Einleitung – Rassismus in Institutionen1
Die Auseinandersetzung mit Rassismus hat in den letzten Jahren auch in Deutschland deutlich an Fahrt aufgenommen. So wie amerikanische Debatten und Konzepte der kritischen Rassismusforschung und race theory den Weg nach Deutschland fanden, führten verschiedene Ereignisse, speziell die Erkenntnisse aus den NSU-Prozessen bis hin zu einer Serie von Anschlägen in der allerjüngsten Vergangenheit, für die eine rassistische Motivation offensichtlich wurde, in Teilen der deutschen Bevölkerung und bei einer steigenden Zahl von Politiker:innen zu einer Sensibilisierung für das Thema Rechtsextremismus und Rassismus2. So wurde die rechtsextreme und rechtspopulistische Strategie der Mobilisierung über Rassismus erkennbar, die in ethnozentrisches und nationalistisches Denken eingeschrieben ist (Balibar und Wallerstein 1990; Hall 2018; Messerschmidt 2018). Parallel gelangten bislang nur unter Historiker:innen und in Nichtregierungsorganisationen, die der kritischen Rassismusforschung verbunden sind, diskutierte Problemlagen der deutschen Erinnerungskultur in den öffentlichen Diskurs. Dazu zählen die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte und rassistische Diskriminierung in und durch Institutionen des Alltagslebens (Attia und Keskinkilic 2018; Lutz und Gawarecki 2005; Arndt et al. 2022). Diese deutschen Entwicklungen verliefen nicht im luftleeren Raum. Befunde der Agency for Fundamental Human Rights (FRA) oder der European Commission against Racism and Intolerance (ECRI) identifizierten Rassismus als grundsätzliches Problem in Europa – und damit auch in Deutschland. Internationale und nationale Umfragestudien hatten ja bereits länger über die Verbreitung von Vorurteilen und Vorstellungen sozialer Ungleichwertigkeit sowie Diskriminierungserfahrungen von Minderheiten berichtet (z. B. Beigang et al. 2017; Decker und Brähler 2020; Pickel et al. 2019; Zick et al. 2021). Diese Erkenntnisse einer stetigen Existenz von Vorurteilen, Ressentiments und Rassismus nahm 2017 der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus auf und markierte die hohe Relevanz der Bekämpfung von Rassismus für die Demokratie in Deutschland.
Neben dieser erhöhten Aufmerksamkeit für den Begriff und das Phänomen Rassismus rückte die Frage nach einer Differenzierung rassistischer Phänomene stärker in den Blick. Speziell mit Bezug auf Übergriffe der Polizei in den USA, aber auch aufgrund wiederkehrender Hinweise von Minderheitenvertreter:innen auf systematische Ungleichbehandlungen und Rassismus in Behörden und öffentlichen Institutionen in Deutschland (Arndt et al. 2022) wurde die Frage formuliert, inwieweit nicht nur ein individueller, von Einzelpersonen ausgehender Rassismus beobachtet werden muss, sondern ein struktureller, in die Gesellschaft eingetragener, übergreifender und tradierter Rassismus sowie ein institutioneller Rassismus, der sich in den Institutionen des Staates als Struktur und Kultur verankert hat (El-Mafaalani 2020, 72–84).
Struktureller, institutioneller Rassismus – und Rassismus in Institutionen
In Bezug auf strukturellen Rassismus wurde auf dessen historische Verankerung hingewiesen, die unter den veränderten Rahmenbedingungen einer Einwanderungsgesellschaft mehr und mehr zutage tritt (Alexopoulou 2020; Arndt 2017). Historisch etablierte Normvorstellungen und Kategorisierungen dienen damit auch heute noch als Anker für die Konstruktion gesellschaftlicher Kategorien, die Exklusionsprozesse und Machtverhältnisse in der Gesellschaft verstetigen (Middell und Pickel 2021, 5). Religiöse und koloniale Entwicklungen formten nach Fredrickson (2002, 46) die zwei Kernlinien des „modernen Rassismus“ – Anti-Schwarzen Rassismus und Antisemitismus (auch Messerschmidt 2018, 61–66). Allein die Gruppe der von Rassismus betroffenen Personen hat sich erweitert und differenziert. Mittlerweile wurden weitere Gruppen als Adressat:innen rassistischer Diskriminierung seitens der Mitglieder der Dominanzgesellschaften hinzugefügt (Muslim:innen, Sinti:zze und Rom:nja, Asiat:innen usw.; auch Benz 2019, 62; Melter und Mecheril 2011). Inwieweit auch ein historisch verwurzelter Antislawismus nicht nur den exklusionistischen und diskriminierenden Diskursen und Praxen hinzuzurechnen ist, sondern auch ins Feld der vielfältiger werdenden Rassismen zugehört, bleibt noch zu erforschen.
