Folgen rechter Gewalt für Betroffene und Möglichkeiten der Unterstützung durch spezialisierte Opferberatungsstellen

Im Folgenden wird erläutert, was die Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt unter rechter Gewalt verstehen, wer davon betroffen ist, welche Folgen die Gewalt für Betroffene haben kann und welche Möglichkeiten spezialisierte Beratungsstellen bieten können, um Betroffene zu unterstützen.

Vorab zwei einleitende Begriffserläuterungen:


Zum Begriff der rechten Gewalt


Die Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt verwenden den Begriff „rechte Gewalt“ übergreifend. Gemeint sind zum einen neonazistisch motivierte Taten, die von mehr oder weniger organisierten Personen aus diesem Spektrum verübt werden. Zum anderen spielen Tatmotive eine Rolle, bei denen sich die Täter_innen auf historisch gewachsene und gesellschaftlich verbreitete Ausgrenzungsideologien beziehen.


Zum Begriff des „Opfers“


Die Beratungsstellen sprechen in der Regel von Betroffenen rechter Gewalt, da der Begriff des „Opfers“ im deutschen Sprachraum negativ besetzt ist. Er wird mit Schwäche, Ohnmacht und Hilflosigkeit in Verbindung gebracht und kann stigmatisierend wirken. Der Opferbegriff ist statisch und umfasst nicht die Dimension der Bewältigung von Problemlagen. Viele Betroffene wollen nicht als Opfer bezeichnet werden. Deshalb findet der Begriff hier keine Verwendung, außer in Zitaten, Namen und in der Bezeichnung des Fachgebietes der „Opferberatung“. Kritisch muss angemerkt werden, dass die Vermeidung des Opferbegriffs zu einer Bagatellisierung der oft gravierenden Folgen der Gewalterfahrungen für die betroffenen Personen führen kann und es erschwert auszudrücken, was es bedeutet, Gewalt ausgesetzt zu sein.


Rechte Gewalt in Deutschland

Rechte Gewalt hat sich in der gesamten Bundesrepublik Deutschland zu einem kontinuierlich bestehenden immensen Problem von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung entwickelt.1 Die Eskalation rassistischer Gewalt in den 1990er Jahren, für die exemplarisch die Angriffe in Hoyerswerda 1991 und in Rostock-Lichtenhagen 1992 stehen sowie die Brandanschläge in Mölln 1992 und in Solingen 1993, machte eine staatliche Reaktion notwendig. Gedeutet wurde die Gewalt damals vor allem als Phänomen von Jugendlichen aus der ehemaligen DDR, die sich rechtsextrem orientieren. Dieser These folgend zielten staatliche Programme zunächst auf den Aufbau von Jugendhilfestrukturen in Ostdeutschland und auf Maßnahmen, die die Täter_innen in den Fokus stellten. Die Situation der Betroffenen, ein Bemühen um ihren Schutz und eine solidarische Unterstützung spielten dagegen keine Rolle. Unbeachtet und weitgehend unbearbeitet blieb die Verantwortung von Politik und Medien für populistisch geführte Debatten im Zuge der Verschärfung des Asylrechts, die eine rassistische Stimmung mit anheizten.


Paradigmenwechsel – von der Perspektive der Täter_innen zur Perspektive der Betroffenen

