Protestraums für Thügida bedeutete dies, dass nicht nur Menschen aus diesem Bereich „herausgehalten“ wurden, sondern auch Menschen, die innerhalb des Bereiches wohnen, untersagt wurde das Haus zu verlassen. Für die Gewährleistung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit wurde die Freiheit Einzelner zeitweilig stark beschnitten. Durchgesetzt wurde dies von Polizeibeamt_innen, die sich, besonders im Bereich der Auftakts von Thügida, vor die Eingänge von Häusern stellten und so mit ihrer körperlichen Präsenz der Einschränkung Nachdruck verliehen. Aus den Feldnotizen spricht Unmut der Anwohner_innen und Gegendemonstrant_innen über diese Situation. Neben Assoziationen zu einem „Polizeistaat“, die ein Gefühl der Einschränkung vermitteln, scheint für einige die Polizeipräsenz sogar eindringlicher zu sein als die der neonazistischen Demonstration: „Diese rumrennenden Bullen machen mich aggressiver als die Nazis.“ (Feldnotiz 16/11/9/II) Es gibt allerdings auch andere Positionen, die polizeiliche Handlungen als gegeben hinnehmen und die Aufteilung des Raums und der Akteur_innen für gut befinden.
Der Staat nimmt hier – in der räumlichen Konkretisierung demokratischer Aushandlungen – seinen Platz ein; inmitten eines Diskurses über Macht und Autorität, Legitimität und Konsens (Sittler 2009: 119). Dort weist er den Subjekten ihren Platz in der sozialen Ordnung zu und sagt dem Individuum damit nicht nur, wo sein konkreter Ort in der Gesellschaft ist, sondern auch welche Funktion es dort hat (Žižek 2001: 255ff.). Die zugewiesene Funktion der Gegendemonstrant_innen besteht dann darin, friedlich ihre Meinung kundzutun und dies an ihrem zugewiesenen Ort, also außerhalb der für Thügida abgeriegelten Strecke. Auf dieser wiederum bekommt Thügida ihren zugewiesenen Platz. Die Straße als egalitärer öffentlicher Ort, der, „so scheint es – zunächst von jedem Bürger und jeder (Nicht)-Bürgerin betreten und mindestens auf diese Weise beeinflusst oder sogar mitgestaltet werden kann“ (Sittler 2009: 111), wird nun zu einem exklusiven Ort, der zeitweilig nur von bestimmten Menschen betreten werden darf.
Konfrontationen
Noch vor Beginn der Veranstaltung kam es zu einem Durchbruchsversuch von Gegendemonstrant_innen am Auftaktort von Thügida. Die staatlichen Ordnungskräfte verteidigten die von ihnen hergestellte Ordnung auf der Straße und gingen mit Pfefferspray gegen die Aktivist_innen vor, einzelne Personen wurden weggetragen und in Gewahrsam genommen. Damit wurden nicht nur die rechtsbrechenden Personen bestraft, sondern auch die Ordnung statuiert (Benjamin 1921: 6ff.) Nur wenig später wurde diese Ordnung noch einmal bekräftigt, als sich die weggehenden Menschen in der Nähe sammelten:
Dort fährt nun der Wasserwerfer vor und positioniert sich gegenüber den Gegendemonstrant_innen – rechts und links von ihm steht ebenfalls Polizei. Auch vor eine Gruppe der Demonstrant_innen am Spittelplatz fährt nun ein Polizeifahrzeug vor. Das martialisch wirkende gepanzerte Räumfahrzeug macht bereits durch seine bloße leibliche Präsenz Eindruck. Er stellt sich vor der Menge auf und macht das Licht an – er blendet in die Masse. Die Demonstrant_innen reagieren sofort und wenden ihre Aufmerksamkeit auf das Licht. Sie beschweren sich, wenden sich von dem Licht ab oder machen Fotos. ‚Dieses blendende Licht ist Provokation pur, das hat mit Deeskalationsstrategie nichts zu tun‘, ruft eine Frau zu dem Kommunikationsteam der Polizei, die sie wiederum auf die Beschwerdestelle verweisen. Die Masse der Menschen murmelt. Es sind an die 500 und das Licht wirkt wie eine undurchdringliche Barriere. Die Dynamik der Leute verliert sich. Die Polizei zieht weitere Beamt_innen heran, die sich um die Gitter positionieren. (Feldnotizen 16/11/9/II und 16/11/9/VI)
Hier betont die Polizei die erstellte Ordnung innerhalb des Protestraums und verweist die Menschen durch Licht und die körperliche Präsenz der Beamt_innen auf ihre Position außerhalb der Gitter. Gleichzeitig wird damit der Protestraum erneuert und sich seiner vergewissert.
