Rassismuskritik und Antisemitismuskritik – Geschichte einer Entfremdung

In diesem Beitrag geht es um das bisweilen schwierige Verhältnis zwischen Rassismus- und Antisemitismuskritik. Ausgehend von einem Text des Soziologen und Antisemitismusforschers Detlev Claussen aus dem Jahr 1994, in dem eine polemische Kritik des Antirassismus und seiner Theoriebildung in Deutschland nach der Wende entfaltet wird, sollen zentrale Konfliktlinien zwischen den jeweiligen Disziplinen bzw. aktivistischen Milieus nachgezeichnet werden. Dabei wird der gewissermaßen um Versöhnung bemühte Versuch unternommen, erinnerungspolitische Auseinandersetzungen und damit zusammenhängende Konflikte um (öffentliche) Aufmerksamkeit als mögliche Erklärungen für (wechselseitige) Vorbehalte und Skepsis in Anschlag zu bringen.

Einleitung

Vielleicht sollte ich vorab eine Einschränkung vornehmen: Der Titel meines Beitrags – Geschichte einer Entfremdung – klingt ein wenig dramatisch. Wahrscheinlich ist es für viele Forscher:innen und Aktivist:innen eine Selbstverständlichkeit, Rassismus und Antisemitismus gemeinsam in den Blick zu nehmen und zu bekämpfen. Zudem gibt es einige Forscher:innen, die dezidiert Brücken zwischen den jeweiligen Disziplinen zu bauen versuchen (Arnold 2018; Cheema 2017; Messerschmidt 2008; Shooman 2015). Und doch: Wer sich im Feld tummelt, wird kaum ignorieren können, dass „Antirassismus und Anti-Antisemitismus nicht nur auseinanderzutreten, sondern sich gegebenenfalls auch entgegenzustehen vermögen“ (Diner 2019, 486). Die Frage stellt sich, wie es zu diesem Entgegenstehen gekommen ist und ob es jemals anders war. An dieser Stelle scheint es mir sinnvoll zu sein, eine zweite Einschränkung vorzunehmen: Ich werde diese Frage hier keineswegs auch nur annähernd erschöpfend diskutieren können. Vielmehr werde ich mich mehr oder weniger ausschließlich mit einem Text befassen, und zwar mit dem 1994 erschienenen Essay „Was heißt Rassismus?“ des Soziologen und Gesellschaftstheoretikers Detlev Claussen. In diesem Sinne behandelt mein Beitrag lediglich einen Ausschnitt des (unterstellten) Entfremdungsprozesses, der aber – wie ich zu zeigen versuchen werde – in gewisser Weise symptomatisch für diesen Prozess ist1. Claussen nämlich – dies sei hier vorausgeschickt – kommt eigentlich aus der Antisemitismusforschung. In „Was heißt Rassismus?“ formuliert er Vorbehalte und Skepsis gegenüber rassismuskritischer Theoriebildung und antirassistischem Aktivismus, die meines Erachtens letztlich auf Aufmerksamkeitskonflikte zurückzuführen sind bzw. auf die Sorge, dass Rassismus mehr öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwerden könnte als Antisemitismus.

Es gab zwei Anlässe, die mich dazu bewogen haben, mich intensiver mit Claussens Text auseinanderzusetzen. Auf einem Workshop zum Potenzial und zu den Fallstricken des Ressentiment-Begriffs, den mein Kollege Mathias Berek und ich im Jahr 2021 im Rahmen des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) organisierten, entspann sich am Ende eine Diskussion über das Für und Wider einer rassismuskritischen Perspektive. Genauer gesagt ging es um die Frage, ob und inwiefern die Analysekategorie Rassismus brauchbar ist – unter anderem wurden Beliebigkeit und Moralisierung diagnostiziert. Ein FGZ-Kollege, der an der Diskussion beteiligt war, hielt – wir waren alle im Zoom – das Buch „Was heißt Rassismus?“ in die Kamera, quasi als gewichtige Referenz, die der Diagnose Legitimität verschaffen sollte2. Einige Monate nach unserem Workshop wiederum erschien die Erstausgabe der Hallischen Jahrbücher, eine Zeitschrift, die an die Mitte des 19. Jahrhunderts von Arnold Ruge herausgegebene gleichnamige Zeitschrift anschließt. Der Titel der Ausgabe heißt „Die Untiefen des Postkolonialismus“ und in seinem Einführungstext nimmt der Herausgeber der Ausgabe, Jan Gerber, ebenfalls auf den Claussen-Text in affirmativer Weise Bezug.

