Vorstellung des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa)

Das DeZIM-Institut wurde von der Bundesregierung beauftragt, die Ursachen, das Ausmaß und die Folgen von Rassismus in Deutschland zu untersuchen und auf Grundlage unterschiedlicher Datenquellen evidenzbasierte Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Zu diesem Zweck wurde der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) aufgebaut. NaDiRa versteht Rassismus als ein historisch verankertes gesellschaftliches Verhältnis, weshalb struktureller und institutioneller Rassismus im Mittelpunkt der Betrachtung stehen und aus einer Gesamtbevölkerungs- und Betroffenenperspektive untersucht werden. Um die Betroffenenperspektive zu stärken, wurde ein zivilgesellschaftlicher Begleitprozess implementiert, bei dem migrantische und von Rassismus betroffene Organisationen in den Forschungsprozess miteinbezogen werden. Das Forschungsteam wurde aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen rekrutiert, um verschiedene gesellschaftliche Themenfelder und Institutionen analysieren zu können, z. B. das Mediensystem und die Berichterstattung, das Gesundheitswesen oder das Rechts- und Beratungssystem in Deutschland. Insgesamt zeichnet sich NaDiRa somit durch ein interdisziplinäres, multi-methodisches (quantitativ, qualitativ, partizipativ) und rassismuskritisches Forschungsparadigma aus.

Einleitung und theoretischer Zugang

Rassismus ist nicht nur das Vorhandensein verzerrter Einstellungen und Vorurteile gegenüber „Ausländern“ oder „Fremden“ (Terkessidis 2004), sondern vielmehr ein historisch gewachsenes, gesellschaftliches Verhältnis (Attia 2013), welches durch den Prozess der Herunterstufung (Inferiorisierung) migrantischer und rassifizierter Communitys charakterisiert ist (Auma 2018). Dieser Prozess kann über vier zentrale Elemente definiert werden: Verschiedene Personengruppen werden auf Basis imaginierter – biologischer und/oder kultureller – Merkmale definiert (Kategorisierung); den Menschen werden auf Basis ihrer Gruppenzuordnung kausal und deterministisch gewisse Eigenschaften zugeordnet, wodurch sie als eine vermeintlich homogene Gruppe dargestellt werden (Rassifizierung); die Zuschreibung von Eigenschaften folgt bipolaren Codes wie „Wir“ (gut, fleißig, rational) und „die Anderen“ (böse, faul, emotionsgetrieben) (Hierarchisierung); durch Rassismus hervorgebrachte materielle Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten werden durch die Prozesse der Kategorisierung, Rassifizierung und Hierarchisierung legitimiert (Legitimierung). Rassismus weist somit immer eine materielle und ideologisch-diskursive Dimension auf (Bonilla-Silva 2015) und bietet somit den konzeptionellen Rahmen für eine Kultur, in der rassistische Normen, Einstellungen, Prozesse, Schemata und Denkweisen zusammenwirken (Childs et al. 2017). Rassifizierung als Prozess geht dabei immer mit einer biokulturellen Essenzialisierung eines „Wir“ gegenüber den „Anderen“ (z. B. „Einheimische“ und „Ausländer“) einher, die über eine Imagination von Abstammung generationenübergreifend wirkmächtig bleibt. Aufgrund unterschiedlicher politischer Umstände, historischer Ereignisse und zivilgesellschaftlicher Widerstandsdynamiken (Heinz et al. 2014) bestehen auch kontextspezifische Abweichungen – es gibt also „Konjunkturen des Rassismus“ (Demirović und Bojadžijev 2002).

Der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) folgt hier dem Selbstverständnis, auf rassismuskritischer Forschung in Deutschland aufzubauen und diese durch theoretische, multi-methodische und interdisziplinäre Forschung weiter fortzuführen und in der Breite zu stärken. Rassismuskritik wird dabei nicht als eine „polizeiliche Überführungspraxis” von rassistischen Einstellungen verstanden, sondern als Analyse rassistischer Gesellschaftsverhältnisse und ihrer institutionellen und interaktiven Kontextualisierungen (Mecheril 2021).