Unterstützungsangebote für Betroffene kamen zuerst von antifaschistischen und antirassistischen Initiativen, etwa von der ARI in Berlin. ARI unterstützte die Hinterbliebenen von Amadeu Antonio, den Neonazis am 24. November 1990 in Eberswalde schwer verletzt hatten; er starb wenige Tage nach dem Angriff an seinen Verletzungen. ARI begleitete das Verfahren und machte Öffentlichkeitsarbeit. Nach diesem Vorbild entstanden weitere lokale Initiativen, die ohne staatliche Förderung tätig wurden (vgl. Köbberling 2018: 17). Mitte der 1990er Jahre erarbeiteten ehrenamtlich Engagierte eine Konzeption, die „der TäterInnenfixierung und dem Schweigen der gesellschaftlichen Mehrheit [...] die praktische Solidarität mit den Opfern“ (Porath 2013: 227) entgegensetzen wollte. 1998 entstand daraus in Brandenburg das erste Beratungsprojekt mit dem Namen Opferperspektive, das sich als politisches Projekt definierte und zuerst keine staatlichen Mittel beanspruchte. Nach dem Sprengstoffanschlag im Juli 2000 in Düsseldorf-Wehrhahn, bei dem zehn Menschen auf dem Weg zu ihrem Sprachkurs schwer verletzt wurden, entschloss sich die Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/ Die Grünen, neue Handlungsansätze gegen Rechtsextremismus und Rassismus zu entwickeln. Das Bundesprogramm CIVITAS wurde ins Leben gerufen. Es entstanden in allen ostdeutschen Bundesländern und in Berlin professionelle Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Nach dem Ende der Projektlaufzeit von CIVITAS folgten darauf aufbauende Bundes- und Landesprogramme, die die Förderung der Beratungsprojekte seither absichern. Die Beratungsprojekte setzen sich zum Ziel, Unterstützungsformen zu entwickeln und weiterzuentwickeln, die zu einem angemessenen Umgang mit rechter Gewalt führen. Im Zentrum steht die konsequente Unterstützung von Betroffenen rechter Gewalt. Die Beratungsprojekte waren von Anfang an untereinander vernetzt und entwickeln die Arbeit gemeinsam weiter. 2014 wurden Qualitätsstandards für eine professionelle Beratung und Unterstützung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt verabschiedet. Erarbeitet wurden sie durch Vertreter_innen von ost- und westdeutschen Projekten mit der wissenschaftlichen Begleitung durch das Deutsche Jugendinstitut und gefördert durch weitere Partner wie die Amadeu-Antonio-Stiftung. Die Qualitätsstandards dienen als Grundlage der Arbeit der Beratungsstellen und formulieren die fachlichen Standards.

Im Mittelpunkt steht die Unterstützung von Betroffenen und ihrem sozialen Umfeld bei der Bewältigung der materiellen und immateriellen Angriffsfolgen und die Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit nach einem Angriff. Daneben wurde von Anfang an die Förderung von gesellschaftlichen Aufklärungs-, Sensibilisierungs- und Solidarisierungsprozessen als zentrale Prämisse der Beratungstätigkeit angesehen (Gruppe Opferperspektive 1999). Die Beratungsprojekte verfolgen das Ziel, über die Unterstützung einzelner hinaus „gesellschaftliche Rahmenbedingungen zum Positiven zu verändern, die darauf Einfluss nehmen, dass marginalisierte Gruppen Ziel von Ausgrenzung und Gewalt werden“ (VBRG 2015: 2). Dabei sollen „die Tatfolgen für die Betroffenen, ihre Lebenssituation und ihre Bedürfnisse […] in der Perspektive auf das Problemfeld eine zentrale Rolle“ (ebd.: 2) einnehmen.

2014 wurde der Verband der Beratungsstellen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) gegründet, der als Dachverband die Interessen der Opferberatungsprojekte vertritt, ihren Fachaustausch und die Qualitätsentwicklung und ihren flächendeckenden Aus- und Aufbau koordiniert. So entstanden in den letzten Jahren nach und nach auch in den westdeutschen Bundesländern Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Inzwischen gibt es in fast allen Bundesländern eine Anlaufstelle für Betroffene. Doch nicht überall reichen die zur Verfügung gestellten Ressourcen dafür aus, die Qualitätsstandards des Verbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt zu erfüllen und das gesamte Spektrum der Angebote und Leistungen vorzuhalten. Das zeigt sich zum Beispiel am unabhängigen Monitoring, das in den ostdeutschen Projekten seit 2001 kontinuierlich nach einheitlichen Standards erarbeitet wird. Grundlage für das Monitoring bilden Fallrecherche und Dokumentation. Das Monitoring soll dazu beitragen, das tatsächliche Ausmaß rechter Gewalt öffentlich darzustellen. Mit den gewonnenen Erkenntnissen wollen die Beratungsstellen den gesellschaftlichen Diskurs über Ursachen und Wirkungen rechter Gewalt um die Perspektive der Betroffenen erweitern, die Öffentlichkeit für ihre Situation sensibilisieren und sich für eine Verbesserung der Stellung von Betroffenengruppen in der Gesellschaft einsetzen (ebd.: 17). Die meisten westdeutschen Projekte können jedoch aufgrund fehlender Ressourcen das Monitoring bisher noch nicht realisieren.


