Wie geschlechtsbasierte Gewalt und andere Hassattacken gegen Politiker*innen zusammenhängen

Empfohlene Zitierung:

Beck, Dorothee (2023). Wie geschlechtsbasierte Gewalt und andere Hassattacken gegen Politiker*in- nen zusammenhängen. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demo- kratie. Schwerpunkt Antifeminismus & Hasskriminalität, Band 13, Online-Ausgabe. Jena, 222–235.

Schlagwörter:

Geschlechtsbasierte Gewalt, Gewalt gegen Politiker*innen, Online-Gewalt, Intersektionalität, Demokratie

 


Hassattacken auf und Gewalt gegen Politiker*innen haben in den letzten Jahren zugenommen, vor allem online, aber auch offline. Bei Frauen und anderen nicht-cis-männlichen Personen spielen auch sexualisierte Angriffe eine große Rolle. Der Beitrag diskutiert die bisher lückenhaften Befunde zu diesem Problem und reflektiert, wie Geschlecht mit anderen Dimensionen sozialer Differenzierung bzw. mit politischen Positionierungen bei solchen (Sprach-)Handlungen zusammenhängen. Dass Gewalt-Erfahrungen das politische Handeln beeinflussen, ist nicht von der Hand zu weisen. Deswegen wird im Resümee die bis heute nicht beantwortete Frage aufgeworfen, in welcher Hinsicht (Gewalt begünstigende) Hierarchien und Gewaltverhältnisse in politischen Öffentlichkeiten Demokratie insgesamt beeinträchtigen.


Einführung

Am 25. Januar 2023 trat Neuseelands Ministerpräsidentin Jacinda Ardern von ihrem Amt zurück. Sie habe nicht mehr genügend Kraft, sagte die Labour-Politikerin. Allgemein wird davon ausgegangen, dass es neben den allgemeinen Belastungen eines solchen Amtes auch Vergewaltigungs- und Morddrohungen im Netz waren, die Ardern ausgelaugt haben (Schmitz 2023). In Deutschland gibt es ebenfalls solche Beispiele. So wurde die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Bela Bach nicht mehr für die Bundestagswahl 2021 als Kandidatin nominiert. Sie hatte sexistische Übergriffe männlicher Abgeordneter, auch der eigenen Fraktion, öffentlich gemacht (dpa und müh 2021). Die Karriere der Berliner CDU-Politikerin Jenna Behrends ist ebenfalls zu Ende. Sie hatte in einem offenen Brief Übergriffe ihrer männlichen Parteikollegen angeprangert (Rennefanz 2017).

Bekannt wurde insbesondere der Kampf der Grünen-Politikerin Renate Künast. Künast musste sich die Herausgabe der Klarnamen von Personen, die sie in sozialen Medien unflätig angegriffen hatten, vor dem Bundesverfassungsgericht erstreiten. Auch die Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli berichtet seit Jahren über rassistische und sexistische Kommentare in sozialen Medien. Die beiden ersten trans Abgeordneten im Bundestag, Tessa Ganserer und Nyke Slawik (beide Bündnis 90/Die Grünen), werden immer wieder misgegendert1. Madeleine Henfling, Fraktionsgeschäftsführerin der Grünen im Thüringer Landtag, sagt, Drohungen und Hass-Kommentare erhalte sie besonders häufig, wenn sie sich zu Rechtsextremismus äußere (Henfling 2020, 226).

Andernorts bleibt es nicht bei Drohungen: Die britische Unterhausabgeordnete Jo Cox, die sich für den Verbleib Großbritanniens in der EU engagiert hatte, wurde 2016 von einem fanatisierten Brexit-Anhänger getötet (Bardall et al. 2020, 917). In Brasilien wurde die queere Schwarze Politikerin Marielle Franco im März 2018 ermordet (Wylie 2020).

Ziel der Angriffe ist die physische und psychische Integrität von Politiker*innen als öffentlich sichtbare Personen. Die analytische Einordnung der Übergriffe als sexistisch, antifeministisch, rassistisch, LGBTIQ+-feindlich oder anderweitig erniedrigend und diskriminierend erscheint für die betroffene Person zunächst zweitrangig. Gleichwohl ist es wichtig, intersektional Interdependenzen von geschlechtsbasierter Gewalt mit anders motivierten Angriffen in den Blick zu nehmen. Werden Politiker*innen ‚nur‘ wegen ihres Geschlechts angegriffen? In welcher Hinsicht interagieren Sexismus oder Antifeminismus2 mit anderen Motivationen? Welche Intentionen und Effekte sind damit verbunden? Die Forschung zu diesen Fragen steht erst ganz am Anfang (vgl. Frey 2020, 1).