Es mag dem Zufall geschuldet gewesen sein, dass mir Claussens Text gleich zwei Mal begegnete. Und gewiss wäre es übertrieben, hieraus eine besondere Bedeutung bzw. irgendeine Art von Erkenntnis ableiten zu wollen. Dennoch haben die gegenwärtigen Bezugnahmen auf einen beinahe 30 Jahre alten Essay mein Interesse geweckt: Worauf genau wird hier Bezug genommen? Woraus speist sich die Skepsis gegenüber rassismuskritischer Theoriebildung? Handelt es sich bei Claussens Argumentation gewissermaßen um eine Blaupause für diese Skepsis? Wie ist der Status dieser Argumentation hinsichtlich der Entfremdung von Antisemitismus- und Rassismuskritik einzuordnen? Was macht sie heute so attraktiv? Meine folgenden Überlegungen werden um diese Fragen kreisen. Auffallend jedenfalls ist, dass die affirmativen Bezugnahmen auf Claussens Text zu einer Zeit stattfinden, in der – nach den Anschlägen von Halle und Hanau sowie nach der Ermordung des Afro-Amerikaners George Floyd durch US-amerikanische Polizisten – rassismuskritische Positionen Konjunktur haben. In gewisser Weise ähnelt die gegenwärtige Dynamik der Zeit, in der Claussen „Was heißt Rassismus?“ publizierte. Denn die Jahre nach der Wende waren, darauf werde ich gleich zurückkommen, von einer Explosion rassistischer Gewalt geprägt sowie von dem Versuch, das Phänomen Rassismus kritisch-analytisch zu erfassen. Auffallend ist außerdem, dass Claussen (wie auch Jan Gerber) stark von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule geprägt ist. Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der Kritischen Theorie um ein jüdisch konnotiertes Denken handelt, bei dem die Erfahrung von Auschwitz im Zentrum steht, und wenn man außerdem davon ausgeht, dass für die Genese der kritischen Rassismustheorie eher die Erfahrung von Kolonialismus und Sklaverei prägend war (und ist), dann wird vielleicht ersichtlich, dass sich die Entfremdung zwischen Rassismus- und Antisemitismuskritik auch auf jeweils spezifische Erfahrungen bzw. auf die jeweilige öffentliche Aufmerksamkeit für diese Erfahrungen zurückführen lässt. Möglicherweise, so meine Hypothese, die ich im Folgenden zu plausibilisieren versuchen werde, speist sich Claussens Skepsis gegenüber rassismustheoretischen Ansätzen vor allem aus der Sorge um den Status der Erinnerung an Auschwitz bzw. aus der Angst, diese Erinnerung, die sich Anfang der 1990er-Jahre nach Jahrzehnte andauernden erinnerungspolitischen Kämpfen auch staatsoffiziell allmählich etabliert zu haben schien, könne wieder verblassen angesichts der Konjunktur des Rassismus und der damit einhergehenden rassismuskritischen Aufmerksamkeit für die Geschichte von Kolonialismus und Sklaverei.