Polizei, Thügida und die Gegendemonstrant_innen stehen miteinander in einer „wechselseitigen Handlungsbeeinflussung, die Individuen aufeinander ausüben, wenn sie füreinander anwesend sind“ (Goffmann 1959: 18). Ihre sozialen Handlungen sind stets auf das Verhalten der anderen bezogen, bedingen sich gegenseitig und schaffen damit einen sozialen Raum der Interaktion. Diese Handlungen stehen dabei innerhalb einer sozialen Positionierung der Akteur_innen, die geprägt ist von Deutungen sozialer Wirklichkeit und Bedeutungszuschreibungen des eigenen Handelns (Kretschmann 2016: 507ff.) Während Gegendemonstrant_innen die Legitimität der neonazistischen Demonstration zurückweisen und die Aufgabe eines demokratischen Staates darin sehen, derartiges nicht im öffentlichen Raum zuzulassen, liegt die handlungsleitende Perspektive der Polizeibeamt_innen auf der „Wahrung von Sicherheit und Ordnung“ und damit auf der Sicherstellung der Durchführung der angemeldeten Versammlung. Die nahezu „hermetische Abriegelung“ des Protestraums ist durch diese Perspektive bedingt.
Praktiken im Protestraum
Ein Anwohner versucht, mit einem Wasserschlauch die Fackeln zu treffen. Die Fontäne reicht über die halbe Straße. Die Thügida-Teilnehmer laufen um den Wasserstrahl herum. Aus dem gleichen Haus fliegen aus einem anderen Fenster jetzt auch Wasserbomben. […] Einzelne Nazis reagieren mit herausfordernden ‚Komm her‘-Handgesten. Ein Nazi schlendert betont unauffällig zum Hauseingang des Nebenhauses der Wasserbombenwerfer_innen, vermutlich, um deren Klingelschild zu lesen und/oder zu fotografieren oder zu filmen. […] Es fliegen noch mal einige Wasserbomben Richtung Fackeln. Die Nazis fotografieren mit ihren Handys die Anwohner_innen auf den Balkonen. (Feldnotiz 16/11/9/III)
Demonstrationen besetzen den öffentlichen Raum, sie „blockieren die alltägliche Ordnung“ und „schaffen eine Ausnahmesituation, in der sich nicht nur nach außen Handlungsmacht symbolisieren, sondern in der sich zudem einzelne Teilnehmer_innen mit den übergeordneten Leitwerten der Bewegung ideell, körperlich und emotional identifizieren“ (Fahlenbrach 2009: 100). Damit vervielfältigen sie nicht nur den Effekt der individuellen Meinungsäußerung, sondern verschmelzen in der expressiven und symbolischen Selbstdarstellung zu einer kollektiven Protestidentität. Dabei beruhen die Formen des Straßenprotests auf „historisch tradierten aber auch spezifischen und immer wieder erneuerten Ritualen der Interaktion sowie damit verbundenen performativen Kodes“ (ebd.: 101). Die gewählten Symboliken des Protests sind damit nicht ahistorisch zu lesen, sondern stehen stets im Kontext der Rituale und des Protestkodes der Demonstration.
