Warum Politiker*innen immer mehr zu Hassobjekten werden
Sehr viele Deutsche misstrauen ihren Politiker*innen (Statista 2022), viele verachten sie und manche drohen ihnen mit Gewalt oder üben sogar Gewalt gegen sie aus. „Kommunalpolitiker werden immer öfter Opfer von Straftaten“, zeigt die im Mai 2022 veröffentlichte Antwort auf eine Anfrage im Bayerischen Landtag (Süddeutsche Zeitung 2022). Politisch motivierte Attentate auf Politiker wie Walter Lübcke (2019) sind zwar die Ausnahme, doch der durch Drohungen verursachte Rückzug von Politiker*innen aus öffentlichen Ämtern nimmt zu. Manche Rücktritte werden öffentlich thematisiert, so der des Bürgermeisters von Trögliz im März 2015, der dazu auch ein Buch veröffentlichte: „Brandgefährlich. Wie das Schweigen der Mitte die Rechten stark macht“ (Nierth 2016). Viele Politiker*innen resignieren aber eher unbemerkt von der Öffentlichkeit: „Bei der Kommunalwahl 2020 hörten so viele Bürgermeister auf wie nie in der Nachkriegszeit. Aus Altersgründen – und wegen Hass, Häme, Respektlosigkeit“ (Süddeutsche Zeitung 2019). Diese Feindseligkeit verursacht auch bei Familienangehörigen Angst: „Der Vierjährige kam zu mir: ‚Papa, ich möchte nicht mehr, dass du Bürgermeister bist.‘ – ‚Warum nicht?‘ – ‚Dann bist du bald tot.‘“ (Die Zeit 2019a) Manchmal finden sich nicht einmal Kandidat*innen für das Amt des*der Bürgermeister*in, beispielsweise in zwei Dörfern der Meininger Region in Thüringen bei der Kommunalwahl im Juni 2022 (inSüdthüringen.de 2022). Andere Politiker*innen entwickeln Angstzustände und Depressionen, etwa Bruno Hönel, der mit 25 Jahren in den Bundestag gewählt wurde (Zeit Online 2022).
Zugespitzt lässt sich fragen: Welche Alternativen zu Rückzug oder Depression haben Politiker*innen? Manche Politiker*innen greifen die erwartete Kritik an ihren Entscheidungen schon im Vorfeld auf: „Wir werden einander viel verzeihen müssen“, hatte der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zu Beginn der Corona-Pandemie vorsorglich gesagt. Oder sie machen keinen Hehl aus ihren Zweifeln und ihrer Unsicherheit, wie der amtierende Wirtschaftsminister Robert Habeck, wenn es um die Lieferung „schwerer Waffen“ an die Ukraine geht.
Doch beide Strategien beinhalten Risiken. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen formuliert vor diesem Hintergrund:
In der Kombination aus Beobachtungsdruck und Reaktionszwang, Authentizitätsverlangen und Perfektionssehnsucht züchtet diese Gesellschaft, ob sie will oder nicht, den Typus des kleinmütigen, visionsfeindlichen, sich hinter Phrasen verschanzenden Angstpolitikers, den sie dann verachtet. (Die Zeit 2019b)
Damit spricht Pörksen ein Problem an, das Ausgangspunkt unseres Argumentationstrainings „Stammtischparolen über Politiker*innen“ ist: die für viele Bürger*innen irritierende Überlegung, dass sie selbst mit dafür verantwortlich sind, wie sich Politiker*innen verhalten. Unser Argumentationstraining betont die Mitverantwortung der Bürger*innen für die politische Kultur im Allgemeinen und die politische Streitkultur im Besonderen. Es thematisiert die Wechselwirkung zwischen Politikerverdrossenheit der Bürger*innen und Bürgerverdrossenheit der Politiker*innen. Das Argumentationstraining sensibilisiert dafür, dass in einer wehrhaften Demokratie auch Bürger*innen pauschalen Vorwürfen, Hassrede (Hate Speech), Drohungen und Gewalt gegen Politiker*innen selbstbewusst entgegentreten müssen.