Rassistische Prozesse laufen häufig subtil und indirekt ab, weshalb auch von verdecktem Rassismus (covert racism) gesprochen wird (Nail et al. 2003). Das funktioniert, indem a) materielle Ungleichheiten nicht auf die rassistischen Gesellschaftsverhältnisse zurückgeführt werden, sondern auf mangelnde Leistungsbereitschaft und -fähigkeit rassifizierter Personengruppen (colour-blind racism) (Bonilla-Silva 2015); b) offensichtliche rassistische Taten und Einstellungen als Tabu geächtet, aber zeitgleich rassifizierte Communitys als kulturell nicht passungsfähig zur eigenen Dominanzgesellschaft dargestellt werden (symbolic und modern racism) (Henry und Sears 2008). Damit wird Rassismus kulturell chiffriert, weitestgehend geleugnet oder als ein gesellschaftliches Randphänomen abgetan.

Rassismus wird in der Regel vor allem dann öffentlich und politisch thematisiert, wenn es zu (offenkundig) rassistisch motivierten gewaltvollen Übergriffen (overt racism) kommt. Dies ist zuletzt auf schmerzhafte Weise durch die antisemitischen und rassistischen Anschläge in Halle und Hanau sowie den brutalen Mord am Schwarzen US-Amerikaner George Floyd durch Polizisten deutlich geworden. Rassistische Morde und Anschläge sind in Deutschland kein neues Phänomen, wenn wir z. B. an Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen oder an den Terror des NSU erinnern. Was allerdings neu war, ist der Erfolg der anti-rassistischen Mobilisierung sowie der explizite Fokus auf die strukturellen Komponenten von Rassismus. Zum Beispiel konnte Black Lives Matter weltweit mobilisieren und eine bisher ungekannte Solidaritätswelle auslösen und die Verbliebenen von Hanau haben mit ihrer Initiative 19. Februar nicht zugelassen, dass erneut die These des Einzeltäters strukturellen Rassismus verdecken konnte. Auch wenn offen rassistische Gewaltakte für diese Mobilisierung auslösend waren, rückte die strukturelle Dimension rassistischer Vergesellschaftung somit verstärkt ins öffentliche Bewusstsein.

Vor diesem Hintergrund setzte die damalige Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel auch auf Druck von migrantischen Selbstorganisationen einen Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus ein und verabschiedete einen Maßnahmenkatalog. In diesem Rahmen wurde das DeZIM-Institut damit beauftragt, ein Diskriminierungs- und Rassismusmonitoring aufzubauen. Ziel von NaDiRa ist es, den Grundstein für ein dauerhaftes Diskriminierungs- und Rassismusmonitoring in Deutschland zu legen. Hierfür sollen auf Basis unterschiedlicher Datenquellen verlässliche Aussagen über Ursachen, Ausmaß und Folgen von Rassismus getroffen werden, um darauf aufbauend evidenzbasierte Maßnahmen gegen Rassismus entwickeln zu können. Dabei sollen sowohl die Gesamtbevölkerung als auch rassifizierte Gruppen, also Bevölkerungsgruppen, die potenziell von Rassismus betroffen sind (Betroffenenperspektive), untersucht werden. Diese Betroffenenperspektive wird in unterschiedlicher Weise berücksichtigt und zieht sich durch alle NaDiRa-Teilprojekte. Die unterschiedlichen Teilprojekte und der zivilgesellschaftliche Begleitprozess sind in thematische Module gegliedert, die Struktur des NaDiRa, die Inhalte und methodischen Zugänge der einzelnen Module werden im folgenden Kapitel beschrieben. Wir schließen mit einem Ausblick.