Zur Spezifik rechter Gewalt 

Rechte Gewalt basiert auf gesellschaftlich gewachsenen Machtverhältnissen und den ihnen zugrunde liegenden Ideologien. Rechte Gewalt zeigt das Fortwirken des wenig bearbeiteten Kolonialismus und der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. Sie wird auch deutlich in gesellschaftlich weit verbreiteten Ausgrenzungsideologien, z. B. Rassismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus oder in der Ablehnung von LSBTIQ-Personen. Der Angriff gilt in der Regel nicht der angegriffenen Person als Individuum, sondern soll die von den Täter_innen abgelehnte Gruppe treffen. Sie wollen ihre Botschaft auch an andere Zugehörige der angesprochenen Gruppe senden und deutlich machen: „Ihr seid hier nicht gewollt“ (vgl. auch der Beitrag von Perry „Hasskriminalität als Herausforderung für Inklusion und Vielfalt“ in diesem Band).

Zu den erklärten Zielen dieser Form von Gewalt gehört es, Angst zu machen und aus sozialen Räumen zu verdrängen und zu vertreiben. Es kann so weit gehen, dass Menschen ihr Lebensrecht abgesprochen bekommen. Deshalb ist es falsch, bei rechter Gewalt von willkürlicher, zielloser oder jugendtypischer Gewalt zu sprechen, der jede_r zum Opfer fallen kann (Vgl. VBRG 2015: 5). Die von den Täter_innen ausgehende Zuschreibung zu einer bestimmten Gruppe muss nicht dem Selbstbild der angegriffenen Person entsprechen. Die Definitionsmacht darüber übernehmen die Täter_innen.

Die verinnerlichte Abwertung der angegriffenen Person kann auf der Seite der Täter_innen dazu führen, dass die Schwelle zur Anwendung von Gewalt gegen andere Menschen sinkt. Dadurch ist die Tatbegehung mitunter durch eine besondere Brutalität gekennzeichnet.

Die Beratungsstellen unterscheiden verschiedene Betroffenengruppen:

  • von Rassismus Betroffene: z. B. Geflüchtete, Migrant_innen, schwarze Deutsche, Sinti_ze und Rom_nja, Muslim_innen, ausländische Studierende, nicht-weiße Tourist_innen
  • Anhänger_innen von nicht-rechten oder alternativen Jugendkulturen
  • politische Gegner_innen von Rechten: antifaschistische Aktivist_innen und alle, die sich gegen rechts positionieren (z. B. aus Bürgerbündnissen und Kirchen, „Antifas“).
  • von Sozialdarwinismus Betroffene: z. B. wohnungslose Menschen oder Menschen mit Behinderung
  • Menschen, die von der heterosexuellen Norm abweichen: z. B. homo-, inter- und transsexuelle Menschen
  • Jüd_innen

Ergänzend zu den Kategorien, die in den Qualitätsstandards genannt sind, wurden diese wegen aktueller Entwicklungen ausdifferenziert. Die folgenden Kategorien können nun separat aufgenommen werden (vgl. VBRG 2015: 4 f.):