Unser Projekt baut also auf zwei Beobachtungen auf, nämlich einerseits der strukturellen und kulturellen Verfestigung und andererseits der Differenzierung und Erweiterung von Rassismen und ihrer Wahrnehmungen. Damit geht eine Dynamisierung einher, die auch bisher eingeübte Muster des Kampfes gegen und der Bewältigung von Rassismus auf den Prüfstand zu stellen zwingt. Die Beobachtung dieser Dynamisierung kann nicht auf die deutsche Gesellschaft beschränkt werden, denn erkennbar vollzieht sie sich in einem transnational und transregional verflochtenen Raum, in dem sowohl (alte und neue) rassistische Stereotype zirkulieren als auch (alte und neue) Formen des Widerstandes gegen rassistische Diskriminierung aufeinander Bezug nehmen und Bündnisse anstreben.
Diese Formen einer strukturellen Konsistenz von Rassismus gilt als Ausgangspunkt für die Praktiken und Kulturen von Rassismus in Institutionen. Es etablieren sich dort „organisationelle Regeln, Verfahren und Routinen“, die das Handeln von Mitarbeiter:innen in Behörden lenken und beeinflussen (El-Mafaalani 2020, 72; auch Better 2008, 13; Ward und Rivera 2014). Ihr Ziel ist es, die Stabilität der Institution und damit ihr prinzipiell gleichartiges Funktionieren über längere Zeiträume zu gewährleisten. Dies trifft jedoch auf die Veränderungen in der Gesellschaft und ihrer Zusammensetzung durch Migration ebenso wie auf die oben angesprochene Dynamisierung des Verständnisses von Diskriminierung allgemein und von Rassismus im Speziellen. Im Ergebnis trifft die Konsolidierung von zwischen Gruppen der Gesellschaft bestehenden Machtverhältnissen – und damit institutioneller Rassismus – auf die Notwendigkeit der Anpassung an neue Verhältnisse und neue Wahrnehmungen der Verhältnisse. Hieraus ergibt sich das Spannungsverhältnis für Institutionen, zugleich Stabilität der Funktionserfüllung und Anpassung an ein geändertes Umfeld (gewähr-)leisten zu müssen. Erste empirische Studien konnten diese Spannung vor allem im schulischen Raum identifizieren, wo ein solcher institutioneller Rassismus Gefahr läuft, sozialisatorisch weitergegeben zu werden (Gomolla und Radtke 2009; Gomolla et al. 2018; Fereidonni 2016). Es ist zu vermuten, dass auch in anderen Institutionen und öffentlichen Behörden ähnliche Beobachtungen zu machen sind. Allerdings ist in der Praxis der institutionelle Rassismus oft schwer von individuellem Rassismus zu unterscheiden, der über Personen in Institutionen wandert (Terkessidis 1998). Beide Möglichkeiten der Verortung von beobachteten Rassismus münden in Auseinandersetzungen zwischen Personen und Gruppen, die institutionellen Rassismus identifizieren, und solchen, meist Vertreter:innen der Behörden, die dies als Vorverurteilung der eigenen Mitarbeiter:innen ansehen und auf Einzelfälle und individuellen Rassismus verweisen. Solche Auseinandersetzungen entbrannten immer wieder auch in Deutschland zwischen Vertreter:innen der Zivilgesellschaft und Vertreter:innen öffentlicher Ämter, bis hin zu Minister:innen und Behördenleiter:innen. Sie stellten sich immer wieder bei besonders brisanten und in der Öffentlichkeit schnell skandalisierten Vorgängen, z. B. des sogenannten Racial Profilings als polizeiliche Alltagspraxis, vor die Institutionen und rechtfertigten deren Verhalten (z. B. Baile et al. 2019; Thompson 2020).