Struktur des NaDiRa

Modul 1: Theoretische Grundlagen des NaDiRa

Modul 1 beschäftigt sich mit theoretischen Grundlagen, die für alle Module des NaDiRa relevant sind. Es bietet einen regelmäßigen Reflexionsraum, in dem modulübergreifende Themen miteinander diskutiert und Konzepte geschärft werden. Konkret findet die gemeinsame theoretische Reflexion, die in diesem Theoriemodul koordiniert wird, in Form von wöchentlichen Diskussions- und Lesekreisen, internen Workshops sowie einer öffentlichen Ringvorlesung statt. Eine zentrale Analysekategorie ist dabei die Unterscheidung zwischen latenten und manifesten Rassismen und deren Ineinandergreifen. Aufbauend auf der Auseinandersetzung von Bergmann und Erb (1991) mit latentem Antisemitismus besteht eine zentrale modulübergreifende Fragestellung darin, welche latenten und manifesten Erscheinungsformen verschiedener Rassismen sich mit welchen Forschungsmethoden erschließen lassen. Latente rassistische Dispositionen, die aufgrund von Tabuisierung aus der Öffentlichkeit und auch aus dem Bewusstsein verbannt sind, lassen sich nicht mit klassischen Befragungen erheben. Diskursanalysen und andere Methoden, die in den qualitativ arbeitenden Modulen angewendet werden, sollen daher den Survey unter anderem auch in diesem Aspekt ergänzen. Neben dem Zusammenhang zwischen latenten und manifesten Erscheinungsformen verschiedener Rassismen beschäftigt sich die Theoriearbeit mit generativen Eigenschaften der Rassismen, also beispielsweise deren Rolle bei der Erzeugung rassistischer Kategorien, rassistischen Wissens und rassistischer Normen sowie mit Funktionen von Rassismen, etwa bei der Legitimation von Ungleichheit.

Modul 2: Datenerhebung, Methodik des Surveys und Experimente

NaDiRa baut derzeit einen Online-Access Panel (NaDiRa.panel) auf, um langfristig die Ursachen, das Ausmaß und die Folgen von Rassismus in Deutschland quantitativ monitoren zu können. Ab dem Jahr 2023 werden wir vier Mal jährlich online Erhebungen durchführen. Damit können wir jederzeit auf kurzfristige gesellschaftliche Debatten und Ereignisse reagieren und mithilfe empirischer Daten zu einer Versachlichung von Debatten beitragen. Durch wiederkehrende Befragungsinhalte werden wir mittel- bis langfristig einen Datensatz generieren, mit dem wir über einen längeren Zeitraum gesellschaftliche Entwicklungen beobachten und analysieren können.

Das Besondere am NaDiRa.panel ist, dass es auf einer zweistufigen Stichprobe basiert. Die Stichprobenziehung beruht auf Zufallsstichproben aus Registern von Einwohnermeldeämtern. Die Grundgesamtheit besteht aus Personen im Alter von 18 bis 65, die ihren Hauptwohnsitz im Frühjahr 2022 in Deutschland gemeldet haben und in Privathaushalten leben. In der ersten Stufe der Stichprobenziehung werden Gemeinden ausgewählt und in der zweiten Stufe die Zielpersonen. Sowohl die Gesamtbevölkerungsperspektive als auch die Betroffenenperspektive werden beim NaDiRa.panel berücksichtigt. Für gezielt ausgewählte Bevölkerungsgruppen, die von Rassismus betroffen sind, erfolgt bei der Stichprobenziehung ein Oversampling. Das heißt, dass sie im Vergleich zur Bevölkerungsverteilung überproportional stark vertreten sind. Für die Identifikation zu den ausgewählten Gruppen werden die Namen analysiert und entsprechenden Herkunftsländern zugeordnet (onomastisches Verfahren). Da durch die Onomastik nicht alle Bevölkerungsgruppen identifiziert werden können, die von Rassismus betroffen sind, beschränken wir uns für die Initialerhebung auf drei Herkunftsgruppen: Menschen mit einem Namen aus Ländern, die mehrheitlich muslimisch geprägt sind, Menschen mit einem Namen die süd-, südost- und ostasiatischen Herkunftsländern zugeordnet werden und Menschen mit einem Namen die den Regionen westliches, östliches, südliches und zentrales Afrika zugeordnet werden. Sowohl für die Gesamtbevölkerung als auch für die ersten beiden Betroffenengruppen können wir auf Basis des Stichprobendesigns generalisierbare Aussagen treffen. Für die dritte Gruppe ist unsere Aussagekraft deutlich eingeschränkter. Wir können mit dieser Stichprobe keine generalisierbaren Aussagen über Schwarze, afrikanische oder afrodiasporische Menschen in Deutschland treffen, u. a. weil sie mithilfe der Onomastik nicht immer identifiziert werden können. So schreibt der Afrozensus, dass „aufgrund der afrikanischen und afrodiasporischen Geschichte der letzten Jahrhunderte zahlreiche Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen Nachnamen mit europäischen Bezügen tragen“ (Aikins et al. 2020, 56–57). Deshalb verzichtet der Afrozensus bewusst auf die Onomastik. Für NaDiRa stellt die Onomastik besonders für die Schwarze, afrikanische oder afrodiasporische Communitys nur einen ersten Schritt dar. Auf diesen könnte für die Zukunft mit weiteren Verfahren aufgebaut werden, z. B. eine netzwerkbasierte, probabilistische Stichprobenziehung (Respondent-Driven Sampling). Ein weiterer Kritikpunkt an der Onomastik verweist darauf, dass es sich hierbei um eine Fremdzuschreibung (Kategorisierung) von Menschen handelt. Diesem berechtigten Kritikpunkt tragen wir insoweit Rechnung, dass wir allen Befragten die Möglichkeit geben, sich selbst zu definieren (Selbstidentifikation), was auch den Kriterien der Antidiskriminierungsstelle zur Erhebung von Antidiskriminierungsdaten entspricht (Baumann et al. 2018).

