Teilhabe in der Krise? Kommunale Beteiligungskultur in Thüringen während der Corona-Pandemie

Obwohl der Druck auf die Demokratie durch die Corona-Pandemie zweifelsfrei gestiegen ist, helfen keine globalen Patentlösungen. Stattdessen können Differenzierung und Detailschärfe hilfreich sein: Der in diesem Beitrag vorgenommene Fokus auf kommunale Beteiligungskultur öffnet den Blick für die vielfältigen Strategien, die Stadtverwaltungen und -gesellschaften im Zuge der Corona-Pandemie ergriffen haben. Ausgehend von der Analyse einer gesellschaftlichen Teilhabe-Krise werden Handlungsspielräume zweier Thüringer Mittelstädte im peripherisierten Raum diskutiert. Während in Altenburg die Koproduktion von Zivilgesellschaft und Stadtverwaltung näher betrachtet wird, rückt in Apolda der Beitrag der Vereine zur städtischen Demokratiearbeit in den Mittelpunkt. Der Beitrag schließt mit Denkanstößen für eine kommunale Beteiligungskultur inmitten multipler Krisen.

Einführung

Krisen haben schon immer das Antlitz der Städte geprägt und Wendepunkte in ihren Geschichten verursacht. Die Corona-Pandemie ist ein Beispiel dafür, wie sozialer Austausch, alltägliche Mobilität und Wohnen, aber auch Verwaltungsvorgänge und demokratische Prozesse von einem Tag auf den anderen ganz anders funktionieren (müssen). Bereits bestehende Krisen wie die Klima-, Demokratie- oder die Wohnungskrise werden dabei jedoch nicht nur wie unter einem Brennglas verschärft. Da Kommunen zu den zentralen Schauplätzen der Veränderungen gehören, muss deren grundsätzliche Resilienz hinterfragt werden: Wer kann in Krisen mitsprechen und Lösungen mitentwickeln? Wer ist aktiv dabei, mit wem wird gesprochen? Kurzum: Wie wirken sich die Erfahrungen mit den Einschränkungen im Zuge der Pandemiebewältigung auf die kommunale Demokratiearbeit – verstanden als Vermittlung und Einübung demokratischer Grundwerte – aus?

Dieser Beitrag1 setzt sich mit Antworten auf diese Fragen auseinander. Dabei sollen verschiedene Aspekte der kommunalen Beteiligung und des Handelns von Stadtverwaltungen und stadtgesellschaftlichen Initiativen als Akteur*innen kommunaler Demokratiearbeit in Thüringen in Zeiten von Corona dargelegt werden. Die empirische und aktuelle Basis für diesen Artikel liefert ein Masterprojekt im Studiengang Urbanistik im Wintersemester 2021/22 an der Bauhaus-Universität Weimar2, das sich diesen Fragen auf der Maßstabsebene des Freistaats und ausgewählter Thüringer Städte näherte. Das Studienprojekt ist eingebettet in das BBSR-Pilotprojekt Post-Corona-Stadt, das im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik innovative und beispielgebende Lösungen für krisenfeste Stadt- und Quartiersstrukturen erprobt und untersucht. In verschiedenen Fallstudien wurde herausgearbeitet, wie sich das Zusammenspiel von Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft verändert hat und welche Governance-Strukturen und Beteiligungskulturen sich in der kommunalen Krisenbewältigung als (weniger) erfolgreich herausgestellt haben (Brokow-Loga 2023). Die beforschten Mittelstädte Apolda und Altenburg im ländlichen Raum Thüringens3 werden ins Zentrum dieses Beitrags gerückt. Anhand der Beispiele können Hürden und Herausforderungen für politisches und zivilgesellschaftliches Engagement im ländlichen bzw. peripherisierten Raum sichtbar gemacht sowie Maßnahmen für Demokratie und Akzeptanz in Vereinen und Institutionen abgeleitet werden.

Teilhabe, Beteiligungskultur und Corona-Krise: mehr als ein Brennglas?