  • gegen Journalist_innen
  • gegen politische Verantwortungsträger_innen

Bei der Zuordnung rechter Gewalt orientieren sich die Beratungsstellen am polizeilichen Definitionssystem der politisch motivierten Kriminalität des BKA, das 2001 durch die Innenministerkonferenz beschlossen wurde und seitdem in Kraft ist. Zuletzt überarbeitet wurde es im Dezember 2016. Dadurch ist eine Vergleichbarkeit mit den behördlich erfassten Zahlen gegeben.2 Bei der Betrachtung und Einschätzung der „Umstände der Tat“ und der „Einstellung der Täter_innen“ ist für die Beratungsstellen die Wahrnehmung der Betroffenen ausschlaggebend.
Im Monitoring erfassen die Beratungsstellen physische Gewalt einschließlich des Versuchs: Körperverletzungen, Tötungsdelikte, Brandstiftungen und Raubstraftaten, Nötigungen, Bedrohungen und zielgerichtete Sachbeschädigungen finden Aufnahme ins Monitoring, wenn sie mit erheblichen Folgen für die Betroffenen verbunden sind.


Folgen rechter Gewalt für die Betroffenen und ihr Umfeld im gesellschaftlichen Kontext

Gewalterfahrungen reißen Menschen aus ihrem Alltag. Für die Betroffenen und für Zeug_innen können sie das Leben plötzlich verändern und in der Folge tiefgreifende Auswirkungen auf das Selbsterleben mit sich bringen. Es kann zu einem Vertrauensverlust gegenüber anderen Menschen und zu Unsicherheitsgefühlen kommen (Vgl. Hartmann 2010: 16). Der gesamte Prozess der Opferwerdung wird als Viktimisierung bezeichnet. Das Erleben der unmittelbaren Tatsituation, die Interaktion der Personen (Täter_innen, Opfer und weitere Anwesende) sowie die direkt mit der Tat in Verbindung stehenden physischen, psychischen und materiellen Folgen werden als primäre Viktimisierung verstanden. Durch (Fehl-)Reaktionen des sozialen Umfeldes, von Strafverfolgungsbehörden, Personen, die medizinische Versorgung leisten und anderen Interaktionspartner_innen kann es zu sekundären Viktimisierungserfahrungen kommen. Wenn sie auftreten, belasten sie die Betroffenen zusätzlich, manchmal sogar schwerer als die primäre Viktimisierung. Von tertiärer Viktimisierung wird gesprochen, wenn es bei einer betroffenen Person zu einer Verfestigung der Opferidentität und dadurch zu einem veränderten Selbstbild kommt. Ein wichtiges Anliegen der Beratungsstellen ist die Stabilisierung der Betroffenen und nach Möglichkeit die Vermeidung weiterer Viktimisierungserfahrungen.

Dass die Gefahr einer sekundären Viktimisierung durch das Handeln der Polizei für Betroffene rechter Gewalt groß ist, konnte die im Jahr 2014 erschienene Studie „Die haben uns nicht ernstgenommen. Eine Studie zu Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei“ aufzeigen. Matthias Quent, Daniel Geschke und Eric Peinelt (2014) erstellten sie im Auftrag von ezra. Die Autoren befragten im Rahmen einer nicht-repräsentativen Studie 44 Betroffene zu ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen nach dem Tatgeschehen.3 Etwa jede zweite befragte Person gab an, sich von der Polizei nicht ernst genommen und nicht als Opfer behandelt gefühlt zu haben. Mehr als die Hälfte der Befragten äußerte den Eindruck, die Polizei sei nicht an der Aufklärung der politischen Tatmotive interessiert gewesen (Quent et al. 2014: 5, 49).