Argumentationstraining gegen Stammtischparolen über Politiker*innen
Das seit 2012 an der Universität Augsburg bestehende Forschungs- und Praxisprojekt knüpft an das erfolgreiche „Argumentationstraining gegen Stammtischparolen“ von Klaus-Peter Hufer (2008) an. Unser Ansatz fokussiert neben Argumentationshilfen demokratierelevante Dilemmata und die Notwendigkeit, gegenseitig die Perspektiven zu wechseln, um eine diskursorientierte Demokratie zu stärken (vgl. auch Boeser und Wenzel 2019). Inzwischen konnten über 300 Workshops und Vorträge, u. a. in Thüringen, mit ganz unterschiedlichen Zielgruppen erfolgreich durchgeführt werden1.
Stammtischparolen lassen sich als aggressive, zugespitzte, platte, dogmatische, vereinfachende Schwarz-Weiß-Malereien definieren, welche die Welt in „richtig“ und „falsch“ einteilen. Stammtischparolen sind oftmals selbstgerechte Mitteilungen von Menschen, die glauben, ihre Meinung hätte einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
Das Argumentationstraining „Stammtischparolen über Politiker*innen“ basiert auf zwei zentralen Bausteinen:
- Denken in Wechselwirkungen: Das Verhältnis zwischen Bürger*innen und Politiker*innen wird mittels eines Teufelskreises (siehe Abb. 1) verdeutlicht. Am Beispiel dieses Wechselspiels zwischen Politik(er*innen)verdrossenheit der Bürger*innen und Bürger*innenverdrossenheit der Politiker*innen lässt sich illustrieren, wie die einseitige Schuldzuweisung durch ein Denken in Wechselwirkungen überwunden werden kann.
- Denken in Dilemmata: Demokratie enthält fundamentale Dilemmata, die in vereinfachenden und stereotypisierenden Aussagen oft ausgeblendet und vermieden werden. In zahlreichen Entscheidungssituationen findet sich die Politik im Dilemma zwischen gleichberechtigten Alternativen. Dilemmata aufzuzeigen, ist ein geeigneter Weg, deutlich zu machen, dass schnelle, einfache und dauerhaft funktionierende Lösungen in der Politik oftmals nicht möglich sind. Dies fördert nicht nur die politische Urteilsfähigkeit, sondern trägt auch zur Immunisierung gegen vereinfachende Antworten bei.
Denken in Wechselwirkungen: Warum nicht nur die Bürger*innen verdrossen sind
In der Forschung über Politikverdrossenheit (z. B. Boeser 2014; vgl. auch Arzheimer 2002) wird immer wieder bestätigt, dass es insbesondere berechtigt ist, von einer Politikerverdrossenheit zu sprechen: So gehören Politiker*innen zu der Berufsgruppe, der am wenigsten vertraut wird. Beispielsweise ermittelt die Studie „Trust in Professions 2018“, dass nur 14 % der Deutschen ihren Politiker*innen vertrauen. Zum Vergleich: Selbst Versicherungsvertreter*innen vertrauen immer noch 23 % der Befragten (Presseportal 2018). Fragt man Bürger*innen nach den Gründen für das geringe Vertrauen, zeigt sich nicht selten eine sehr harsche Kritik an Politiker*innen. So beispielsweise in der folgenden Interviewpassage mit einem 24-jährigen Fachlageristen2:
Was denken Sie, wenn Sie das Wort Politiker hören? – Korrupte Schweine. Jeder von denen zieht einem nur das Geld aus der Tasche. Hauptsache sie verdienen viel Geld. Sie können gut reden, aber was sie sagen, sind alles Lügen. Sie geben gerne Geld aus, stecken gerne Geld ein, geben davon aber nichts wieder ab.
Angegeben wird u. a., dass Politiker*innen die Interessen der Bürger*innen übergingen, sie abgehoben seien, Expert*innenwissen ignorierten, sich andauernd stritten, sich für die Medien inszenierten, unverständlich redeten, nur an Macht interessiert seien oder nicht hielten, was sie versprächen (vgl. Boeser et al. 2016).