Kommunale Demokratiearbeit und Beteiligungskultur müssen im Kontext multipler Krisen (Demirović et al. 2011) verstanden werden und sind demnach in verschiedene gesellschaftspolitische Spannungsfelder eingebettet. Zentral zu konstatieren ist dabei eine Krise der materiellen Teilhabe für immer breitere Gesellschaftsschichten, die auf der Zunahme der sozialen Ungleichheit von Einkommen (sowie Vermögen und weiterer Privilegien) basiert. Der Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen von gesellschaftlicher Teilhabe, beispielsweise durch den wachsenden Niedriglohnsektor und steigende Mietbelastungsquoten, führt seit spätestens der Finanzkrise 2008 zur „Delegitimierung und zur Destabilisierung des spezifischen Wohlfahrtsregimes“ (Vollmer et al. 2021, 23). Diese Entwicklung äußert sich u. a. erstens in einer institutionellen Krise, in der Privatisierungsprozesse, Abbau von Verwaltungspersonal und Instrumente wie die Schuldenbremse staatliche Institutionen zunehmend handlungsunfähig machen. Dies gilt auch und im Besonderen für die Institutionen des Lokalstaats: Stadt- oder Kreisverwaltungen, Stadtwerke, kommunale Unternehmen. Die Handlungsoptionen innerhalb der institutionellen Krise werden am Fallbeispiel Altenburg diskutiert.

Zweitens kann eine gesellschaftliche Krise der Zersplitterung festgestellt werden, „in der einzelne Gesellschaftsmilieus vor dem Hintergrund der sozio-ökonomischen Polarisierung gegeneinander ausgespielt werden“ (ebd.). In diesem Spannungsfeld wird letztlich auch eine Krise der politischen Legitimation und Repräsentation sichtbar, die sich in Entleerung (post-)demokratischer Entscheidungsprozesse, in Polarisierung und Vertrauensverlust gegenüber Gesetzen, Parteien und staatlichen Institutionen äußert (vgl. Michelsen und Walter 2013). Die lokalen Handlungsräume innerhalb dieser Krise der Zersplitterung werden am Fallbeispiel Apolda dargelegt.

Verschärft zutage treten diese ohnehin schwierigen Bedingungen in der ländlichen Peripherie bzw. in Kommunen, die von Prozessen der Peripherisierung betroffen sind. Damit werden Prozesse von Schrumpfung, Alterung oder ökonomischer Perspektivlosigkeit beschrieben und auf eine räumliche Einheit, wie eine Gemeinde, bezogen (Görmar et al. 2020, 7). Innerhalb peripherisierter Orte sind in den letzten Jahrzehnten deutliche Versorgungsdefizite entstanden, die dem Prinzip gleichwertiger Lebensverhältnisse nach §1 Raumordnungsgesetz entgegenstehen, räumliche Verschiedenheiten hervorbringen und Teilhabechancen ungleich verteilen (Vollmer et al. 2021, 18f.). Nicht nur Stadtverwaltungen, sondern auch zivilgesellschaftliche Strukturen verfügen demnach nicht mehr über die notwendigen Ressourcen, um die zutage tretenden Probleme zu bearbeiten. Mit Apolda und Altenburg sind beide hier angeführten Städte von diesen Prozessen – vor allem der demografischen Schrumpfung – in besonderem Maße betroffen (vgl. Butzin und Gärtner 2017).