Symbolische Botschaften II
Die Fackeln7 von Thügida sind als visuelles Symbol der NS-Zeit auch ein „Symbol der Masse“ (Canetti 1960), die für die Herrschaft im öffentlichen Raum stehen und ihren Ursprung in den alten Triumphzügen haben; eine Symbolik, die durch die Aussagen Köckerts noch unterstrichen wurde: „Die einzige antideutsche Hochburg ist nun wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen.“ (Köckert zit. nach Feldnotiz 16/11/9/VI) Er deutet hier die genehmigte Demonstration als eine an eine Eroberung erinnernde Raumbesetzung.8 Die Bewegung der Demonstration durch diesen Raum wird ein symbolischer Triumphzug durch Jena, unterstützt von den Fackeln und dem Sarg, auf dem die „Demokratie“ und die „Antifa“ zu Grabe getragen werden. Unterstützt wird dieser Eindruck auch durch die Geh- und Laufbewegungen des symbolischen Kollektivkörpers. Als Gedenkgang inszeniert, waren die Bewegungen Thügidas im Raum bewusst langsam (Feldnotiz 16/11/9/V). So entschleunigten sie den Aufmarsch, ließen sich Zeit und verlängerten die Zeit im Raum. Es war kein Durchgehen, kein Fertigwerden, sondern eine räumlich körperliche Besetzung des Raumes. Diese Bewegungen änderten sich allerdings, sobald Gegendemonstrant_innen in das Blickfeld der Teilnehmer_innen rückten. Die Kommunikation wurde extensiver und richtete sich teilweise direkt an die Gegendemonstrant_innen. Durch Drohgebärden, wie „Komm her“-Handgesten, durch breitbeiniges Aufstellen vor den Absperrungen und „Anstarren“ der Gegendemonstrant_innen wurden Macht und Dominanz im Raum inszeniert. Die Inszenierung der Demonstration als eine raumerobernde und raumbesetzende stößt sich jedoch an ihren Rändern, wenn der Blick des Betrachtenden auf die die Demonstration umgebenden Polizist_innen fällt. Diese reglementieren und kontrollieren den Bewegungsraum der Teilnehmenden. Es handelt sich damit nicht um eine autonome Besetzung eines scheinbar eroberten Gebietes, sondern um eine Inszenierung eines zugewiesenen, durch die Polizei verwalteten Raumes.
Gleitet der Blick noch etwas weiter, wird man auch der Gegendemonstrant_innen gewahr, die sich an den Grenzen der Straßen, in den Häusern und auf Balkonen befinden. Lichtprojektionen an einem Eckhaus, Bilder, Banner und Symboliken des Widerstands begleiteten die Demonstration von Thügida bei ihrem vermeintlichen Triumphgang. Der Gegenprotest schwoll an, Sprechchöre und Pfiffe wurden lauter, je näher Thügida den Gegendemonstrant_innen kam, und verstummte beinahe, wenn der Aufmarsch vorbeigezogen war. Dabei versuchte die Gegendemonstration, die Hoheit über den akustischen Raum zu erhalten, auch das Gesprochene von Thügida zurückzuweisen und den Raum des Gesagten und Gehörten zu begrenzen. Das gemeinsame Agieren suggeriert aber auch Entschlossenheit und unterstreicht die Masse der Protestierenden (Schönberger/Sutter: 136ff.).