Auch während der Corona-Pandemie ist der kleinste gemeinsame Nenner vieler Bürger*innen eine Kritik an der Unfähigkeit der Politik – unabhängig davon, ob die Corona-Maßnahmen als überzogen oder als zu schwach bewertet werden. Bemerkenswerterweise wird aus offensichtlich bestehenden, sehr unterschiedlichen Positionen in der Bevölkerung nicht etwa geschlossen, dass Politiker*innen hier eine anspruchsvolle Aufgabe haben; eine Aufgabe, bei der es unmöglich ist, alles in den Augen aller richtig zu machen. Vielmehr entsteht bei vielen der Eindruck, dass die Politik wiederholt versagt, zu wenig oder zu viel macht, schlecht kommuniziert und immer wieder unvorbereitet in die nächste Corona-Welle gehe.
In unseren Workshops fragen wir vor diesem Hintergrund nach, warum sich (manche) Politiker*innen so kritikwürdig verhalten. Mit dieser Frage wird ein Perspektivwechsel eingeleitet, der für viele Teilnehmer*innen der Workshops neu ist. Zwar irritierend, aber doch nachvollziehbar ist das, was der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte als „Bevölkerungsverdrossenheit der Politiker“ bezeichnet. Was damit gemeint ist, wird deutlich, wenn man das Buch von Nikolaus Blome liest. In „Der kleine Wählerhasser – Was Politiker wirklich über die Bürger denken“ beschreibt Blome, was Politiker*innen nur in Hintergrundgesprächen zu äußern wagen (Blome 2011; vgl. auch Blome 2008). Blome, der als Leiter des Hauptstadt-Korrespondentenbüros einer Boulevardzeitung etliche derartiger Hintergrundgespräche führen konnte, verdichtet das Bild, welches Politiker*innen von Bürger*innen hätten. Allein eine Auswahl der Kapitelüberschriften aus „Der kleine Wählerhasser“ macht deutlich, dass es kein besonders positives Bild ist: „Der Wähler ist a Sau“, „Vox populi, vox Rindvieh“, „Die Leute interessieren sich doch gar nicht für Politik“, „Ein Drittel Irre ist immer dabei“, „Das kann man nicht laut sagen“ oder „Das verstehen die Leute eh nicht“. Blome betont die Wechselwirkung zwischen Politikerverdrossenheit und Bürgerverdrossenheit: „Die einen überlegen, ob sie überhaupt noch wählen sollen, und die anderen, warum sie überhaupt noch reden sollen“ (Blome 2011, 11; vgl. auch Gysi 2022).
In den Workshops werden die Politikerverdrossenheit der Bürger*innen und die Bürgerverdrossenheit der Politiker*innen nebeneinandergestellt und es wird provokant gefragt: Wer ist schuld? Schnell wird deutlich, dass die Schuldfrage hier nicht weiterhilft, sondern dass es angemessener ist, von Wechselwirkungen zu sprechen. Erkennbar wird ein Teufelskreis zwischen Politikerverdrossenheit der Bürger*innen und Bürgerverdrossenheit der Politiker*innen (Abb. 1).
Abbildung 1: Teufelskreis zwischen Politikerverdrossenheit der Bürger*innen und Bürgerverdrossenheit der Politiker*innen (Illustration Heike Drewelow)
Dies führt zwei Überlegungen zusammen:
- Je mehr Politik(er)verdrossenheit bei den Bürger*innen besteht, umso größer ist die Bürgerverdrossenheit der Politiker*innen.
- Je mehr Bürgerverdrossenheit bei den Politiker*innen besteht, umso größer ist auch die Politik(er)verdrossenheit der Bürger*innen.
Dieser Teufelskreis lässt sich an verschiedenen Themen verdeutlichen (vgl. Boeser et al. 2016), beispielsweise wenn die Teilnehmer*innen in den Workshops gefragt werden, ob sie selbst Mitglied einer Partei sind. Nur wenige bejahen dies und geben darüber hinaus häufig an, dass sie für ihr Engagement in unserer Demokratie nicht gewürdigt, sondern eher kritisiert und verurteilt würden. Diese Skepsis gegenüber Parteien und parteipolitischem Engagement zeigt sich auch in aktuellen Daten. So hat sich die Zahl der Parteimitglieder zwischen 1990 (2,4 Millionen) und 2021 (1,2 Millionen) halbiert – Tendenz weiter sinkend (Bundeszentrale für politische Bildung 2022). In den Workshops folgt an dieser Stelle bewusst kein Vortrag über die Bedeutung von Parteien, sondern die Auseinandersetzung mit einfachen Fragen, welche die Teilnehmer*innen zunächst für sich selbst beantworten:
- Bei dem Wort „Partei“ denke ich …
- Am Bestehen von Parteien finde ich positiv …
- Am Bestehen von Parteien finde ich negativ …
- Wozu brauchen wir eigentlich Parteien?