Diese Teilhabekrise(n) hängen auf vielfache Weise mit der Beschaffenheit gesellschaftlicher Beteiligungsformate und demokratischer Praxis zusammen. Beteiligung kann dabei als eine Form der politischen Teilhabe gesehen werden, bei der Gruppen oder Personen ihre Interessen artikulieren – dies kann auf Einladung oder aus eigener Initiative geschehen. Gesellschaftlichen Gruppen, die entlang der Achsen Klasse, Geschlecht, Ethnizität, körperliche oder geistige Verfassung benachteiligt werden, bleibt jedoch häufig der Zugang zu den Möglichkeiten politischer Teilhabe verwehrt. Marginalisierte Gruppen nehmen sich selbst als Verlierer*innen demokratischer Prozesse wahr und sind daher weniger interessiert an politischen Diskussionen und anfälliger für anti-pluralistische Ansichten (Kaßner und Kersting 2021; für Thüringen vgl. Reiser et al. 2021). Um eine Sensibilität für diese materielle Basis von Beteiligungsarbeit zu erreichen und diese nicht nur punktuell zu begreifen, sondern einen Rahmen für eine dauerhafte Demokratisierung der kommunalen Entscheidungsprozesse zu schaffen, soll hier der Begriff Beteiligungskultur Eingang finden: „Kommunale Beteiligungskulturen sind [...] als Bestandteil der jeweiligen lokalen Demokratie zu begreifen, sie sind eine umfassende Aufgabe, die weit über Stadtplanung und Stadtentwicklung hinausgeht.“ (Bock et al. 2013, 14) Da in der Beteiligungsforschung bereits 2020 festgestellt wurde, dass sich die Bürgerbeteiligung durch die Corona-Pandemie deutlich verändert wird (Paust 2020), ist nun zu klären, welche Wege kommunale Beteiligungskulturen gefunden haben, um mit dem steigenden Druck umzugehen. Gleichzeitig weisen Reiser et al. (2021, 146) im Thüringen-Monitor nach, dass sich „in der Verharmlosung des Virus und im Verschwörungsdenken ein tieferliegendes Misstrauen in die Demokratie mit ihren zentralen Institutionen und Akteuren sowie Deprivationserfahrungen“ widerspiegelt. Durch die Auswahl Thüringer Kommunen und der in Thüringen vorhandenen Überlagerung von rechtsextremen und pandemieskeptischen Einstellungen (ebd.) müssen auch diese Zusammenhänge in den Blick genommen und kritisch reflektiert werden.

Altenburg: Koproduktion als Weg aus der institutionellen Krise?

Wie kann kommunale Koproduktion, verstanden als partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft, in Krisenzeiten Wege aus der institutionellen Krise weisen? Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf das kommunale Machtgefüge? Der folgende Abschnitt beruht auf Feldforschung und theoretisch-konzeptionellen Überlegungen von Svenja Bochinski, Jonas Drilling und Till Mayer, die detaillierter in Bochinski et al. 2022 und Bochinski et al. 2023 zu finden sind. Interviews mit Akteur*innen aus Stadtverwaltung und Initiativennetzwerk „Stadtmensch“ in Altenburg im November und Dezember 2021 liefern hier Anhaltspunkte, inwiefern die viel gerühmte städtische Koproduktion (vgl. Ziehl 2020; Vollmer et al. 2021, 14–16; kritisch dazu Bochinski et al. 2022) die durch Ressourcen- und Personalabbau eingeschränkte Handlungsfähigkeit der Stadtverwaltung kompensieren kann. In den letzten Jahren erlebte der Begriff der städtischen Koproduktion als „Schaffung, Bereitstellung und Verwaltung öffentlicher Güter, die auf einem Zusammenschluss von Interessengruppen aus unterschiedlichen Bereichen beruhen“ (Abt 2022, 251), eine intensive Debatte, auch wenn Selle (2010) darauf hinweist, dass koproduzierte Räume schon viel länger zum alltäglichen Bild der Stadt gehörten.