Einige Gegendemonstrant_innen griffen auf die historische Praktik der Schandwürfe zurück, bei der Eier und faules Gemüse auf Personen am Pranger als demütigende Strafe geworfen wurden, und warfen ungekochte Eier in Richtung der Demonstration. Eine symbolische Protestform, denn „Lebensmittel machen lächerlich. […] Bei Eiern beobachten wir zunächst den schönen Effekt des langsamen Hinunterfließens, ob an einer Person oder Häuserfassade. […] [und] lässt den Getroffenen bekleckert dastehen.“ (Rucht 2001)
Die Polizei trat nach außen gegenüber der Gegendemonstration vornehmlich als begleitende Sicherung der Thügida-Demonstration auf. Als vereinzelte Teilnehmer_innen von Thügida begannen, die Klingelschilder an Häusern abzufotografieren, schritten die Beamt_innen nicht ein. Hier wird das Missverhältnis zwischen wahrgenommener Bedrohung und der „objektiven“ Einschätzung der Polizeibeamt_innen offenbar: Eine persönliche Bedrohung wird den Bewohner_innen durch die Personen von Thügida zwar suggeriert, gleichzeitig haben diese Handlungen keine sachliche Bedeutung für die Beamt_innen, sodass sie sie nicht verfolgen – eine unterlassene Handlung, die nicht nur Einfluss auf die subjektive Unsicherheit der Anwohner_innen ausübt, sondern auch den symbolischen Handlungs- und Bedeutungsraum der neonazistischen Teilnehmer_innen erhöht.
Teil der Eroberungsinszenierung von Thügida ist auch der Vorfall kurz nach der Zwischenkundgebung von Thügida, als der Lautsprecherwagen („Lauti“) unter einem der dortigen Banner stoppte und eine Person begann, auf den Wagen zu klettern:
Er braucht ewig, bis er oben ist, und hängt eine Zeitlang scheinbar hilflos kräftesammelnd herum – ein Bein in der Luft. Er scheint es auf das Banner über dem Wagen abgesehen zu haben. Allerdings hängt er so lange am Wagen, dass es scheint, er habe es sich anders überlegt. Dann jedoch zieht er sich mit letzter Kraft, und unterstützt von einem seiner Kameraden, doch noch auf den Lauti hoch. Er steht auf, reißt das Banner ab, wirft es nach unten und triumphiert. Die Polizei filmt die Szene, greift aber nicht ein. […] Schließlich hüpft er herunter, geht sich feiern lassend um den Lauti herum. Das Banner wird unter den Scheinwerfer des Lauti geklemmt. Während dessen konstatiert Köckert, dass derjenige, dem das Plakat gehört, sich gerne bei ihnen melden kann, man könne ja auch Adressen austauschen und in Briefkontakt bleiben. Während er sich lachend über seine Witze freut, holen Beamte der Polizei das abgerissene Plakat wieder. Dennoch darf die Demonstration weiterlaufen. Köckert spricht die ganze Zeit in das Mikro. Eine weitere Person geht umher und reißt die an den Hecken und Zäunen befindlichen Plakate ab, zerknüllt sie und wirft sie anschließend auf den Lauti. (Feldnotiz 16/11/9/VI)
Das Banner, das über der Straße hing, trug den Titel: „Endspurt statt Endsieg“ und gehörte in eine Inszenierung der Gegendemonstrant_innen. Dabei wurde die Marschstrecke als Raum eines Spendenmarathons umgedeutet, in dem jeder gelaufene Meter der Thügida-Demonstration eine Geldspende für Geflüchtete bedeutet. Diese satirische Umdeutung der Demonstration ist eine verhältnismäßig neue Protestform, die in Wunsiedel 2014 bei einem Gedenkmarsch der Neonazis breite Resonanz erfahren hatte.9 Das Banner wurde der Gegendemonstration entrissen und als Trophäe wenige Meter auf dem Lauti von Thügida der eigenen Demonstration präsentiert. Gleichzeitig leuchtete ein Scheinwerfer der Polizei die Person auf dem Wagen an, um Videoaufnahmen zur Beweissicherung der Tat zu erstellen. Dies führte allerdings dazu, dass der Schatten der Person auf dem Wagen groß auf die dahinterliegende Hauswand fiel. Auf einer gegenüberliegenden Wand befand sich ein von Gegendemonstrant_innen projiziertes Bild von Adolf Hitler in einer rosa Uniform (Feldnotiz 16/11/9/VI). Zusammen bildeten sie eine Versinnbildlichung der Positionen von Demonstration und Gegendemonstration auf der Straße.