Für die Initialerhebung sind Fragen zu Demografie, sozialer Ungleichheit, Vertrauen in politische Institutionen, Wohlbefinden und Gesundheit geplant. Ein Schwerpunkt der Befragung liegt auf der Diskriminierungs- und Rassismuserfahrung der Befragten. Neben der intersektionalen Diskriminierungserfahrung in unterschiedlichen Alltagskontexten soll vor allem auf Erfahrungen im institutionellen Kontext des Gesundheitswesens fokussiert werden. Dieser institutionelle Kontext soll für jede Erhebungswelle des NaDiRa OAP rotieren. Zusätzlich werden Fragen zur sozialen Identität gestellt. Neben der Selbstidentifikation zu einer rassifizierten Gruppe wird nach der subjektiv wahrgenommenen Fremdzuschreibung und dem Zugehörigkeitsgefühl gefragt. Rassistische Wissensbestände und Vorurteile werden ebenfalls erhoben.

Zusätzlich haben wir ein Survey-Experiment (Vignettenstudie) durchgeführt, um Wahrnehmungen und Reaktionen zu untersuchen, wenn rassifizierte und nicht-rassifizierte Personen im Gesundheitskontext negativ behandelt werden. Weitere Survey- und Feldexperimente sollen ein fester Bestandteil des NaDiRa sein.

Modul 3: Institutionelle Prozesse und Rassismus

In der ersten Phase des NaDiRa wird Rassismus im institutionellen Kontext des deutschen Gesundheitswesens im Rahmen von zwei Teilprojekten näher in den Blick genommen. Das erste Teilprojekt setzt hierfür den Fokus auf Mediziner:innen durch eine wissenssoziologische Untersuchung von Rassismus in der ärztlichen Ausbildung. Dabei soll Rassismus auf den verschiedenen Wissensebenen des Prozesswissens (z. B. Alltagsabläufe), technischen Wissens (z. B. medizinische Inhalte) und Deutungswissens (z. B. latente „a-priori“-Normen) erfasst werden. Zu diesem Zweck werden zum einen Lehrmaterialien aus dem Medizinstudium in Deutschland sowie der „Nationale kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin“ stichprobenartig analysiert. Zum anderen werden Interviews mit von Rassismus betroffenen Ärzt:innen und Medizinstudent:innen durchgeführt. Im zweiten Teilprojekt werden mithilfe einer partizipativen Studie Community-Perspektiven auf Rassismus in der Gesundheitsversorgung erarbeitet. Die Ausformulierung der Forschungsfragen, die Umsetzung des Forschungsprojektes sowie die Interpretation der Ergebnisse geschieht hierfür in enger Zusammenarbeit mit Co-Forschenden aus zwei Communitys (muslimisch markierten Menschen und Menschen aus Schwarzen Communitys). Im Zentrum des Projekts stehen zudem sechs Fokusgruppendiskussionen, die sowohl durch eine Grounded-Theory-Analyse als auch durch partizipative Interpretationssitzungen mit den Peer Researchern ausgewertet werden.

Modul 4: Medienmonitoring

Das vierte Modul des NaDiRa besteht aus einem Medienmonitor, der den Wandel in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Rassismus in deutschen Medien seit 1987 nachzeichnet und analysiert. Der inhaltsanalytische und zeitlich umfassende Rahmen bietet eine wichtige mediale Kontextualisierung des gesamten Rassismusmonitors. Dieses Projekt wird im Rahmen einer Kooperation des DeZIM-Instituts in Berlin mit dem Interdisziplinären Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in Duisburg-Essen durchgeführt.