Die Mittelstadt Altenburg im äußersten Osten Thüringens bildet für diese Fragen den Untersuchungsraum. Während Anfang der 1980er-Jahre noch 55.000 Menschen in der Stadt lebten, waren es Ende 2020 nur noch knapp 31.000 Einwohner*innen. Mit einem Fokus auf kreatives und schrittweises Stadtmachen macht das Netzwerk „Stadtmensch“ Stadtentwicklung seit 2018 für viele Altenburger*innen erfahr- und gestaltbar: Dafür haben, neben einem Stadtfestival, vor allem die Umnutzung innerstädtischer Leerstände für die Einrichtung von dezentralen Nachbarschaftsorten als „Quartiersanker“ gesorgt. Durch spielerische Beteiligungsformate wurden Handlungsfelder in der Stadt identifiziert und gleichzeitig über finanzielle Starthilfen Projekte des Selbermachens unterstützt – vom mobilen Spielecafé über einen „Kulturspäti“ bis zu Bildungs- und Kunst-Veranstaltungen wie den Demokratie-Campus oder „Altenburg am Meer“. Durch diese Vielzahl an Aktivitäten, die u. a. durch Bundesfördermittel möglich wurden, entsteht das Potenzial, Ohnmacht und Pessimismus in der peripher gelegenen Stadt mit einem positiven Imagewandel in der Innen- und Außenwirkung entgegenzutreten. Auch nach Einschätzung des Oberbürgermeisters erfüllt „Stadtmensch“ diese Funktion (Bochinski et al. 2023). Zum Zug kommt hier also eine neuartige intermediäre Akteurin, die sich selbst zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft positioniert. Gleichzeitig entsteht durch das aktive und kreative Handeln des Netzwerks eine nicht zu unterschätzende Gefahr: Innovative Perspektiven auf neue Teilhabe-Chancen der Stadtgesellschaft werden nur noch außerhalb der Verwaltungsstrukturen positioniert. Die Initiative „Stadtmensch“ fokussiert schnelle Sichtbarkeit im Stadtbild sowie die konkrete Selbstwirksamkeitserfahrung von Altenburger*innen (ebd.). Während insbesondere durch die einfach beantragbaren Mikro-Förderungen von Kleinstprojekten niedrigschwellig kulturelle und politische Beteiligung von Einzelpersonen ermöglicht wird, bleiben (sozioökonomische) Barrieren der Teilhabe für weite Teile der Stadtgesellschaft unangetastet (vgl. Galuszka 2019). Dass Beteiligungschancen in der (Stadt-)Gesellschaft ungleich verteilt sind und materiell reproduziert werden, wird in Altenburg trotz teils gelingender Aktivierung durch Interventionen und Gamification-Ansätze kaum thematisiert.

Unter dem Brennglas der Pandemie setzten sich die unterschiedlichen Handlungslogiken von Verwaltung und Zivilgesellschaft fort: Während erstere aufgrund finanziell knapper Budgets lediglich die gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben erfüllte, agierten letztere flexibel und setzten Bundesfördermittel des Programms „Stadt gemeinsam gestalten“ ein, um auf Probleme und Herausforderungen unterschiedlicher Personengruppen aufmerksam zu machen. Obwohl es vereinzelt zu intensiver Zusammenarbeit kam – beispielsweise zwischen Wirtschaftsförderung und „Stadtmensch“ bei der Erarbeitung von Vorstellungsvideos für den lokalen Einzelhandel – ist auch hier eher von einer parallelen Produktion als von einer Koproduktion zwischen Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft zu sprechen. Insgesamt ist auffallend, wie stark sich die zwei Jahre andauernde Einschränkung des öffentlichen Lebens auf die Akteur*innen, insbesondere aus dem zivilgesellschaftlichen Netzwerk, auswirkt. Das Weiterarbeiten wird nach Angaben aus den Interviews vor allem von Müdigkeit und Erschöpfung angesichts sich stets wandelnder Bestimmungen und Maßnahmen erschwert. Informelle und spielerische Beteiligungsformate wie das „Stadtmensch“-Festival oder das „Stadtspieler-Spiel“, die „Stadtmensch“ eine gewisse Legitimierung verliehen und zum Kern der Arbeitsweise gehörten, waren durch die pandemiebezogenen Maßnahmen stark eingeschränkt (Bochinski et al. 2023).

Fördermittel tragen hier zu einer Verantwortungsverschiebung auf nicht staatliche Akteur*innen in der Stadtentwicklung bei, erlauben aber eine gewisse Handlungsfähigkeit in krisenhaften Situationen. Eine bestehende und sich verschärfende Herausforderung ist es, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Mittel für zivilgesellschaftliches Engagement sowie die Chance auf finanzielle Zuwendungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen äußerst ungleich verteilt sind (Butzin und Gärtner 2017, 518–520). Um städtische Koproduktion machtsensibel zu gestalten, braucht es eine Stärkung der Schnittstellen zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft. Hier müsste insbesondere über Beteiligungsbeauftragte und -beiräte an intensiver Zusammenarbeit gearbeitet werden – auch, aber nicht nur, in spontanen Krisenfällen. Allerdings kann nur unter den Voraussetzungen von Demokratisierung und Hierarchieabbau innerhalb der Verwaltung der vielstimmigen Forderung entsprochen werden (vgl. Ziehl 2020), Koproduktion von einem Sonder- zu einem Regelfall in der Stadtentwicklung zu machen.

Apolda: Ehrenamt und Vereine als kommunale Demokratiearbeit?