- Wenn ich am bestehenden Parteisystem etwas verändern könnte, dann würde ich …
Die persönliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen und die anschließende gemeinsame Diskussion führen bei vielen dazu, die eigene pauschale Ablehnung zu hinterfragen. Das erhöht die Bereitschaft, in Wechselwirkungen zu denken. Dann stellt sich die Frage: Wie kommen wir raus aus diesem Teufelskreis? Selbstverständlich ist es auch Aufgabe der Parteien und Politiker*innen, sich für attraktive Beteiligungsmöglichkeiten einzusetzen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber zugleich, dass kritische Bürger*innen in und außerhalb von Parteien immer wieder aufs Neue ihr Recht auf Beteiligung und die Berücksichtigung ihrer Interessen einfordern – nicht larmoyant und verächtlich, sondern selbstbewusst und mit Niveau. Doch genau das findet aktuell zu wenig statt.
Für die Teilnehmer*innen unserer Workshops ist dies ein bedeutendes Aha-Erlebnis: Die Kommunikationsstörung zwischen Bürger*innen und Politiker*innen verstärkt genau das, was Bürger*innen häufig kritisieren, nämlich dass die Distanz zwischen Politker*innen und Bürger*innen so groß ist. Positiv für die politische Handlungsfähigkeit ist die damit verbundene Erkenntnis, dass Bürger*innen hier nicht machtlos sind – sie können sich als politische Subjekte aktiv in den Beteiligungsprozess und den Dialog mit den von ihnen gewählten Entscheider*innen bzw. den sie repräsentierenden Politiker*innen einbringen.
Denken in Dilemmata: Warum widersprüchliche Erwartungen der Normalfall sind
Das geringe Vertrauen in Politiker*innen ist nicht nur durch das Verhalten der politischen Akteur*innen selbst, sondern nicht selten auch durch unreflektierte und unrealistische Erwartungen begründet. Die Corona-Krise ist hier für künftige Zeiten ein Lehrstück, um die grundsätzlichen Dilemmata politischen Handelns zu verdeutlichen. Es ist bemerkenswert, wie viele widersprüchliche Forderungen, wie viel Sehnsucht nach „einfachen“ Lösungen und wie viel Feindseligkeit gegenüber Politiker*innen während der Corona-Pandemie sichtbar wurde. Was bei der Corona-Krise zumindest für manche Bürger*innen offensichtlich ist, nämlich dass es keine einfachen Lösungen gibt, das gilt in etwas milderer Form meist für politische Entscheidungen generell.
Hilfreich für die Reflexion widersprüchlicher Erwartungen ist ein Instrument aus der Philosophie und Kommunikationspsychologie: das sogenannte Werte- und Entwicklungsquadrat.
Abbildung 2: Werte- und Entwicklungsquadrat, hier am Beispiel des Spannungsfeldes zwischen Sparsamkeit und Großzügigkeit (Illustration Heike Drewelow)
Der Kerngedanke des Werte- und Entwicklungsquadrats lautet:
Um den dialektisch strukturierten Daseinsforderungen zu entsprechen, kann jeder Wert (jede Tugend, jedes Leitprinzip, jedes Persönlichkeitsmerkmal) nur dann zu einer konstruktiven Wirkung gelangen, wenn es sich in ausgehaltener Spannung zu einem positiven Gegenwert, einer ‚Schwestertugend‘, befindet. Statt von ausgehaltener Spannung läßt [sic!] sich auch von Balance sprechen. Ohne diese ausgehaltene Spannung (Balance) verkommt ein Wert [...] zu seiner entwertenden Übertreibung. (Schulz von Thun 2006, 38)
Beispielsweise ist Sparsamkeit nur so lange eine Tugend, wie sie kombiniert ist mit der Schwesterntugend Großzügigkeit. Sparsamkeit allein würde zum Geiz übertrieben werden, Großzügigkeit zur Verschwendung (s. Abb. 2).