Das Modul konzentriert sich auf vier thematische Schwerpunkte und ihre Veränderungen in den letzten drei Jahrzehnten: a) die Salienz von Debatten über Rassismus; b) die Akteur:innen, die diese Debatten geprägt haben; c) die zentralen Konflikte, die in den Debatten verhandelt worden sind, sowie d) das Framing, also die verschiedenen ‚Problemdefinitionen‘, die in den Debatten zum Ausdruck gekommen sind. Als Datengrundlage dienen zum einen der Textkorpus „MigPress“ („Ein Zeitungskorpus für die Migrations- und Integrationsforschung“), der bis in das Jahr 2000 reicht, sowie die Archive der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Süddeutschen Zeitung (SZ) sowie der tageszeitung (taz), um die Zeitspanne von 1987 bis 2022 zu analysieren. Die so zusammengestellten Texte werden zum einen computergestützt quantitativ ausgewertet, zum anderen wird die Analyse anhand ausgewählter Episoden qualitativ vertieft.

Modul 5: Rechtliche Grundlagen und Beratungsstrukturen

Modul 5 besteht aus den beiden Teilmodulen „Recht“ und „Beratungsstrukturen” und ergänzt das methodische Spektrum des Rassismusmonitors durch juristische Fallanalysen und eine Bestandsaufnahme zivilgesellschaftlicher Beratungsstrukturen. Gemeinsam ist den beiden Teilmodulen die zentrale Fragestellung, welche Möglichkeiten bestehen, um sich gegen Rassismus zu wehren und welchen Hürden von Rassismus Betroffene dabei begegnen. Dabei geht es zunächst um die Frage, welches Verständnis von Rassismus der Arbeit in verschiedenen Rechtskontexten sowie Beratungsinstitutionen zugrunde liegt und welche Leerstellen und Ausschlüsse in diesem Rahmen produziert werden. Vor allem die Frage nach dem Umgang mit explizit rassistischen Taten einerseits und strukturellen Formen des Rassismus andererseits steht hierbei im Fokus. Die juristische Fallanalyse konzentriert sich darauf zu klären, welche Definitionen von Rassismus und rassistischer Diskriminierung deutsche Gerichte in ihrer Urteilspraxis zugrunde legen und wie sich diese zu europarechtlichen und völkerrechtlichen Vorgaben verhalten.

Hierfür ist auch die Frage relevant, auf welche Weise die argumentativen Hürden errichtet werden, die es erschweren, Rassismus vor Gericht zu thematisieren. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Figur des „objektiven Beobachters” oder des „objektiven Dritten”, die von Gerichten herangezogen wird, um eine vermeintlich neutrale Position einzunehmen. Neben der juristischen Fallanalyse sollen die praktischen Probleme und Ambivalenzen der Beratungsarbeit näher in den Blick genommen werden. Unabhängige Beratungsstellen sind zentrale Akteur:innen an der Schnittstelle von Rechtsdurchsetzung einerseits und der Perspektive der von Rassismus Betroffenen andererseits, sie fokussieren also das Spannungsverhältnis von gelebter Realität und institutionellem Rahmen. Dabei navigieren sie ein breites Aufgabenfeld, das von der fallspezifischen Betreuung über die statistische Dokumentation und Bildungsarbeit bis zur politischen Intervention und Prozessen der zivilgesellschaftlichen Stärkung reicht. Gleichzeitig sind Ressourcen in der Regel sehr begrenzt, sodass Ambivalenzen dauerhaft ausgehandelt werden müssen. Die in rassismuskritischer Beratungsarbeit entwickelten Perspektiven und Lernprozesse dienen für dieses Projekt als Grundlage für die Evaluation existierender rechtlich-politischer Möglichkeiten in Deutschland, sich gegen Rassismus zu wehren. Eines der Scharniere zwischen den beiden Teilmodulen bildet eine intensive Befassung mit dem Prozess rund um den antisemitischen und rassistischen Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle.