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wird sowohl die Notwendigkeit zu praktischem Handeln gegen Rassismus als auch der Bedarf nach Informationen hinsichtlich der Verbreitung und Verankerung von Rassismus in Institutionen deutlich. Hat sich die Situation hinsichtlich der Messung rassistischer Vorurteile und Diskriminierung in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert, ohne aus Sicht der Betroffenen von Rassismus befriedigend zu sein, stehen genauere Kenntnisse über die Verbreitung von Rassismus in öffentlichen Institutionen noch fast vollständig aus (u. a. Beigang et al. 2017; Decker und Brähler 2020; Zick et al. 2021). Letzteres ist in zweierlei Hinsicht unbefriedigend: So muss erstens von öffentlichen Institutionen nicht nur erwartet werden, dass sie den Menschenrechtskonventionen und dem Grundgesetz entsprechend allen Personen gegenüber ohne Vorurteile und rassistische Voreingenommenheit agieren, sondern auch, dass sie allen Formen rassistischer Diskriminierung aktiv entgegentreten. Zweitens ist unter der Annahme, dass Bedienstete in Behörden ähnliche Vorstellungen wie andere Menschen in der Gesellschaft haben, die Beobachtung einer teils weitreichenden Verankerung von Vorurteilen und Rassismen in der deutschen Bevölkerung ein Hinweis auf Probleme öffentlicher Wahrnehmung, die bearbeitet werden müssen (Zick 1997). So schwanken aus Umfragen gewonnene Aussagen zum antimuslimischen Rassismus zwischen 20 und 50 % Zustimmung, Antiziganismus kann ebenso bei 50 % der Befragten in Deutschland verortet werden, wie die Hälfte der befragten Deutschen sich vom Islam bedroht fühlt. Auf der Seite der Betroffenen ist die Situation noch dramatischer. 57 % der Berliner:innen, also Bewohner:innen einer Stadt, die als besonders weltoffen angepriesen wird, bekannten, schon mindestens einmal Opfer von Diskriminierung geworden zu sein (Pickel et al. 2019, 47–49). 85 % aller Jüd:innen und 47 % aller Muslim:innen haben nach Angabe der Studien der Agency for Fundamental Human Rights (FRA 2018, 59–64; SVR 2018, 13–14) bereits Diskriminierung erfahren. Belastbare Ergebnisse zu diesem Thema für Deutschland und verschiedene Betroffenengruppen sind über die geplanten Betroffenenbefragungen des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZiM) zu erwarten, die gleichermaßen Teil des 89-Punkteplans der Bundesregierung mit Maßnahmen unterschiedlicher Ausrichtung zur Bekämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus sind (vgl. den Beitrag von Ates et al. in diesem Band).
Rassismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt
Eingebettet in diesen Aktionsplan findet auch unsere Untersuchung von Rassismus in Institutionen statt. Diese wird von Forscher:innen aus acht Standorten des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt im Verbundprojekt „Rassismus als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Kontext ausgewählter gesellschaftlich-institutioneller Bereiche“ (InRa) übernommen. Ziel ist es zu klären, inwieweit Rassismus in Institutionen existiert, welche Erscheinungsformen er gegebenenfalls aufweist, welche Motive und welche strukturellen Gründe ihm zugrunde liegen können und wie er sich vermeiden lässt (Middell und Pickel 2021, 4). Dabei legt das Projekt sein Augenmerk auf die potenziell pluralen Formen von Rassismus in Institutionen. Es wird versucht, einen differenzierten und mehrperspektivischen Blick auf Rassismus vorzunehmen, der zum einen den Betroffenen von Rassismus gerecht wird, zum anderen aber einen tieferen Einblick in die Rahmenbedingungen, Einstellungen und Gemütszustände von Behördenmitarbeiter:innen unter der Diskurslage Rassismus zulässt. Differenziert ist der Zugang auch, weil er unterschiedliche rassistische Zuschreibungen ernst nimmt und in den Grundgedanken eines auf Differenzbildung und Machtabsicherung ausgerichteten Rassismusbegriffs einordnet (Bojadzijev 2018; Fredrickson 2002, Geulen 2017; Memmi 1982; Lavorano 2019; Rommelspacher 2009).