Als Strategie im Umgang mit Politikerverdrossenheit legt das Denken in Dilemmata die Suche nach Spannungsfeldern nahe. Die Einsicht in bestehende Dilemmata gibt Raum für eine tiefergehende Auseinandersetzung – und diese Einsicht erhöht das Verständnis für das Handeln von Politiker*innen. Beispielsweise stehen Werte wie „individuelle Freiheit“ und „verbindliche gemeinsame Regeln“, um ein Beispiel aus der Corona-Pandemie zu wählen, in Spannung zueinander, die prinzipiell nicht auflösbar ist, sondern immer neu verhandelt und ausbalanciert werden muss.
Stammtischparole: „Politiker halten nie, was sie versprechen“
In unseren Workshops sammeln wir typische „Stammtischparolen“ über Politik und Politiker*innen. Sehr häufig wird die folgende Parole genannt: „Politiker halten nie, was sie versprechen“.
In der Tat gibt es unzählige Beispiele für eine große Diskrepanz zwischen dem, was Politiker*innen beispielsweise im Wahlkampf „versprochen“ haben, und dem, was sie in der Regierungsverantwortung umsetzen. Bemerkenswert ist allerdings, dass Ehrlichkeit im Wahlkampf aus Sicht vieler Politiker*innen nicht zwingend belohnt wird. So wurde es nicht honoriert, als der damalige SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine 1990 im ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlkampf ankündigte, die Wiedervereinigung sei ohne Steuererhöhung nicht zu schultern. Wiedergewählt wurde Kanzler Helmut Kohl, der erklärte, man würde dies problemlos ohne neue Steuern schaffen können (seither gibt es den Solidaritätszuschlag). Ähnlich erging es Angela Merkel im Bundestagswahlkampf 2005, als sie für den Fall ihrer Wahl eine Mehrwertsteuererhöhung von 2 % ankündigte. Die SPD schloss damals eine Steuererhöhung kategorisch aus und konnte in einem nicht mehr erwarteten Endspurt zumindest bis auf ein Prozent an die Union herankommen und diese in eine große Koalition zwingen. Diese große Koalition erhöhte die Mehrwertsteuer dann übrigens um 3 %. Auch die Grünen wurden ernüchtert: Noch im Bundestagswahlkampf 2013 traten sie mit der Ankündigung an, sie würden die Steuern erhöhen. Nach dem für die Grünen enttäuschenden Wahlergebnis kommentierte der Spitzenkandidat Jürgen Trittin lakonisch: „Wir haben unsere Wähler überschätzt“. Selbstverständlich lassen sich in allen drei Fällen weitere Ursachen für die jeweiligen Wahlergebnisse finden, doch insgesamt sind die genannten Parteien im Wahlkampf eher vorsichtiger geworden.
Politiker*innen befinden sich durchgängig in einem Spannungsfeld – von ihnen werden sowohl Wahlversprechen ohne Hintertür erwartet als auch das Einhalten der Wahlversprechen. Das geht leichter, wenn die Wahlversprechen weicher, kompromissoffener formuliert worden sind („Werden uns bemühen ...“). Bemerkenswert ist, dass beide Werte in ihrer entwertenden Übersteigerung Stammtischparolen zur Folge haben (Abb. 3).
Abbildung 3: Werte- und Entwicklungsquadrat zur Stammtischparole: „Politiker halten nie, was sie versprechen“ (Illustration Heike Drewelow)
Unabhängig von Wahlversprechen bringt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen die widersprüchlichen Erwartungen an die Kommunikation von Politiker*innen auf den Punkt:
Rede offen und klar, direkt – aber wenn du das tust, dann legen wir dich die kommenden zwei Jahrzehnte auf deine Äußerungen fest. Und wenn du nur Plastiksprache lieferst, dann attackieren wir dich als Phrasendrescher (Die Zeit 2022).