Rassismus in der Wendezeit

Es ist nicht ganz leicht, Claussens vor sich hin mäandernden Text zusammenzufassen und zentrale Aussagen zu identifizieren. Es scheint, als habe er viel unterbringen und gegen verschiedene Entwicklungen und Tendenzen anschreiben wollen. So grenzt er sich zum Beispiel von „offiziellen Verharmlosungen und Bagatellisierungen von politisch legitimierten Gewaltakten gegen Fremde, Ausländer und Asylsuchende“ ab (Claussen 1994a, 1–2). Zugleich kritisiert er „propagandistische Übertreibungen von antirassistischen Aktivisten“ (ebd., 1). Sein Ausgangspunkt jedenfalls ist die Einschätzung, der Begriff Rassismus werde inflationär gebraucht, was eine Moralisierung öffentlicher politischer Debatten zur Folge habe. Und es ist vor allem der Antirassismus und seine Theorieproduktion, die im Fokus der Aufmerksamkeit von „Was heißt Rassismus?“ stehen.

Der Text erschien 1994. Wie erwähnt waren die Jahre seit der Wende von einer Explosion rassistischer Gewalt in Deutschland geprägt. Claussen selbst nimmt hierauf Bezug. Allerdings hinterfragt er den rassistischen Charakter dieser Gewalt. So heißt es an einer Stelle:

Die Gewalttäter ahnen, wenn sie nach ihren Taten befragt werden, dass die Gesellschaft den Reiz der Gewalt, von dem die Unterhaltungsindustrie lebt, nicht begründungslos hinnimmt. Deswegen wählen die Jugendlichen treffsicher vor den Kameras und Mikrophonen die größtmögliche verbale Aggression: Sie identifizieren sich mit Nationalsozialismus und Rassismus, um die gesellschaftliche Autorität hilflos zu erleben. Mit Naziparolen und Symbolen sichern sie sich eine optimale Medienpräsenz. Das macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Die Antirassisten und die um das nationale Image besorgte Öffentlichkeit macht [sic!] aus Gewalttätern, die Rassisten und Nazis spielen, Rassisten und Nazis, indem sie ihre Rationalisierungen der Gewalt teilt [sic!]. Zu Hitlers Enkeln gemacht fühlen sie sich fast so groß und bedeutend wie Hitler.“ (Ebd., 21–22)

Bemerkenswert ist, dass Claussen Rassismus zuvor als „Legitimationsmuster von unmittelbaren Gewaltverhältnissen“ bezeichnet hatte (ebd., 15). Für die Pogrome und Anschläge der Wendezeit, die von dem Schlachtruf ‚Deutschland den Deutschen, Ausländer raus‘ begleitet wurden – Claussen zitiert nur den ersten Teil der Parole, hier würde der Anspruch eingeklagt, dazuzugehören –, soll dieser Zusammenhang offenbar nicht gelten (ebd., 21). Bemerkenswert ist außerdem, dass Claussen – mit Blick auf den Nationalsozialismus – die gewaltsame Herstellung rassischer Homogenität als „negative Utopie“ des Rassismus beschreibt (ebd., 4). Auch die rassistische Konjunktur der Wendezeit zeugt doch von dieser negativen Utopie, von dem Versuch der Herstellung rassischer Homogenität. Erinnert sei an die Rede von den sogenannten national befreiten Zonen. Zudem sei daran erinnert, dass im Zuge des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen 1992 das Asylrecht mehr oder weniger kassiert wurde, dass also der Wunsch nach Abschließung und Homogenität seine politisch-rechtliche Entsprechung fand, flankiert von Überfremdungsdiskursen, die von weiten Teilen des konservativen politischen Milieus sowie von Teilen der Medien geschürt wurden (Prenzel 2017). Claussen übersieht diese Verbindung. Und es bleibt rätselhaft, warum genau er die Analysekategorie Rassismus bei der Einordnung der Pogrome und Anschläge der Wendezeit ausgespart wissen will.