In welchem Verhältnis steht nun Rassismus zum gesellschaftlichen Zusammenhalt? Geht man davon aus, dass Rassismus auf Betonung von Differenz, Konstruktion von Kategorien und Gruppen sowie Machtverhältnissen beruht, dann stellt er mit Blick auf eine Gemeinschaft eine grundsätzliche Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar. So sorgt Rassismus für eine zuschreibungsbasierte Differenzierung und Differenzbildung in der Gesellschaft, die gesellschaftlichen Zusammenhalt erschwert. Zudem untergraben rassistische Vorstellungen und Vorurteile das soziale Vertrauen in Gemeinschaften und produzieren nicht nur ein „Wir und die Anderen“, sondern erhalten auch bestehende Machthierarchien in der Gesellschaft (Allport 1979, 48–50, 153; Benedict 2019, 140–150). Die Legitimation dieser oft traditionell verankerten Machtverhältnisse in der Gesellschaft benötigt Differenzkonstruktionen, die Gleichwertigkeit oder gleichwertige Teilhabe zu verhindern suchen. Genau dies unterläuft aber nun die Grundlage einer gemeinschaftlichen Zusammenhaltskonstruktion. Die Schädlichkeit von Rassismus auf der individuellen Ebene für die Demokratie konnte bereits mehrfach belegt werden (Pickel et al. 2020, 105; Kailitz et al. 2021). So liegt als Grundannahme nahe: Rassismus in seinen vielfältigen Ausprägungen spaltet die Gesellschaft und gefährdet auf diese Weise den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Werden diese Differenzbildungen und damit Rassismus in Institutionen reproduziert, so verschärft dies die Spaltung und beschädigt zum Beispiel Prozesse der Bindung von Mitgliedern aus Minderheiten oder eben der betroffenen Gruppen an die Gesellschaft. Bedeutsam ist, dass als Referenzpunkt dieses Zusammenhalts die Gesamtgesellschaft in der Form einer pluralen Einwanderungsgesellschaft gilt und nicht eine über ethno-nationalistische Vorstellungen verengte „Volksgemeinschaft“.
Auf diesem pluralistischen Zusammenhalt bezieht sich in der Regel ein demokratisches Institutionensystem. So sind öffentliche Institutionen in einer Demokratie angehalten, grundgesetzlich garantierte Freiheitsrechte, aber auch den Anspruch auf Gleichbehandlung vor dem Gesetz und Teilhabechancen für alle im gleichen Umfang sicherzustellen. Gerade letzteres wird durch das Eindringen rassistischer Vorstellungen und Verankerungen infrage gestellt. Beobachtungen von rassistischer Diskriminierung in der Gesellschaft wie in institutionellen Vorgängen widersprechen diesen im Grundgesetz verankerten demokratischen Grundrechten. Wenn rassistische Exklusionsprozesse befördert werden, muss der demokratische Staat schützend einschreiten. Problematisch wird dies, wenn Rassismus in staatlichen Behörden selbst verankert ist, sei es über Einzelpersonen (als individueller Rassismus), sei es über historisch gewachsene Kulturen und Gewohnheiten oder strukturelle Vorgaben (struktureller und institutioneller Rassismus). Eine solche Intervention auf Grundlage empirischer Befunde zu leisten, die im Zuge methodenkontrollierter wissenschaftlicher Verfahren gewonnen werden und nicht auf Basis geschönter oder skandalisierender Annahmen, gehört zu den Geschäftsgrundlagen demokratischer Regierungen in Wissensgesellschaften.