Die Polizei orientierte sich in ihrem Nichteingreifen an ihren Aufgaben, die Demonstration zu sichern und präventiv eine mögliche Eskalation zu verhindern. In einem Fall wie diesem wird die straftatbegehende Person „markiert“10 und später aus der Versammlung geholt. „Man kann jetzt nicht jemanden rausholen, während hier rechts und links Gegendemonstranten sind. Das macht man nicht, da wartet man lieber auf einen ruhigen Bereich.“11 Aus polizeilicher Perspektive ist dieses Handeln zur Eskalationsvermeidung sinnvoll und unterstützt die Aufgabe, die Durchführung der angemeldeten Demonstration sicherzustellen. Auf der symbolischen Ebene jedoch erscheint das strafrechtliche Verfolgen einer Tat im quasi Verborgenen, obwohl sich diese in der Öffentlichkeit ereignet hat, als eine Praktik des Gewährenlassens.
Bedeutungen und Perspektiven
Am heutigen Mittwoch, 09.11.2016, fand in der Zeit von 18:00 Uhr bis 20:30 Uhr eine Kundgebung mit Aufzug des Thügida-Bündnisses statt, welche die amtsbekannten und der rechten Szene zugehörigen David Köckert und Robert Köcher unter dem Motto ‚Durch Einigkeit zu Recht und Freiheit: für eine echte politische Wende‘ angemeldet hatten. […] Durch die eingesetzten Polizisten aus Thüringen, Bayern, Berlin und Sachsen konnte ein direktes Aufeinandertreffen der gegensätzlichen Lager verhindert und allen Versammlungsteilnehmern ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ermöglicht werden. (Polizei Thüringen 2016)
Dies sind Ausschnitte aus der Pressemitteilung, die die Polizei im Anschluss an die Demonstration am 9. November veröffentlicht hat. In nüchternem Ton resümiert die Polizei darin das Geschehene und bezieht sich dabei im Wesentlichen auf den Erfolg, „ein direktes Aufeinandertreffen der gegensätzlichen Lager verhindert“ zu haben. Die von der Stadt gezogenen und von den Polizist_innen in die Praxis überführten Linien scheinen also ihre Aufgabe erfüllt und durch die räumliche Trennung eine Konfrontation vermieden zu haben. Zudem kamen zur Veranstaltung von Thügida statt der angemeldeten 300 Personen nur knapp 80 – ein Grund, wieso der Oberbürgermeister von Jena, Albrecht Schröter, den Aufzug „wirklich lächerlich“ (Putz 2016) nannte. In Bezug darauf, dass der Aufmarsch eine zwar zeitlich und räumlich begrenzte, aber staatlich legitimierte Besetzung eines Straßenraums bildet, der „zu einer interaktiven Aneignung und Repräsentation kollektiver Identitäten“ (Fahlenbrach 2009: 98) der neonazistischen Szene genutzt wird, ist dieses Urteil in Zweifel zu ziehen. Der symbolische Kampf um den Raum, das Einfordern von Aufmerksamkeit und die Provokationslogik der rechten Inszenierung ist es weder gewohnt noch darauf angewiesen, Massen zu mobilisieren.
Seit Anfang des Jahres 2015 führt Thügida, ehemals Sügida, regelmäßig Demonstrationen in Thüringen durch. Ihren Höhepunkt erreichte die neonazistische Veranstaltung im Oktober 2015, als sich 2.500 Menschen in Altenburg zusammenfanden (siehe Beitrag von Lammert in diesem Band). 2016 meldete Thügida allein vier Veranstaltungen im universitär-geprägten Jena an, die jedes Mal massiven Gegenprotest hervorriefen. Durch die Regelmäßigkeit von Aufmärschen und Demonstrationen versucht Thügida, sich in einer ähnlichen Weise zu etablieren, wie dies Pegida in Dresden gelang (Mobit 2016). So findet nicht nur ein Prozess der Gewöhnung statt, sondern auch eine Veralltäglichung von neonazistischen Veranstaltungen.