Rassismuskritik in der Wendezeit

Die frühen 1990er-Jahre waren aber nicht nur von einer Konjunktur rassistischer Gewalt geprägt, sondern auch vom Import rassismuskritischer Theorie insbesondere aus Großbritannien und Frankreich (Bojadžijev 2015). Zwar reicht die Genese dieses Imports – genauer gesagt müsste man von Austausch statt von Import sprechen – bis in die 1970er-und 1980er-Jahre zurück, doch stellte sich Anfang der 1990er-Jahre das Problem mit neuer Dringlichkeit: Wie lassen sich rassistische Macht- und Herrschaftsverhältnisse und die entsprechenden In- und Exklusionsdynamiken erkennen, beschreiben und analysieren? Dabei ging es auch um den Versuch, linke Gesellschaftskritik zu aktualisieren, und zwar ausgehend von der Einsicht, dass die Analysekategorie Klasse nicht ausreicht, um zum Beispiel die globale Arbeitsteilung oder die spezifische Dynamik der Unterschichtung auf den Arbeitsmärkten der ehemaligen Kolonialmächte zu erklären. Kurz gesagt ging es darum, Rasse, Klasse und Geschlecht als miteinander verwobene und voneinander abhängige Kategorien zu denken, die Prozesse der Vergesellschaftung strukturieren.

Claussens Text liest sich wie eine Intervention gegen diesen Theorie-Import. Er bezeichnet Antirassismus als „Kümmerform von Gesellschaftskritik“ (Claussen 1994a, 15). Er spricht von einer „antirassistische[n] Ideologie“, die sich für westliche, ehedem antiimperialistisch orientierte Linke nach dem Ende des Kalten Krieges als „Rettungsanker“ angeboten habe, und die „nicht die gesellschaftlichen Widersprüche des alternativlos gewordenen, aber veränderten Kapitalismus analysiert, sondern als Fahne und Erkennungssignal für die ‚Trotz alledem!‘-Aufrechten funktioniert“ (ebd.). Und er moniert, dass „in antirassistischer Absicht Geschichte, Gesellschaft und Wissenschaft des kapitalistischen Weltsystems, also die gesamte Moderne, als rassistisches System“ rationalisiert werde (ebd., 8). Es ließen sich noch weitere Textstellen zitieren, die in ähnlicher Weise polemisch und pauschalisierend sind. Allerdings scheint mir die Frage interessanter zu sein, warum sich Claussen zu einer solchen Polemik veranlasst sah und wie sich der grundsätzliche Vorbehalt gegenüber der Rassismustheorie möglicherweise erklären lässt.

Kritische Theorie vs. Cultural Studies

Wie bereits erwähnt, ist Claussen, der als junger Student bei Adorno gelernt hat, stark von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule geprägt (Aschrafi und Später 2021). Vielleicht kann man sagen, dass er sich dem Fortleben der Kritischen Theorie nach dem Tod ihrer Gründer verschrieben hat. Zumindest nehmen seine zentralen Publikationen, zum Beispiel „Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des Antisemitismus“ und „Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie“, stark auf die Hauptwerke und -denker der Frankfurter Schule Bezug (Claussen 1994b und 2003). Auch in „Was heißt Rassismus?“ zeigt sich die Bedeutung der Kritischen Theorie für sein Denken und auch für die Vorbehalte gegenüber der Rassismustheorie. So wendet er sich u. a. gegen den Rassismustheoretiker Stuart Hall, dem er vorwirft, die ideologiekritischen Arbeiten Horkheimers und Adornos nicht berücksichtigt zu haben (Claussen 1994a, 8). Zudem kritisiert er – ich hatte es bereits zitiert –, dass Hall die gesamte Moderne als rassistisches System konzipiere. An anderer Stelle ist die Rede von einer „Identifikation von Rassismus, Kolonialismus, Universalismus und Aufklärung“ bzw. von einer „linken Generalabrechnung mit der Aufklärung als angeblicher Rechtfertigungsideologie imperialistischer Herrschaft“ (ebd., 16 und 17). Claussen entgegnet mit einem abgewandelten Adorno-Zitat: „Den Rassismus kann nicht bekämpfen, wer zur Aufklärung sich zweideutig verhält“ (ebd., 17).3