Dieses Dilemma zeigte sich auch in der Corona-Pandemie: Insbesondere was die längerfristige Entwicklung der Pandemie betraf, beschränkten sich Politiker*innen anfangs auf vage Aussagen. Hätten die verantwortlichen Politiker*innen Anfang 2020 betont, dass sie nicht wissen, wie lange die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen voraussichtlich dauern werden, wäre die Nervosität in der Bevölkerung vermutlich noch größer geworden, als sie es ohnehin schon war. Häufig versuchten Politiker*innen deshalb eher zu beruhigen, die unangenehmen Maßnahmen seien bald vorüber, man müsse jetzt die nächsten Wochen eben auf einiges verzichten.
Stammtischparole: „In der Politik wird zu viel geredet und zu wenig gehandelt“
Eine andere typische und häufig genannte Parole lautet: „In der Politik wird zu viel geredet und zu wenig gehandelt“.
In den Workshops kann durch die gemeinsame Entwicklung eines Werte- und Entwicklungsquadrats das hier bestehende Spannungsfeld aufgezeigt werden: einerseits der Wunsch nach schnellen Entscheidungen und andererseits der Forderung nach umfassender Beteiligung aller Betroffenen. Das Interesse nach zügigen politischen Entscheidungen ist verständlich, insbesondere wenn man als Betroffene*r eine scheinbar endlose Debatte beobachten muss. Es ist aber genauso nachvollziehbar, wenn (unterschiedliche) Betroffene ihre Beteiligung einfordern und ihre (verschiedenen) Interessen sowie Werte berücksichtigt wissen wollen. Dann dauert die Entscheidungsfindung länger.
In den Workshops wird schnell deutlich: Dieses Dilemma lässt sich nicht auflösen, sondern es ist Aufgabe der Politik, zwischen den unterschiedlichen Erwartungen für die jeweilige Situation einen angemessen Weg zu finden (siehe Abb. 4).
Abbildung 4: Werte- und Entwicklungsquadrat zur Stammtischparole: „In der Politik wird zu viel geredet und zu wenig gehandelt“ (Illustration Heike Drewelow)
Auch während der Corona-Pandemie prägte dieses Dilemma das politische Handeln und die Kritik an Politiker*innen. Zu Beginn der Krise wurde häufig das zögerliche Handeln der deutschen Politiker*innen kritisiert („Der Kanzler Kurz in Österreich, der macht das richtig. An dem sollten sich unsere Politiker ein Beispiel nehmen.“). Im weiteren Verlauf der Pandemie wurde kritisiert, dass die Politiker*innen die Bedürfnisse der Bevölkerung ignorierten, beispielsweise im Bild-Kommentar vom 9 Juni 2021: „Schluss mit dem Regel-Wahnsinn im Urlaub!“ (Bild 2021).
Dilemmata erkennen: Beispiel für eine Übung
Das Erkennen von politischen Dilemmata ist ein wichtiger Beitrag zur Erhöhung der politischen Urteilsfähigkeit und damit verbunden der Verringerung von Politikerverdrossenheit. Wie lässt sich das methodisch umsetzen? In einer unserer Übungen teilen wir die Teilnehmer*innen in Kleingruppen ein, die sich vorstellen sollen, im Gesundheitsministerium für die Erstellung einer Informationsbroschüre zu Corona-Impfungen für Bürger*innen verantwortlich zu sein. Die Gruppen haben drei Aufgaben:
- Entscheiden Sie, welche Personen und/oder Gruppen mit in die Zusammenstellung der Inhalte einbezogen werden sollen (Leitfragen: Alle, die wollen? Nur ‚seriöse‘ Wissenschaftler*innen? Expert*innen aller Art? Alle, die sehr kritisch gegenüber der Mehrheitsmeinung sind? Diejenigen, die hinter Corona eine ganz andere Agenda vermuten? Demokratisch gewählte Politiker*innen?)
- Entscheiden Sie, welche Inhalte grundsätzlich in die Broschüre aufgenommen werden sollen und was auch nicht erwähnt werden soll (Leitfragen: Jede Meinung, die zu Corona existiert? Gleichberechtigt? Nur wissenschaftliche Erkenntnisse? Von welchen Wissenschaftler*innen?) Sollen Anweisungen oder Empfehlungen gegeben werden oder soll die Broschüre darauf hinweisen, dass die Bürger*innen für sich selbst verantwortlich sind?
- Welche demokratischen Werte-Dilemmata sind aufgetaucht? Für welchen Wert haben Sie sich letztlich in dieser konkreten Situation entschieden?