Rechte Gewalt wirkt im Sinne einer Botschaftstat häufig über die direkt betroffene Person hinaus in die Betroffenengruppe, der sie zugehört oder der sie von den Täter_innen zugerechnet wird. Ob vor Ort Angsträume entstehen und es zu kollektiven Viktimisierungen kommt, hängt stark davon ab, wie vonseiten des sozialen Umfeldes, der Politik und der Öffentlichkeit auf die Gewalttat reagiert wird. Wenn die Taten stillschweigend hingenommen oder sogar gutgeheißen werden, es keine Solidarität mit den Betroffenen gibt, ihnen eine Mitschuld zugeschrieben wird, fühlen sich die Angreifer_innen in ihrem Tun bestätigt. Die Gefahr weiterer Angriffe und die Unsicherheit der Betroffenen wird vergrößert und wirkt sich auf die gesamte Betroffenengruppe aus. In sehr zugespitzten Situationen können sich die Angreifer_innen sogar als Vollstrecker_innen eines imaginären Volkswillens verstehen. In ihrer Deutung tun sie das, was andere sich nur nicht zu tun trauen. In großen Gruppen und in aufgeheizter Atmosphäre funktioniert das besonders gut. In Chemnitz war das im Spätsommer 2018 zu beobachten. AfD, PEGIDA, Pro-Chemnitz, Identitäre Bewegung, Hooligans und andere Neonazis nahmen den gewaltsamen Tod eines deutschen Mannes als Anlass, um über soziale Medien Falschmeldungen zu verbreiten und zu hetzen. Schon wenige Stunden nach dem Tod des 35-Jährigen rief die AfD zu einer Gedenkkundgebung auf, der etwa 100 Menschen folgten. Noch am selben Abend zogen Hunderte durch die Straßen, griffen vermeintliche Flüchtlinge an, bedrohten sie und jagten sie durch die Stadt. Es gelang den Akteuren, innerhalb weniger Tage mehrmals eine große Menschenmenge zu mobilisieren, die als wütender Mob durch die Straßen der Stadt zog. Dabei wurden im Beisein der Polizei Hitlergrüße gezeigt, Journalist_innen und vermeintliche Flüchtlinge angegriffen. Gegenproteste, die Rassismus verurteilen und die zum Ziel haben, den Menschen, die von Rassismus betroffen sind, ihre Solidarität zu zeigen, wurden relativ schnell initiiert und bildeten eine Gegenöffentlichkeit zu den rassistischen Demonstrationen.

Einige politisch Verantwortliche, so auch Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen, zeigten als Reaktion auf die Ereignisse eher Verständnis für die Neonazis als für die Menschen, die von der rassistischen Hetze betroffen waren oder sich dagegen wendeten. Rassistische Angriffe wurden von ihm negiert oder kleingeredet. „Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd und es gab keine Pogrome in dieser Stadt“ – das sagte er in seiner Regierungserklärung am 5. September im Landtag.4 Horst Seehofer (CSU), Bundesinnenminister, schwieg mehrere Tage zu den Geschehnissen und schloss sich dann Kretschmers Position an. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und machte die Migration für die Probleme verantwortlich mit der Aussage: „Migration ist die Mutter aller Probleme“5. Martin Dulig (SPD), Vizeministerpräsident in Sachsen, bestätigte, dass es rassistische Hetzjagden gab, und verurteilte diese, ebenso wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD). Eine breit getragene klare Ablehnung der rassistischen Aktionen fehlte zwar in Sachsen und bundesweit, glücklicherweise gab es aber, angeschoben durch solidarische Aktionen aus der Zivilgesellschaft und Künstler_innen, begleitet von kritischen Journalist_innen, eine recht große gesellschaftliche Debatte und dadurch eine Gegenöffentlichkeit zu den rassistischen Demonstationen und Hetzreden.

Generell gilt: Rechte Gewalt richtet sich gegen zentrale demokratische Werte und universell geltende Menschenrechte. Eine offene heterogene Gesellschaft wird von einer größeren Bevölkerungsgruppe infrage gestellt und abgelehnt. Es ist nicht verwunderlich, dass potenziell Betroffene Angst äußern, sich in Chemnitz in der Öffentlichkeit zu bewegen. Hier zeigt sich exemplarisch, wie stark ganze Bevölkerungsgruppen betroffen sein können durch Botschaftstaten. Die fehlende politische Verurteilung, ein Zulassen von Ausgrenzung, Verständnis dafür bis hin zur Legitimation sowie Handlungs- und Haltungsschwierigkeiten auf der Seite der Strafverfolgungsbehörden spielen den rassistisch agierenden Akteur_innen und den Gewalttäter_innen in die Hände und verunsichern die Betroffenen und potenziell Betroffenen zusätzlich.