In Demonstrationen der Thügida finden neonazistisches Gedankengut und faschistische Ästhetik und Symbolik einen öffentlichen Raum des Aussprechens und Kommunizierens und werden für einen Moment auch für diejenigen sichtbar, die sich im Alltag damit nicht beschäftigen wollen oder müssen. Dabei gibt es die Gefahr, diese zeitweiligen und räumlich begrenzten Ereignisse als kurzzeitiges Moment misszuverstehen. Die Beendigung einer Demonstration, sei es durch Auflösung oder Blockade der Veranstaltung, kann so das trügerische Moment des Vorbeiseins implizieren. Ganz im Gegenteil findet hier nur eine zeitliche und räumliche Konkretisierung rechten Gedankenguts statt. In der Art und Weise der Inszenierung erheben neonazistische Demonstrationen Anspruch an den physischen wie symbolischen Raum. Es wird damit das neonazistische Potenzial in der Gesellschaft sichtbar und zum Gegenstand öffentlich-politischer Auseinandersetzungen (siehe dazu auch die Dokumentation der Podiumsdiskussion in diesem Band).
Im Nichteingreifen der Behörden bei Verstößen gegen Auflagen und im Nichtverfolgen von Straftaten während dieser Geschehen wird der symbolische Raum des Sagbaren zunehmend erweitert und gibt neonazistischen Bewegungen die Illusion, dass sie für ihre Ideologie einen breiten Rückhalt finden. Auch wenn im Nachgang Strafanzeigen gegen die Anmelder wegen Verstoßes gegen die Auflagen gestellt werden, entzieht sich dies dem Moment der politischen Auseinandersetzung im Geschehen selbst. Während die Ingewahrsamnahmen nach dem Durchbruchsversuch der Gegendemonstrant_innen Reaktionen im Geschehen selbst waren und dadurch auch Teil des Protests sind, fällt das nachträgliche Verfolgen der Taten von Thügida-Teilnehmenden aus dem Kontext des Protestraums heraus. In dieser Hinsicht führt das Nichteingreifen der Behörden im Akt des Gesetzesbruchs zu einer Legitimation des Gesagten.
Ausblick
Das Anliegen des Beitrags war es, die Praktiken des Protests in Bezug auf die Herstellung und Verhandlung von Protestraum in den Blick zu nehmen. Demonstrationen finden im öffentlichen Raum statt und proklamieren diesen für sich – oft nicht ohne Widerstand. Demonstration und Gegendemonstration geht es um eine räumliche Dimension: Jena räumlich zu besetzen bzw. neonazistische Demonstrationen in Jena nicht zuzulassen.
Demonstrationen sind eine spezifische Form, „sich mit den Herrschenden zu unterhalten“ (Friedrich Naumann 1910, zit. nach Warneken 1986: 21). Die Reaktionen des Staates, vornehmlich physisch präsent durch die Polizeibeamt_innen, sind damit eingebunden in eine nicht nur symbolische Auseinandersetzung um Legitimität von Gesagtem und Gezeigtem. Diese Aushandlungen gehen noch weiter. Im Nachgang fanden in journalistischen Medien und sozialen Netzwerken Diskussionen und Kämpfe um Deutungen und Bewertungen der Proteste statt, die im Rahmen dieses Beitrags nicht berücksichtigt werden konnten. Auch Eindrücke der Gedenkveranstaltungen fehlen, um die Dichte der symbolischen Aushandlungen hinreichend darzustellen. So kann dieser Beitrag nur als ein Schlaglicht auf das Feld der Protestforschung dienen. Der Vielfältigkeit und Komplexität von Protestereignissen in ihren Handlungs- und Kommunikationsmustern sowie die Inblicknahme aller Akteur_innen kann man nur mit längerfristigen qualitativen Studien gerecht werden.