Hall, dessen Texte Anfang der 1990er-Jahre in deutscher Übersetzung vom Hamburger Argument-Verlag publiziert wurden, war ein wichtiger Vertreter der Cultural Studies. Das Verhältnis zwischen Kritischer Theorie und Cultural Studies wiederum lässt sich durchaus als angespannt bezeichnen. Douglas Kellner zum Beispiel resümiert, die (Sub-)Disziplin der Cultural Studies „has tended to either disregard or caricature in a hostile manner the critique of mass culture developed by the Frankfurt school“ (Kellner 2004). Gleichwohl gibt es laut Kellner zahlreiche Überschneidungen zwischen den beiden Ansätzen, die sich bestenfalls wechselseitig ergänzen könnten (ebd.). Ähnlich argumentiert Rainer Winter, der betont, dass sich zwar unterschiedliche Perspektiven auf die Massen- oder Populärkultur ausgebildet hätten, deren gemeinsam geteilte Grundlage aber „eine kritische Einschätzung der Kultur- und Medienwelt“ sei (Winter 1999, 35). Vereinfacht gesagt geht es aufseiten der Kritischen Theorie darum, Massenkultur im Sinne eines Verblendungszusammenhangs in den Blick zu nehmen, das heißt als alle Bereiche des Lebens durchdringende Macht- und Herrschaftsstruktur, während die Cultural Studies eher die Aneignungspraxen insbesondere von subalternen Akteur:innen fokussieren und nach Subversions- und Widerstandspotenzialen fragen (Adorno/Horkheimer 1988; Fiske 1999).

Stuart Hall jedenfalls hat durchaus auf die Kritische Theorie Bezug genommen, wenn auch sporadisch. In einem Interview zum Beispiel spricht er von einer „schreckliche[n] Ironie“, die darin bestehe, „dass innerhalb des Kerns der Moderne trotz des Fortschritts, trotz der technologischen Entwicklung und trotz unserer Mobilität durch die dauernde Vervielfältigung der sozialen Unterschiede die Grundstrukturen von Rasse fortgeschrieben werden“ (Burgmer 1999, 153). Sodann verweist er auf Adorno, der von einer „‚dunklen Seite‘ der Moderne“ gesprochen habe (ebd.). Schließlich erklärt Hall: „Was mich an Adorno allerdings erstaunt, ist, dass er in dieses Paradigma Fragen des Rassismus, des Kolonialismus und des ‚außereuropäischen Anderen‘ nicht mit eingeführt hat“ (ebd.). Unabhängig davon, ob Hall Adorno hier akkurat wiedergibt und ob er möglicherweise das Potenzial von dessen Denken auch für rassismuskritische Perspektiven verkennt, scheint mir diese Bezugnahme durchaus von Bedeutung zu sein. Zum einen sperrt sie sich gegen Claussens Lesart, bei der Rassismustheorie und -kritik handele es sich um eine Generalabrechnung mit der Aufklärung4. Zum anderen wirft sie die Frage nach dem Verhältnis zwischen historischen Erfahrungen und theoretischen Modellen bzw. Denkansätzen auf. Genauer gesagt geht es um die Frage, ob und inwiefern bestimmten Formen von Gesellschaftskritik eine spezifische Erfahrungsdimension eingeschrieben ist, was möglicherweise dazu führt, dass andere (historische) Erfahrungen nicht abgebildet werden und entsprechend außen vor bleiben. Hierauf werde ich sogleich zurückkommen.

Claussens Vorbehalt gegenüber Hall, der sich auch in dem Vorwurf ausdrückt, dieser trage seine Analysen in der „geschwollenen Sprache des akademischen Marxismus“ vor, lässt sich also darauf zurückführen, dass zwischen unterschiedlichen theoretischen Ansätzen und Positionen mitunter Konfliktdynamiken bestehen (Claussen 1994a, 12). Möglicherweise spielt auch eine Rolle, welche Form von Gesellschaftskritik gerade Konjunktur hat, ob man sich mit seiner eigenen theoretischen Sozialisation und dem entsprechenden Wissen in der Offensive oder in der Defensive wähnt. Letztlich denke ich aber, dass in dem Konflikt zwischen jeweiligen theoretischen Perspektiven noch etwas anderes mitschwingt. Und wenn ich oben geschrieben habe, dass sich Claussen möglicherweise dem Fortleben der Kritischen Theorie verschrieben hat, so wäre hinzuzufügen, dass es dabei auch um das Fortleben eines jüdischen Erbes geht.