Modul 6: Zivilgesellschaftlicher Begleitprozess

Der zivilgesellschaftliche Begleitprozess dient dazu, die Wissensproduktion im NaDiRa zu demokratisieren und an den Bedürfnissen der von Rassismus betroffenen Menschen auszurichten. Zu diesem Zweck tritt ein aus Vertreter:innen von Migrant:innenorganisationen besetzter Fachkreis kontinuierlich mit den Forschenden in Dialog. Der Fachkreis spiegelt die im NaDiRa behandelten Themen und Fragen in die migrantischen Communitys zurück und ermöglicht somit Diskussionsräume. Darüber hinaus prüft er, ob die Forschungsfragen für Betroffene relevant sind, die Forschungsergebnisse die praktische Arbeit unterstützen können und es weitere Themen gibt, die auf die Agenda gesetzt werden sollten. Die unterschiedlichen Formate der Beteiligung oder themenbezogene Austauschrunden mit Forschenden verstehen sich als Angebote an interessierte Organisationen, die sich mit ihrer Expertise am NaDiRa beteiligen möchten. Der Fachkreis wird laufend über diesen Prozess informiert und erhält Informationen zu Aktuellem aus der NaDiRa-Geschäftsstelle. In den Fachkreis aufgenommen werden migrantische Organisationen, diasporische Organisationen, neue deutsche Organisationen sowie Organisationen/Institutionen, die schwerpunktmäßig zum Thema (Anti-)Rassismus arbeiten. Um sicherzustellen, dass über die Zeit hinweg effektive Partizipation durch zugängliche und inklusive Strukturen gewährleistet wird, erarbeitet das Modul, das den zivilgesellschaftlichen Begleitprozess koordiniert, Richtlinien, die stets einzuhalten sind und an denen sich die gegenseitigen Erwartungen des NaDiRa Teams einerseits und zivilgesellschaftlicher Organisationen andererseits ausrichten können.

Ausblick

Die Einbettung des NaDiRa in das DeZIM-Institut stellt die Grundlage dafür dar, dass eine nachhaltige Forschungsinfrastruktur geschaffen werden kann, um Rassismus systematisch und verstetigt in Deutschland untersuchen zu können. Dabei profitiert NaDiRa nicht nur von der Infrastruktur und Expertise innerhalb des DeZIM-Institutes, sondern ebenso von der DeZIM-Forschungsgemeinschaft. Der Forschungsgemeinschaft gehören zahlreiche Einrichtungen an, die in Deutschland Migration und Integration erforschen. Flankierend zum NaDiRa baut die DeZIM-Forschungsgemeinschaft derzeit einen „Forschungsverbund Diskriminierung und Rassismus” (FoDiRa) auf.

2021 wurde NaDiRa im Wesentlichen aufgebaut und zeitgleich die Auftaktstudie „Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander?” verwirklicht und im Mai 2022 veröffentlicht.1 „Rassistische Realitäten“ ist die erste repräsentative Befragung in Deutschland, die rassistische Einstellungen, Rassismuserfahrungen und die Auseinandersetzung mit Rassismus differenziert untersucht. Dazu gehört die Wahrnehmung und Bewertung von Alltagsrassismus, strukturellem Rassismus und die Verankerung rassistischer Wissensbestände. Eine Kernaussage ist, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus in Deutschland allgegenwärtig ist. Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland erkennt somit Rassismus als ein Problem an und stimmt zu, dass Rassismus den Alltag und die Strukturen der Gesellschaft prägt. Zugleich ist zu konstatieren: Rassistische Wissensbestände (z. B. die Vorstellung, dass es verschiede menschliche Rassen gibt) sind tief in der Gesellschaft verankert, die Debatten um Rassismus erzeugen Reflexe der Abwehr. Dennoch deuten die Ergebnisse der Auftaktstudie darauf hin, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland bereit ist, sich gegen Rassismus zu engagieren. Diese Themen und Erkenntnisse fließen in die NaDiRa-Hauptstudie ein und werden in den nächsten Jahren immer wieder aufgegriffen, um sozialen Wandel zu untersuchen.

Seit 2022 befindet sich die erste Hauptstudie des NaDiRa in der Durchführungsphase. Im Frühjahr 2023 wird die Veröffentlichung des 1. NaDiRa-Berichtes erwartet. Alle zwei Jahre soll ein solcher Bericht angefertigt und an die Bundesregierung übergeben werden.

 

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1    Vgl. www.rassismusmonitor.de/studie-rassistische-realitaeten.

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