Projekt: Institutionen und Rassismus
Wie soll das Projekt zu Institutionen und Rassismus nun umgesetzt werden? Es liegt in der Natur der Sache, dass am Anfang eines Projektes meist nur Fragestellungen und Hypothesen, Überlegungen zum Projektdesign und Willensbekundungen zu den angestrebten Zielen abgegeben werden können. Gleichwohl gehört eine solch frühe Darstellung des Vorhabens zur Transparenz öffentlich finanzierter Forschung, denn auch zu einem späteren Zeitpunkt müssen sich die Ergebnisse an den in Aussicht gestellten Resultaten messen lassen. Auf die bereits skizzierten Forschungsfragen reagieren wir mit einem ungewöhnlich breit angelegten Design, dass acht Standorte einbezieht, die jeweils eine besondere Sensibilität für ihre regionalen Konstellationen und eine exzellente Vernetzung in das Untersuchungsfeld aufgrund ihrer Vorerfahrung mitbringen. Dies erleichtert die empirischen Zugänge. Der Verbund bringt dabei Wissenschaftler:innen zusammen, die Erfahrungen mit sehr unterschiedlichen Forschungsmethoden einsetzen und diese damit auch untereinander kritisch betrachten und dadurch schärfen. Nicht weniger als 22 Fallstudien versprechen ein breit gefächertes Bild von ganz unterschiedlichen Institutionen und möglichen Affinitäten zu rassistischen Diskriminierungen im Alltag und in der Behördenkultur. Die Dynamisierung der Rassismusvorstellungen wird durch eine internationale Vergleichsperspektive und durch Rückgriffe auf historische Vorbilder erfassbar. Forscher:innen aus den Bereichen Vorurteils- und Umfrageforschung, kritische Rassismusforschung, politische Einstellungsforschung, Rechts-, Geschichts-, Erziehungs- und Kulturwissenschaften arbeiten zusammen. So wie gesellschaftliche Diskurse und Normen zu Rassismus in Institutionen Thema ist, werden Verwaltungsbehörden, Sicherheits- und Justizbehörden und auch Behörden aus den Bereichen Arbeit, Wohnen und Gesundheit untersucht. Verschiedene Teilprojekte versuchen sich an Vergleichsstudien zwischen Behörden, um Spezifika einzelner Behörden wie auch Best-Practice-Programme zum Umgang mit rassistischer Diskriminierung auszumachen. Hier geht es darum, Unterschiede in der Existenz und Bearbeitung von Rassismus zu kartografieren und zu diskutieren und daraus Empfehlungen für eventuelle institutionelle Veränderungsprozesse in den Behörden abzuleiten.
Entsprechend ruht unser Vorhaben auf drei Säulen, die gut miteinander verbunden werden sollen, u. a. durch eine intensive gemeinsame Diskussion und regelmäßige Formate der Ergebnisvorstellung. In Säule eins wird der Ausgangspunkt unserer Untersuchung des Rassismus in Institutionen näher beleuchtet: die Dynamisierungen der Wissens- und Diskursproduktion zu Rassismus. „Diese Dynamisierungen stehen im Kontext verstärkter Mobilitäten und der damit zusammenhängenden (oft hochgradig polarisierten) Neuaushandlungen des Selbstverständnisses der deutschen Gesellschaft als Ergebnis rezenter Migrationen und Verflechtungen.“ (Middell und Pickel 2021, 13) Aber auch das Wandern von Begrifflichkeiten und Konzepten zur Diagnose von Rassismus sowie das wachsende Empowerment der Zivilgesellschaft, bei Erkenntnissen einer Fortdauer bis Zunahme von Vorurteilen, Stereotypen und darauf aufbauendem Rassismus kommen in dieser ersten Säule zur Sprache. Säule zwei bündelt die konkreten Studien zum Zusammenspiel institutioneller Settings und sozialer wie individueller Dispositionen mit Bezug auf Rassismus in Behörden. Dies umfasst die Praktiken, Handlungsabläufe und Routinen mit rassistischem Risikopotenzial wie auch in Bezug auf Rassismus entgegenwirkenden Prozeduren (Meldestellen, Vertrauenspersonen usw.). In der dritten Säule sind jene Teilprojekte zusammengefasst, die sich mit Lernprozessen zwischen Institutionen(-typen), Regionen und Ländern befassen. Da Rassismus nicht ohne die von Rassismus Betroffenen untersucht werden kann und im Austausch mit anderen Expert:innen behandelt werden soll, ist eine enge Zusammenarbeit und ein regelmäßiger Austausch mit Akteur:innen der Zivilgesellschaft vorgesehen. Dieser findet an verschiedenen Orten und Themen in Form von partizipativer Forschung statt, nutzt aber auch die zivilgesellschaftliche Expertise in anderen Formen. Wichtig ist uns, möglichst viele verschiedene Betroffenengruppen einzubeziehen und eine breite Behördenvielfalt zu berücksichtigen, um die Komplexität des Phänomens, dem diese Studie gewidmet ist, angemessen abbilden zu können. Zugleich ist die Studie zu Rassismus in Institutionen nur ein Baustein aus dem Maßnahmenkatalog des Kabinettsausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus und stellt somit nur einen Ausschnitt der Forschung zu Rassismus dar. In der Konsequenz gilt es unsere eigenen Befunde mit anderen mit Rassismus befassten Organisationen und Personen zu diskutieren und kooperativ Ergebnisse abzugleichen und auszutauschen.