Welche Rolle spielen organisierte Strukturen des Ehrenamts und der städtischen Demokratiearbeit in der Krise? In welcher Form hat die Corona-Krise Vereine und Ehrenamt herausgefordert? Der folgende Abschnitt beruht auf Feldforschung und theoretisch-konzeptionellen Überlegungen von Sophia Fiedler, Victoria Grau und Noa Wilhelmi, die detaillierter in Fiedler et al. 2023 zu finden sind. Der Untersuchungsraum umfasst hier die Stadt Apolda, eine Mittelstadt in der östlichen Mitte Thüringens mit heute ca. 22.000 Einwohner*innen – 50 Jahre zuvor waren es noch knapp 30.000. Eine wichtige Bezugsgröße für die Forschungsmotivation bildet hier der Erfolg rechtsextremer Parteien: Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die AfD mit 25 % der Zweitstimmen die stärkste Kraft in Apolda, SPD und CDU folgten mit 22,3 % bzw. 19,4 %. Gerade in strukturschwachen peripherisierten Räumen mit einem hohen Maß an demokratiefeindlichen Positionen erhält das Vereinsleben als Raum für Debatten und für gesellschaftliche Integration eine besondere Bedeutung. Inwiefern die Corona-Pandemie hierbei für Veränderungen und Verschiebungen sorgte, konnten Interviews und Befragungen in Apoldaer Vereinen, besonders aus den Bereichen Sport, Soziale Arbeit, Bildung und Kunst, von November 2021 bis Januar 2022 näher beleuchten.

Vereine mit ihrer niedrigschwelligen Ansprache, ihrer (meist) jahrelangen lokalen Verankerung und ihrer mit der Rechtsfigur des Vereins einhergehenden Einflussmöglichkeit der Mitglieder sind nach einhelliger Meinung eine Stütze der lokalen politischen Kultur und Bildung (Sippel 2017, 95): Im sicherlich überschaubaren Rahmen wird permanent demokratisches Handeln eingeübt. Sie fungieren darin als Multiplikatoren, die ein erweitertes Demokratieverständnis jenseits von Parteien und Institutionen „erlebbar“ machen können. Durch die Corona-Pandemie und staatliche pandemiebezogene Maßnahmen sind genau diese Räume jedoch in ihrer Zugänglichkeit begrenzt worden. Aus der subjektiven Sicht von ehrenamtlich in Apolda tätigen Personen stellen Vereine durchaus Institutionen gelebter Demokratie dar, die prinzipiell allen Interessierten offenstehen und freie Teilhabe und Mitwirkung ermöglichen (Fiedler et al. 2023). Schon vor der Pandemie bestehende Ausschlüsse (entlang der oben beschriebenen Achsen Klasse, Geschlecht, etc.) wurden von den Befragten selten bis gar nicht benannt – ebenso wenig wie die Tatsache, dass auch Vereine durchaus anti-pluralistische oder autoritäre Tendenzen aufgreifen und in ihre Praxis integrieren können. Im Kontrast zur positiven Darstellung des Vereinslebens vor der Corona-Krise beschrieben die Befragten die Anpassung an die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie als eine schwer zu bewältigende Aufgabe der Vereinsarbeit (ebd.). Mit Beginn der Corona-Pandemie, spätestens seit März 2020, mussten Aushandlungsprozesse um zwischenmenschliche Nähe und Distanz, neue Kommunikations- und Verhaltensformen sowie Anpassung an die geltende Rechtslage auf der Ebene der Vereine geführt werden. Für die Arbeit der Engagierten und Aktiven wurde dieser direkte persönliche Austausch als unersetzbar eingeschätzt: Konflikte um (nicht-)stattfindende Treffen oder der zeitweise Ausschluss von Mitgliedern von Vereinsaktivitäten konnten dabei vielfach nicht aufgelöst, sondern nur so konstruktiv wie möglich bearbeitet werden. Dass der Umgangston über notwendigerweise genutzte digitale Kommunikationstools dabei häufig aggressiver war als im persönlichen Austausch, belastete die Vereinsstrukturen zusätzlich (ebd.).