In diesem Aufsatz erläutere ich Befunde zu Phänomen und Häufigkeit geschlechtsbasierter Gewalt gegen Politiker*innen, auch online, skizziere mögliche Intersektionen, reflektiere die Effekte von Gewalterfahrung auf Politiker*innen und resümiere die Auswirkungen auf Demokratie als Ganzes.3

 

Gewalt und Geschlecht: Begriffe und Konzeptualisierungen

Der in der UNO verbreitete Begriff geschlechtsbasierte Gewalt meint „verletzende Handlungen, die gegen eine Person aufgrund ihres Geschlechts gerichtet sind. Sie hat ihre Wurzeln in der Ungleichheit der Geschlechter, dem Missbrauch von Macht und schädlichen Normen“ (UNHCR o. J.). Carol Hagemann-White (1992, 23) präzisiert diese Definition, indem sie auch auf die seelische Integrität einer Person, auf die Geschlechtlichkeit des Opfers und des*der Täter*in sowie auf die Ausnutzung eines Machtverhältnisses abhebt. Zu diesem Gewaltbegriff gehören körperliche Gewalt, psychische Gewalt, sexuelle oder sexualisierte Gewalt sowie ökonomische Gewalt, v.a. die Beschneidung materieller Lebensgrundlagen. Auch die ernst zu nehmende Drohung mit Gewalt fällt unter diese Definition.

Damit ist der Begriff geschlechtsbasierte Gewalt breiter als der verbreitete Begriff sexuelle oder sexualisierte Gewalt. Letzterer bezeichnet direkte personale Gewalt durch sexuelle Handlungen mit dem Ziel, Macht über eine Person auszuüben und sie zu unterwerfen. Der Begriff sexualisiert zeigt an, dass es nicht um Sex geht, sondern Sex nur das Mittel zum Zweck ist. Geschlechtsbasierte Gewalt hingegen umfasst Handlungen bis hin zum Femizid: Prügel, Einsperren, Verweigerung von Nahrung oder Geld, verbale Abwertungen und Verunglimpfungen v.a. in einer Öffentlichkeit oder das Misgendern von trans Personen. Die Frage, ob eine bestimmte Handlung ‚schon Gewalt‘ oder ‚nur‘ übergriffig oder beleidigend ist, hängt dabei vom Erleben der betroffenen Person ab, aber auch vom Hergang und von den Umständen, von beobachtenden Dritten, von Ursachen, Zielen, Motiven und Rechtfertigungsmustern (Imbusch 2002, 34–36). Die einzelne Handlung zu betrachten, greift zu kurz. Vielmehr ist Gewalt eine lebenslange Erfahrung vieler Frauen4 und anderer Gruppen. Individuelle Gewalterfahrung kann dabei zwischen scheinbar nichtigen Episoden und manifester Gewalt pendeln. Deswegen spricht Liz Kelly (1978) von „Gewalt als Kontinuum“.

Dieses Kontinuum, das Kelly in einer Zeit konzeptualisierte, als das Internet noch nicht der breiten Öffentlichkeit offen stand, erstreckt sich auch auf den digitalen Raum (vgl. van der Wilk 2018). Hate Speech und Hasskommentare sind nicht ‚bloß‘ E-Mails oder Postings, die man ignorieren oder löschen kann. Vielmehr ist Online-Gewalt oder digitale Gewalt genauso real wie Gewalt im ‚wirklichen Leben‘. Denn das ‚wirkliche Leben‘ findet zunehmend im virtuellen Raum statt. Deswegen existieren die Wechselwirkungen und Verwobenheiten, die mit Kellys Begriff des Kontinuums gemeint sind, auch hier (Frey 2020, 4). Dabei hat sich im digitalen Raum eine neue Qualität von Gewalt entwickelt, zu der eine Vielzahl von (Sprach-)Handlungen gehört und für die es noch keine einheitliche Definition gibt (Frey 2020, 6; 63–67). Aus pragmatischen Gründen benutze ich im Folgenden den Begriff Online-Gewalt.