Statt eines Fazits – Probleme der Rassismusforschung
Die Untersuchung von Rassismus in Institutionen, sei es in Form eines von Individuen ausgehenden diskriminierenden Verhaltens und/oder Redens, sei es ein in die Regularien von Institutionen mehr oder weniger fest eingesunkener institutioneller Rassismus, ist zweifelslos eine bedeutende Aufgabe von Forschung und Politik. Sie ist in Deutschland überfällig. Eine zunehmende Literatur und erste Lehrbücher zum Thema zeigen das anwachsende wissenschaftliche Interesse (Arndt 2020; Bent 2019; Lavorno 2019). Gleichzeitig besteht immer noch ein Manko, was empirische Studien angeht, die rassistische Diskriminierung, Zuschreibungen und institutionelle Anfälligkeiten für Rassismus abbilden. Mit Studien zu institutionellem Rassismus in der für die Weitergabe von Rassismus so wichtigen Sozialisationsinstanz Schul wurden erste Schritte unternommen (Gomolla und Raschke 2009), die genauere Betrachtung anderer Institutionen muss folgen.
Belastbare Fallstudien und empirische Forschungsergebnisse sind die Voraussetzung für eine angemessene Formulierung adäquater politischer Antworten und für eine durch Aufklärung angetriebene Einstellungsänderung, die auf empirisch plausibilisierte Problembeschreibungen reagieren. Will man dies umsetzen, so wird schnell deutlich, dass die entsprechende Forschung nicht unerhebliche Herausforderungen birgt. Keineswegs ist es selbstverständlich, dass sich Institutionen der Forschung öffnen. Wer will sich schon gern unter dem Vorwurf, rassistisch zu sein, untersuchen lassen? Dies bringt methodische Schwierigkeiten für eine empirische Rassismusforschung mit sich. Dazu gehört das erhöhte Risiko sozialer Erwünschtheit bei Auskünften oder einer massiven Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von Situationen und Handlungen zwischen Betroffenen und Behördenmitarbeiter:innen. Inwieweit es möglich ist, im Zusammenspiel zwischen Forschung mit Betroffenen und mit Behördenmitarbeiter:innen das Phänomen Rassismus in Institutionen zu entschlüsseln, wird sich zeigen. Auf jeden Fall ist für diesen Versuch Flexibilität und Risikobereitschaft erforderlich. Wir gehen davon aus, dass Untersuchende und Untersuchte das gemeinsame Anliegen teilen, die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung durch Rassismus zu verringern. Aber auch dort, wo unser Projekt vielleicht auf Schwierigkeiten stößt, lässt sich etwas für spätere Projekte lernen: über die Ursachen und Erscheinungsformen solcher Schwierigkeiten und zugleich über (hoffentlich erfolgreiche) Bemühungen, sie zu bewältigen.
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1 Das am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt angesiedelte Verbundvorhabens „Rassismus als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Kontext ausgewählter gesellschaftlich-institutioneller Bereiche“ wird durch das Bundesministerium des Inneren und der Heimat gefördert.
2 So wurden Beiträge der critical race theory (z. B. Delgado und Stefancic 2017) und Übersetzungen öffentlichkeitswirksamer Bücher mit rassismuskritischer Perspektive ins Deutsche trugen zur Sensibilisierung bei (Eddo-Lodge 2017; Sow 2018; Thomas 2018).
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