Die Arbeitsgruppen diskutieren ihre unterschiedlichen Ansichten und formulieren für jede Aufgabe Kriterien, die sie später im Workshop vorstellen. Wichtige Erkenntnisse aus der Diskussion sind beispielsweise: Alle Entscheidungen für die konkreten Inhalte der Broschüre sind kritisierbar, eine in jeder Hinsicht optimale Lösung ist schlichtweg unmöglich, und auch die Unfähigkeit zur Entscheidung hat Konsequenzen, konkret das Nichterscheinen der Broschüre.
Der „kleine Populist“ in uns allen
Das Argumentationstraining „Stammtischparolen über Politiker*innen“ hinterfragt Gewissheiten und problematisiert einseitige Schuldzuweisungen. Es basiert dabei vor allem auf der Populismusdefinition von Jan-Werner Müller, der für Populismus zwei zentrale Merkmale nennt: erstens die pauschale Kritik an den Eliten und zweitens den Anspruch, für das Volk zu sprechen (Müller 2016). Beides ist aus psychologischer Perspektive für Menschen durchaus attraktiv:
- Mit dem Finger auf andere zu zeigen, z. B. „die da oben“, ist einfach, weil sich damit leicht ein Sündenbock für gesellschaftliche Missstände finden lässt. Die eigene Verantwortung kann bequem abgeschoben werden. Das hat außerdem den Vorteil, dass man seine eigene Position nicht hinterfragen muss. Man hat das gute Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen und klärt die „Schuldfrage“ auf angenehme Weise: Wenn etwas schiefläuft, bin nicht ich verantwortlich.
- Der Anspruch für das Volk zu sprechen, beinhaltet einen selbstgerechten Absolutheitsanspruch, der das Leben vereinfacht. Dieser Anspruch strukturiert die komplizierte politische Welt und vermittelt ein Gefühl von Sicherheit. Das ist der zentrale Grund, warum viele Menschen selbstgerechter sind, als sie es wahrscheinlich von sich selbst vermuten.
Es ist wichtig, dass auch Bürger*innen den kleinen Populisten in sich selbst erkennen und hinterfragen. Und genau dies ist das Kernanliegen des Argumentationstrainings „Stammtischparolen über Politiker*innen“ (vgl. auch Boeser/Wenzel 2020). Als Erwartung an uns alle formuliert dies der Kolumnist Axel Hacke (Süddeutsche Zeitung Magazin 2020):
Wer ein guter Bürger sein will (und jeder sollte doch diesen Anspruch an sich haben), muss den Kreis seiner persönlichen Ziele durchbrechen. Er muss fähig und willens sein, auch an andere und ans Ganze zu denken – nichts anderes hat uns die Corona-Krise gezeigt und zeigt es uns noch. Eine gute Politikerin braucht Respekt vor denen, die sie regiert, und hat diesen Respekt verdient.
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1 Eine kostenfreie Handreichung aus dem aktuellen Projekt „Profil zeigen! Für eine starke Demokratie“ (https:// www.profilzeigen.de/) kann bei den Autoren angefordert werden
2 Im Rahmen mehrerer Projektseminare mit dem Titel „‚Was denken Sie über …?‘ – Die Befragung in der empirischen Sozialforschung“ an der Universität Augsburg führten Student*innen in den letzten Jahren knapp 100 qualitative Interviews mit Bürger*innen und werteten diese anschließend inhaltsanalytisch aus.
Literatur
Arzheimer, Kai (2002). Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffs. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Bild
(2021). Schluss mit dem Regel-Wahnsinn im Urlaub! Online verfügbar unter www.bild.de/sparfochs/2021/sparfochs/kommentar-zur-niedrig-inzidenz-schluss-mit-dem-regel-wahnsinn-im-urlaub-76664516.bild.html (abgerufen am 24.05.2022).
Blome, Nikolaus (2008). Faul, korrupt und machtbesessen? Warum Politiker besser sind als ihr Ruf. Berlin, wjs Verlag.
Blome, Nikolaus (2011). Der kleine Wählerhasser. Was Politiker wirklich über die Bürger denken. München, Pantheon.