1 Am 20.04., dem Geburtstag Adolf Hitlers, am 17.08., dem Todestag von Rudolf Heß, sowie am 20.07., Tag des Attentats auf Adolf Hitler.
2 Fackelzüge haben eine lange Tradition: So wurden ab dem 18. Jahrhundert Rektoren von Universitäten verabschiedet; vgl. dazu Füssel 2010. Bezüglich politischer Demonstrationen tauchen Fackelzüge zentral in der Zeit des Nationalsozialismus als Herrschaftspraktik auf. Auch in der DDR gab es zum 40. Tag der Republik, am 7. Oktober 1989, einen Fackelzug. Im Hinblick auf die Thügida-Demonstration und die dort verwendete Symbolik (Sarg, Reichskriegsflagge, neonazistische Kleidermarken …) ist die faschistische Ästhetik augenfällig.
3 Zu weiteren Zugängen siehe Della Porta 2014.
4 Neonazistische Aufmärsche haben es in Jena schwer. Nach der erfolgreichen Blockade des „Fest der Völker“ 2007 gab es erst 2015 wieder eine neonazistische Demonstration: einen Marsch der „Europäischen Aktion“ mit circa 100 Teilnehmer_innen, der durch 22 angemeldete Gegenveranstaltungen blockiert wurde.
5 ZEVD = Zentraler Ermittlungs-und Vollzugsdienst, also ein Beamter des Ordnungsamts.
6 Die Zahl nannte ein Beamter in einem Gespräch. Zu den 1.000 Personen zählten allerdings auch Beamt_innen, die im sogenannten Raumschutz unterwegs waren, d. h. die sich nicht am Auftaktort selbst aufhielten, sondern in der Stadt und an den Zufahrtsstraßen postiert waren, oder sich, wie Beamt_innen der Beweissicherungs-und Festnahmeeinheit (BFE), frei im Stadtraum bewegten, um „Kleingruppen in Bewegung zu halten“. Abgesehen von der Bereitschaftspolizei aus Thüringen waren zur Unterstützung ebenfalls Beamt_innen aus Berlin, Sachsen und Bayern angereist.
7 Die Mitführung der Fackeln unterlag einer Auflage, der nicht nachgekommen wurde. Dennoch durfte die Demonstration mit doppelt so vielen Fackeln wie beauflagt laufen.
8 In einigen Feldnotizen finden sich Einschätzungen von Anwohner_innen, die einen Belagerungszustand und eine bedrückende Stimmung beklagen; sie beziehen sich allerdings auf die Polizeipräsenz, nicht auf Thügida, vgl. Feldnotizen 16/11/9/III und 16/11/9/IV.
9 In Kooperation mit Unternehmen und Privatpersonen wurden Spenden gesammelt. Für jeden Meter, den der Gedenkmarsch zurücklegte, wurden 10 Euro an Exit Deutschland und für jede Minute, die demonstriert wurde, 10 Euro an die „ex-it Tattooentfernung“ gespendet. Insgesamt gingen um die 10.000 Euro ein, vgl. rechts-gegen-rechts.de. In Jena brachte die Aktion „Nazis pro Asyl“ 6.000 Euro an Spenden ein.
10 Mehrere Polizist_innen, welche die Versammlung begleiten, richten ihre Aufmerksamkeit auf diese Person und warten auf einen günstigen Moment zum Zugriff; weiter dazu auch Behr 2008.
11 Aussage eine_s Polizeibeamten_in, Feldnotiz 16/11/9/VI; die betreffende Person wurde kurz vor dem Endpunkt der Demonstration von einem gesonderten Greiftrupp aus der Menge der Demonstrierenden geholt und polizeilichen Maßnahmen unterzogen.
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