Möglichkeiten der Unterstützung durch spezialisierte Opferberatungsstellen

Der nun folgende letzte Teil dieses Beitrags bietet eine knappe Auflistung von Arbeitsprinzipien der Beratung. Diese wurden vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt erarbeitet. Sie bilden die Basis der professionellen Beratungsarbeit (vgl. VBRG 2015) und stellen unabdingbare Voraussetzungen für die Arbeit dar:

  • Niedrigschwelligkeit des Angebotes, um Betroffene möglichst gut zu erreichen (proaktiver Ansatz, Zugangswege über Kooperationspartner_innen vor Ort, Freiwilligkeit, aufsuchende Beratung, zeitnaher erster Gesprächstermin, barrierearme Zugangswege zu Räumen und Informationen, Kostenfreiheit, Sprachmittlung bei Bedarf, Beratung unabhängig von Anzeigeerstattung, vertraulich, auf Wunsch anonym)
  • Parteilichkeit prägt die professionelle Haltung der Berater_innen, die von Solidarität und Akzeptanz gegenüber den Betroffenen geprägt ist. In der Beratung stehen die Perspektiven, Bedürfnisse und Interessen der Betroffenen im Mittelpunkt und bilden die Basis für die Entwicklung von Handlungsstrategien. Auf Wunsch unterstützen die Beratungsstellen Betroffene bei der Wahrnehmung und Durchsetzung ihrer Interessen auch öffentlich.
  • Unabhängigkeit von staatlichen Einrichtungen und politischen Parteien
  • Lösungs-, Ressourcen- und Auftragsorientierung heißt, der Beratungsprozess orientiert sich an den Absprachen und an der Auftragsklärung, die mit den Betroffenen gemeinsam erarbeitet werden und eine wichtige Grundlage des Beratungsprozesses darstellen.
  • Differenzsensibilität und Intersektionalität der Berater_innen setzt die Bereitschaft zur kritischen Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Verortung vor dem Hintergrund von Machtverhältnissen und ihren Umgang damit voraus.

Schlüsselprozesse der Beratung

Die Beratungsstellen legen großen Wert darauf, auch Betroffene mit ihrem Angebot zu erreichen, für die Zugangsbarrieren bestehen und die einen großen Unterstützungsbedarf haben.

Die Betroffenen bekommen den Raum, ihr Anliegen zu äußern, über eigene Erfahrungen zu berichten und ihre Erwartungen, Bedarfe und Wünsche an die Berater_innen zu formulieren. Sie bestimmen dabei jederzeit selbst, was sie berichten und welche Schritte sie gehen möchten. Im Rahmen eines systemischen, ganzheitlichen und interdisziplinären Ansatzes erhalten die Betroffenen Unterstützung bei der Bewältigung der Angriffsfolgen. Der gesamte Beratungsprozess kann sich sehr zeitintensiv gestalten. Nicht nur die Begleitung des Straf- und Ermittlungsverfahrens – von der Anzeigenerstattung bis zur Aussage vor Gericht – erfordert eine langfristige Begleitung. Auch mögliche posttraumatische Belastungsstörungen können einen über Monate oder Jahre andauernden Beratungskontakt begründen. Die Betroffenen haben idealerweise über den gesamten Beratungsprozess hinweg eine feste Ansprech- und Vertrauensperson im Team (VBRG 2015: 13ff.).

Folgende stichwortartig aufgeführten Schlüsselprozesse können Bestandteil eines Beratungs- und Unterstützungsprozesses sein:

1. Fallrecherche: proaktive Herangehensweise, um Betroffenen ein Unterstützungsangebot machen zu können

2. Beratung und Unterstützung: für Betroffene, Angehörige, Freund_innen, Zeug_innen

Mögliche Unterstützungen

  • Krisenintervention
  • (psychosoziale) Beratung
  • Beratung zur Anzeigeerstattung
  • Begleitung zu Polizei und Staatsanwaltschaft
  • Beratung zum Ablauf des Strafverfahrens, zu Rechten und Pflichten von Zeug_innen und hinsichtlich zivilrechtlicher Ansprüche
  • Begleitung zum Gerichtsprozess, Vor- und Nachbereitung
  • Begleitung zu Behörden, Ärzt_innen, Psycholog_innen, Psychotherapeut_innen
  • (Weiter-)Vermittlung zu spezialisierten Einrichtungen und Beratungsstellen
  • Recherchen, Informationen und Analysen zum weiteren Grad der Bedrohung
  • Hilfe bei der Beantragung von Entschädigungsleistungen und weiterer finanzieller Hilfen
  • Vermittlung, Begleitung zu und Finanzierung von Fachanwält_innen
  • Beratung zum Umgang mit Medien und Unterstützung bei Anfragen von Journalist_innen in der fallbezogenen Öffentlichkeitsarbeit
  •  

3. Lokale Intervention: zielt vor Ort auf die Sensibilisierung für die Situation von Betroffenen(-gruppen), will ihre Position stärken und Solidarisierung befördern; Voraussetzung: wenn Betroffene das Bedürfnis nach einer öffentlichen Ächtung der Tat und Solidarisierung haben und ihre Lebenssituation vor Ort verbessern wollen

4. Netzwerkarbeit

5. Monitoring und Öffentlichkeitsarbeit

 

 

1 Vor 1990 wurden rechts motivierte Gewalttaten nicht einheitlich erfasst. Diese Erfassung begann erst nach den Mordanschlägen und Pogromen der 1990er Jahre.

2 Sie besagt: „Der wesentliche Kerngedanke einer ‚rechten‘ Ideologie ist die Annahme einer Ungleichheit/ Ungleichwertigkeit der Menschen.“ Als PMK-rechts zählt demnach, „wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie sich gegen eine Person wegen ihrer/ihres zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung und/oder Engagements, Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialen Status, physischen und/oder psychischen Behinderung oder Beeinträchtigung, sexuellen Orientierung und/oder sexuellen Identität oder äußeren Erscheinungsbildes, gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht [...].“ (Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2016).

3 Die Befragten wurden als „Nicht-Rechte“, als „politische Gegner_innen“ und aus „Rassismus“ angegriffen.

4

Vgl. www.tagesspiegel.de/politik/michael-kretschmer-zu-chemnitz-nichts-verstanden-setzen/23000258.html [09.11.2018].

5

Vgl. www.tagesschau.de/inland/seehofer-migration-mutter-aller-probleme-101.html [25.10.2018].

 

 

Literatur


Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz [Hrsg.] (2016): Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität. Berlin.


Gruppe Opferperspektive (1999): Die Opfer in den Blickpunkt rücken. In: Mecklenburg, Jens [Hrsg.]: Was tun gegen rechts. Elefanten Press: Berlin, S. 46–57.


Hartmann, Jutta (2010): Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden. Opferhilfe als Handlungsfeld Sozialer Arbeit. In: ado e. V./Hartmann, Jutta [Hrsg.]: Perspektiven professioneller Opferhilfe. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Handlungsfelds. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, S. 9–38.


Köbberling, Gesa (2018): Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt. Herausforderungen Sozialer Arbeit zwischen individueller Hilfe und politischer Intervention. transkript Verlag: Bielefeld.


Porath, Judith (2013): Beratung für Betroffene rechter Gewalt. Spezifik des Arbeitsansatzes und des Beratungskonzeptes. In: Opferperspektive e. V. [Hrsg.]: Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt. An der Seite der Betroffenen beraten, informieren, intervenieren. Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster, S. 227–242.


Quent, Matthias/Geschke, Daniel/Peinelt, Eric (2017):

Die haben uns nicht ernst genommen. Eine Studie zu Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei. Online: www.verband-brg.de/images/Publikationen/EZRA-VBRG-Studie-Die_haben_uns_nicht_ernst_ genommen_WEB.pdf [28.08.2018].


Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V. (2015):

Qualitätsstandards für eine professionelle Unterstützung. Online: www.verband-brg.de/images/qs.pdf [01.09.2018].