Theorie und Erfahrung: Holocaust und Kolonialismus

Mit Blick auf u. a. Hall konstatiert Claussen, dass die intellektuellen Folgen der Rassismuskritik bzw. des Antirassismus „verheerend“ seien: „Rassistische Vorurteile und Auschwitz werden als unumstößlich letzte Beweise eines mindestens fünfhundertjährigen Irrwegs westlicher Zivilisation seit Kolumbus‘ Ankunft in Amerika 1492 genommen. Die intellektuelle Kritik des kapitalistischen Systems hat sich unterderhand fundamentalisiert.“ (Ebd., 8) Meines Erachtens drückt sich hier auch die Sorge aus, dass die spezifische Erfahrung des Holocaust nivelliert werden könnte. Dazu passt, dass die Kritische Theorie wesentlich von jüdischen Verfolgten des Nationalsozialismus geprägt wurde und die Konfrontation mit oder das Wissen um Auschwitz der Theorie gewissermaßen eingeschrieben ist. Dazu passt vielleicht auch, was der postkoloniale Theoretiker Robert Young mal über den Poststrukturalismus gesagt hat, der sowohl die Cultural Studies als auch die postkoloniale Rassismuskritik prägt. Young argumentiert, dass das konstituierende Ereignis für die Entstehung des Poststrukturalismus weniger die Revolte des Pariser Mai 1968 gewesen sei, sondern der algerische antikoloniale Befreiungskampf. Er verweist auf paradigmatische Denker:innen wie Derrida, Althusser, Lyotard und Cixous, die entweder in Algerien geboren wurden und aufgewachsen sind oder aber in den Krieg zwischen Frankreich und der algerischen Befreiungsbewegung involviert waren. Und er kommt auf das Verhältnis zwischen Poststrukturalismus und Kritischer Theorie zu sprechen:

If for the Frankfurt School the problem to be dealt with was the relation of the phenomena of fascism, and particulary Auschwitz, to the ideals of the enlightment and the progress of reason, for the French poststructuralists the historical perspective was similary long. But it comprised, rather, a history of the West in which fascism was itself merely a symptom, and included not only the history of European imperialism but also the defeats of the European colonial powers […]. From this point of view the French have never regarded fascism as an aberration.“ (Young 1996, 8)

Gewiss, es besteht die Gefahr, die jeweiligen theoretischen Ansätze zu vereinheitlichen und voneinander abzuschirmen, wenn man sie mit der Dimension von bestimmten Erfahrungen in Verbindung bringt. Und doch: Ließe sich sagen, dass hier unterschiedliche Theoriegebäude aufeinanderprallen, weil sich in ihnen jeweils spezifische Erfahrungen abgelagert haben (auf der einen Seite die Kritische Theorie mit der Erfahrung von Auschwitz, auf der anderen die poststrukturalistisch-postkoloniale Theorie mit der Erfahrung von kolonialer Gewalt und antikolonialem Widerstand)? Vor dieser Folie jedenfalls wird vielleicht verstehbar oder wenigstens nachvollziehbar, wogegen Claussen anschreibt. Er scheint getrieben von der Sorge vor dem Verlust des jüdischen Erbes bzw. davon, dass das Wissen um die Spezifik der Erfahrung von Auschwitz verloren gehen könnte.