Eine besondere Belastung bestand darin, dass insbesondere Maßnahmen wie 2G- oder 3G-Regelungen durch neue Formate kompensiert werden mussten – Neuerungen, die jedoch Präsenzformate weniger ersetzen, als vielmehr erweitern sollten. Dennoch lieferte die Pandemie bzw. die Anpassung an die pandemiebezogenen Maßnahmen wichtige Impulse für die Flexibilisierung der Infrastrukturen. Während die Nutzung digitaler Formate, von Terminabstimmungen bis zu Vorstandssitzungen, zunahm, konnte zugleich festgestellt werden, dass dies die Teilhabechancen zu bestimmten (technikaffineren) Personen und Gruppen verlagerte. Insgesamt vermeldeten alle befragten Vereine und Koordinationsstellen deutlich sinkendende Mitgliederzahlen im Laufe der Pandemie (ebd.).

Das Selbstverständnis und die eigene Rolle der Befragten in Bezug auf Demokratiearbeit als Vermittlung, Einübung und Ausübung demokratischer Handlungsweisen wurde zwar unterschiedlich interpretiert, der entsprechende Bedarf scheint jedoch eindeutig vorhanden zu sein. Die Corona-Pandemie zeigte die gesellschaftspolitische Relevanz in einem Bereich, in dem niedrigschwellige Beteiligung entlang demokratischer Werte zunächst nur als abstrakte Aufgabe der Vereinsverantwortlichen wahrgenommen wurde. Aktive – und häufig auch: Mehrfach-Aktive – wurden jedoch vielfach überlastet, da der schon vorher sehr große Zuständigkeitsbereich stetig zunahm. Vonseiten politischer Institutionen sind hier Unterstützungsmaßnahmen gefragt, die ehrenamtliche Arbeit fördern und zur Entlastung beitragen. Konkret könnten Techniken wie Konfliktmanagement, Gesprächsführung, Moderation, Gruppenabstimmungen, Kombination von Online- und Offline-Methoden als (bezahlte) Fortbildungen der Engagierten etabliert werden. Hier wird erneut deutlich, dass eine gelingende kommunale Beteiligungs-Kultur auch einer ausreichend ausgestatteten Beteiligungs-Struktur bedarf: Die Analyse der Vereinsarbeit, die während der Corona-Krise in Apolda geleistet wurde, zeigt die prekären Bedingungen auf, unter denen Ehrenamtliche beispielsweise Konflikte moderieren und Prozesse demokratisch gestalten. Eine besondere Unterstützung und Professionalisierung der Strukturen des Ehrenamts ist hier vonnöten. Um die Beteiligungskultur fest mit Demokratie(-bildung) zu verbinden, müssen Vereine als zentrale gesellschaftliche Aushandlungs-, Lern- und Sozialisierungsorte eindeutige Anerkennung erfahren. Gleichzeitig ist diese Perspektive eng mit der Vorbeugung von vielfaltsfeindlichen oder autoritären Tendenzen innerhalb von Vereinen verbunden: Zweifelsohne ist nicht jeder Verein intern demokratisch organisiert, hat eine vielfältige Vereinskultur oder verfolgt pluralistische Ziele – auch dies zeigte die Analyse der Situation in Apolda. Die Erfahrungen aus der Corona-Krise zu nutzen, zieht vor diesem Hintergrund auch das Ergreifen von Maßnahmen für Demokratie und Akzeptanz in Vereinen nach sich.

Jenseits des großen Wurfs: Denkanstöße für demokratische Beteiligungskultur nach Corona

Der Druck auf die Demokratie ist durch die Corona-Pandemie zweifelsfrei gestiegen. Globalen Patentlösungen und großen Würfen gilt es jedoch angesichts der kommenden, vermutlich krisenhaften Tage mit Skepsis zu begegnen. Stattdessen können Differenzierung und Detailschärfe hilfreich sein: Der hier vorgenommene Fokus auf kommunale Beteiligungskulturen (und die damit verknüpften Beteiligungsstrukturen) öffnet den Blick für die vielfältigen Strategien, die Stadtverwaltungen und -gesellschaften ergriffen haben. Die im Artikel diskutierten Impulse aus dem Studienprojekt sind durch Umfang und Art des Forschungsdesigns nur sehr begrenzt auf andere Mittelstädte übertragbar. Für die Weiterentwicklung kommunaler Beteiligungsarbeit können die Fallstudien dennoch drei Denkanstöße für die (kommunal-)politische Praxis geben.