Boeser, Christian (2014). Bekommen wir „politikverdrossene“ Lehrer? Ergebnisse einer ersten empirischen Annäherung bei Lehramtsstudierenden. Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, 4/2014, 491–503.
Boeser, Christian/Hufer, Klaus-Peter/Schnebel, Karin B./Wenzel, Florian (2016). Politik wagen. Ein Argumentationstraining. Schwalbach/Ts., Wochenschau Verlag.
Boeser, Christian/Wenzel, Florian
(2019). Qualitätsstandards für „Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen“. Personen, Positionen & Perspektiven. Netzwerk Politische Bildung Bayern. Online verfügbar unter www.argumentationstraining-gegen-stammtischparolen.de/qualitaetsstandards (abgerufen am 24.05.2022).
Boeser, Christian/Wenzel, Florian (2020). Streitet Euch! – 10 Thesen für eine demokratische Streitkultur. In: Lydia Hallhuber-Gassner/Barbara Kappenberg (Hg.). Wege aus der Radikalisierung: Eine Herausforderung auch für die Straffälligenhilfe. Freiburg i.Br., Lambertus-Verlag, 75–96.
Bundeszentrale für politische Bildung
(2022). Mitgliederentwicklung der Parteien. Online verfügbar unter www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/zahlen-und-fakten/138672/mitgliederentwicklung-der-parteien/ (abgerufen am 08.11.2022).
Die Zeit (2019a). Was habt ihr gegen uns? Am Abendbrottisch mit ... Bürgermeistern. Nr. 21 vom 16.05.2019, 58–59.
Die Zeit (2019b). Niemand will. Nr. 26 vom 19.06.2019.
Die Zeit (2022). Warum so gehemmt? Nr. 5 vom 27.01.2022.
Gysi, Gregor (2022). Was Politiker nicht sagen: ... weil es um Mehrheiten und nicht um Wahrheiten geht | Ein anekdotenreicher Blick hinter die Kulissen des Politikbetriebs. Düsseldorf, Econ.
Hufer, Klaus-Peter (2008). Argumentationstraining gegen Stammtischparolen. Materialien und Anleitungen für Bildungsarbeit und Selbstlernen. 8. Aufl. Schwalbach/Ts., Wochenschau Verlag.
inSüdthüringen.de
(2022). Zwei Dörfer ohne Kandidaten. Bürgermeister-Wahl. Online verfügbar unter www.insuedthueringen.de/inhalt.buergermeister-wahl-zwei-doerfer-ohne-kandidaten.78b8edcc-e2a5-4984-bd1a-4a93bc66a2a0.html (abgerufen am 11.11.2022).
Müller, Jan-Werner (2016). Was ist Populismus? Ein Essay. Berlin, Suhrkamp Verlag.
Nierth, Markus/Streich, Juliane (2016). Brandgefährlich. Wie das Schweigen der Mitte die Rechten stark macht. Berlin, Ch. Links Verlag.
Pressepotal
(2018). Ergebnisse der Studie "Trust in Professions 2018" des GfK Vereins. Online verfügbar unter www.presseportal.de/pm/80428/3896941 (abgerufen am 11.11.2022).
Schulz von Thun, Friedemann (2006). Miteinander reden: 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Hamburg, Rowohlt.
Statista
(2022). Umfrage zum Vertrauen in verschiedene Berufsgruppen in Deutschland 2017. Online verfügbar unter de.statista.com/statistik/daten/studie/1470/umfrage/vertrauen-in-verschiedene-berufsgruppen/ (abgerufen am 08.11.2022).
Süddeutsche Zeitung (2019). Bürde statt Würde. Nr. 147 vom 28.06.2019, R15.
Süddeutsche Zeitung
(2022). Kommunalpolitiker werden immer öfter Opfer von Straftaten. Online verfügbar unter www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-kommunalpolitiker-straftaten-hass-und-hetze-1.5589607 (abgerufen am 11.11.2022).
Süddeutsche Zeitung Magazin (2020). Das Beste aus aller Welt. Heft 25 vom 18. Juni 2020, 34.
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(2022). Ich bekam Angstzustände. Online verfügbar unter www.zeit.de/2022/20/bruno-hoenel-gruene-bundestagsabgeordneter-depression (abgerufen am 11.11.2022).