Schluss

So gesehen ist „Was heißt Rassismus?“ hochaktuell. Und es ist kein Zufall, dass sich Jan Gerber in den Hallischen Jahrbüchern in affirmativer Weise auf diesen Text bezieht. Bezeichnend ist, dass Gerber mit ähnlichen Unterstellungen wie Claussen operiert. Zudem ist auch sein Text von Polemik und einem denunziatorischen Grundrauschen geprägt. Das ist in hohem Maße ärgerlich, zum Beispiel wenn die postkoloniale Kritik zu einem „der ideologischen Begleitinstrumente des Konkurrenzkampfs auf dem Weltmarkt“ mutiert und das „westliche Bekenntnis zum Postkolonialismus“ zu einem „Anschmiegen an die Macht von morgen“ (Gerber 2021, 30 und 43). Allerdings drückt sich auch in Gerbers Text eine Sorge aus. So äußert er in Anlehnung an Dan Diner und mit Blick auf die 2020 geführte Debatte über den postkolonialen Philosophen Achille Mbembe die Befürchtung, dass „die Erinnerungszeit des Holocaust im Vergehen begriffen ist“ (ebd., 29). Ich denke, wenn wir die Entfremdungsdynamik zwischen Rassismus- und Antisemitismuskritik durchbrechen wollen, gilt es, diese Sorgen ernst zu nehmen. Zugleich gilt es, die jeweilige Spezifik der (historischen) Erfahrung und der daraus resultierenden Perspektiven und Weltsichten anzuerkennen. Das würde aber auch heißen, sich mit Empathie zu begegnen und dem Theater der Polemik eine Pause zu gönnen.

 

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1    Es gibt verschiedene Spuren, denen man im Sinne des Nachvollzugs der Entfremdungsgeschichte nachgehen könnte: der Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser:innen und die jeweilige Parteinahme und Empathie-Verteilung in rassismuskritischen wie in antisemitismuskritischen Kreisen (Ullrich 2013); die jeweils spezifischen theoretischen und konzeptionellen Grundannahmen von Rassismus- und Antisemitismuskritik sowie sich daraus ergebende Differenzen (Biskamp 2019); die Debatte über den sogenannten Neuen Antisemitismus, wobei insbesondere Muslime:a und Migrant:innen als Träger:innen von Antisemitismus in den Blick rücken, was wiederum nicht loszulösen ist von der Konjunktur des anti-muslimischen Rassismus (Heilbronn/Rabinovici/Sznaider 2019); die Genese der Neuen Linken seit den späten 1960er-Jahren und insbesondere des antizionistischen Anti-Imperialismus (Edthofer 2017; Haury 2019).

2    Das Buch versammelt Ausschnitte verschiedener Klassiker sowohl aus dem Kontext der Rassetheorie bis 1945 als auch aus der rassismuskritischen Debatte nach 1945. Die Ausschnitte sind jeweils mit einem Kommentar von Detlev Claussen versehen. Vorangestellt ist ein gleichnamiger Essay, um den es hier gehen soll. Im Rahmen regelmäßig stattfindender Lektüre-Sitzungen am Berliner Standort des FGZ haben wir auch den Claussen-Text diskutiert. Ich danke meinen Kolleg:innen Maria Alexopoulou, Sina Arnold, Mathias Berek und Yael Kupferberg für wichtige Anregungen und Einsichten.

3    Das eigentliche Zitat lautet: „Den Antisemitismus kann nicht bekämpfen, wer zur Aufklärung sich zweideutig verhält“ (Adorno 1986, 369).

4    Um nicht missverstanden zu werden: Es geht hier nicht darum, Rassismustheorie grundsätzlich gegenüber Kritik zu immunisieren. Allerdings sind Claussens inhaltliche Vorwürfe derart pauschal geraten, dass man sie kaum ernst nehmen kann. Neben Hall kritisiert er Robert Miles und Etienne Balibar (auf alle drei Denker nimmt er lediglich sehr kursorisch Bezug). Sie vereint, dass sie dem Rassismus hinsichtlich der Genese und der Verfasstheit der kapitalistischen Moderne durchaus zentrale Bedeutung zumessen. Entsprechend setzen sie sich auch kritisch mit der Aufklärung und den hier angelegten kolonial-rassistischen Wissensformationen auseinander. Daraus abzuleiten, es werde eine Generalabrechnung mit der Aufklärung vorgenommen bzw. werde die Aufklärung mit Kolonialismus und Rassismus in eins gesetzt, erscheint nicht zuletzt deshalb absurd, da sich Hall, Miles und Balibar gleichermaßen in einer linken, insbesondere von Marx geprägten und somit durchaus aufklärerischen Tradition verorten.

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