Erstens erscheint es lohnenswert, die kommunalen Beteiligungskultur(en) insbesondere in Krisenzeiten genau zu überprüfen und zu evaluieren. Dadurch lassen sich nicht nur Schlüsse für das künftige Krisenmanagement ziehen, sondern auch Lernprozesse zwischen den Kommunen anstoßen. Vor dem Hintergrund der oftmals isoliert handelnden Verwaltungsmitarbeitenden und der insgesamt prekär ausgestatteten Arbeit im Bereich Beteiligungs- und Demokratiearbeit gilt es, diesen interkommunalen Austausch zu stärken. Ähnlich wie „Neustart Kultur“, das umfassende Rettungs- und Zukunftsprogramm für den Kultur- und Medienbereich infolge des Ausbruchs der Corona-Pandemie, bräuchte es dafür beispielsweise ein Bundesförderprogramm „Neustart Demokratie“. Zweitens zeigen die Fallbeispiele, dass es sinnvoll sein kann, engagierten (Schlüssel-)Personen in Vereinen durch Workshops, Kompetenzaustausch und Fortbildungen zu Demokratiearbeit gezielt den Rücken zu stärken, insbesondere um demokratiegefährdende Tendenzen zu erkennen und zu bekämpfen. Dafür braucht es jedoch eine Hinwendung der Stadtverwaltungen zur Zivilgesellschaft und Schnittstellen für Beteiligungskultur – wie es etwa Potsdam mit dem Beteiligungsrat vormacht –, ohne die Verantwortung für eine gelingende Stadtentwicklung auf die Engagierten abzuwälzen. Drittens wird in beiden Fällen deutlich, dass Menschen mit Einkommensarmut oder geringer formaler Bildung in Engagement- und Beteiligungsformaten nach wie vor unterrepräsentiert sind, insbesondere in strukturschwachen Räumen (Butzin/Gärtner 2017). Die Weiterentwicklung kommunaler Beteiligungskultur erfordert es, diese gesellschaftlichen Benachteiligungen und Ausschlüsse von sozioökonomischer Teilhabe zu erkennen und zu hinterfragen.

Diese Impulse und Denkanstöße wirken möglicherweise eher subtil und kleinteilig, bisweilen sogar versteckt. Dennoch kann hier konkrete Verbesserung für Mitwirkungsprozesse, Empowerment der Bewohner*innen und die Akzeptanz demokratischer Prozesse erzielt werden. Auf diese Weise könnten derzeitige Krisen neue Wendepunkte in Richtung einer inklusiveren Demokratie vorwegnehmen.

 

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1    Der Autor bedankt sich bei dem*der anonyme*n Reviewer*in sowie bei der Redaktion der WsD-Schriftenreihe für die zahlreichen hilfreichen Kommentare.

2    Anerkennung und Dank gebührt besonders den Masterstudierenden, die die Studien zu Altenburg und Apolda durchgeführt haben: Svenja Bochinski, Jonas Drilling, Sophia Fiedler, Victoria Grau, Till Mayer, Noa Wilhelmi. Dieser Beitrag beruht auf ihrer Feldforschung im Rahmen des Studienprojekts, auf die an den entsprechenden Textstellen hingewiesen wird. Darüber hinaus gilt der Dank den weiteren Projektteilnehmenden: Laura Bertelt, Laura Biermann-Firek, Pauline Bönisch, Miriam Harst, Lara Paulus, Kaya Peters, Judith Platte, Johanna Reckewerth, Peer Schamuhn, Joel Schülin, Josefine Strüning, Philipp Tommrich, Marcel Weikert, Robin Wieland, Claas-Christian Wilken, Maria Winkler.

3    Weitere Fallstudien beschäftigten sich mit digitalen Quartieren und solidarischer Nachbarschaftshilfe in Jena sowie der Teilhabe von Jugendlichen und Geflüchteten in Erfurt. Die Ergebnisse sind auf der Website uni-weimar. de/projekte/postcoronastadt/ einsehbar und werden veröffentlicht in Brokow-Loga (2023).

Literatur

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