Zwar ist gut dokumentiert, dass Frauen von personaler geschlechtsbasierter Gewalt am stärksten betroffen sind (z. B. Bundeskriminalamt 2022, 37). Sie sind jedoch nicht die Einzigen. Und nicht alle Frauen sind gleichermaßen betroffen. So sind migrantische Frauen sexualisierter rassistischer Gewalt ausgesetzt. Zu den besonders betroffenen Gruppen gehören auch LGBTIQ+ sowie Männer, die nicht dem traditionellen Männlichkeitsideal entsprechen oder die profeministisch agieren (Frey 2020, 5).

Geschlechtsbasierte personale Gewalt gegen Politiker*innen ist in strukturelle und normative Gewaltverhältnisse in der Gesellschaft eingebettet (Bereswill 2011; Ludwig 2015; Sauer 2011). Durch den historischen Ausschluss von Frauen von politischer Macht konnte sich ungehindert eine maskulistische politische Kultur entwickeln (Kreisky 2000), die erst in jüngerer Zeit von einer steigenden Zahl selbstbewusster und durchsetzungsfähiger Frauen und der zunehmenden Sichtbarkeit von LGBTIQ+ in der Politik herausgefordert wird. Das schürt Konkurrenz und begünstigt Gewalt (Beck 2020).

 

Geschlechtsbasierte Gewalt gegen Politiker*innen: empirische Befunde

Trotz der Betroffenheit auch anderer Geschlechter beschränkt sich die empirische Forschung über Gewalt gegen Politiker*innen weitgehend auf Frauen (Ausnahmen: Håkansson 2021, 515; Herrick et al. 2019; Überblick: van Bavel 2022; Beck 2020).

Geschlechtsbasierte Gewalt gegen Politikerinnen ist ein weltweites Phänomen. Nach einer explorativen, nicht-repräsentativen Erhebung der Interparlamentarischen Union (IPU) unter 55 weiblichen Parlamentsabgeordneten weltweit hatten 82 % psychische Gewalt, 33 % ökonomische Gewalt, 25 % physische Gewalt und 22 % sexualisierte Gewalt erlebt (IPU 2016). Eine weitere Befragung von 81 Europaabgeordneten aus unterschiedlichen Ländern und 42 Mitarbeiterinnen brachte hervor, dass jüngere Frauen häufiger betroffen sind als ältere (IPU 2018). Nach einem UNO-Bericht über Gewalt gegen Frauen in der Politik sind die Haupttätergruppe Abgeordnete der eigenen und anderer Fraktionen, daneben auch Mitglieder politischer Parteien, Wähler, Medienvertreter oder religiöse Führer (Simonovic 2018, 6 Ziff. 15)5. Gemäß Håkansson (2021) werden Spitzenpolitikerinnen, die im Fokus der Medien stehen, und solche, die sich für (migrantische) Minderheiten einsetzen, besonders häufig attackiert. Erikson et al. (2021) betonen, dass ethnische Minderheiten und LGBTIQ+ in spezifischer Weise schwerwiegend angegriffen werden.

Im Zuge der #MeToo-Debatte wurden sexuelle Belästigung und Gewalt im Europaparlament untersucht (Berthet und Kantola 2020). Auf Basis der IPU-Studie 2018 und eines Berichts an die Parlamentarische Versammlung des Europarats (Ævarsdóttir 2019) lancierte diese die Kampagne #NotInMyParliament (Parliamentary Assembly of the Council of Europe o. J.).

Über die Situation im Bundestag gibt es jenseits von Einzelfällen, die an die Öffentlichkeit gelangen, wie die von Bela Bach oder Renate Künast, nur wenig Erkenntnisse. In der Studie „Parteikulturen und die politische Teilhabe von Frauen“ (Lukoschat und Köcher 2021), für die 800 Politikerinnen auf kommunaler Ebene, Landes- und Bundesebene befragt wurden, berichteten rund 40 % der Befragten von Erfahrungen mit sexueller Belästigung (alle folgenden Zahlen: Lukoschat und Köcher 2021, 43). Bei 3 % geschah das öfter, bei 12 % gelegentlich und bei 25 % selten. Betroffen sind Politikerinnen aller im Bundestag vertretenden Parteien, wenn auch – nach eigenen Angaben – in unterschiedlichem Ausmaß und auf kommunaler Ebene seltener als im Bundes- und den Landesparlamenten: FDP: 56 %, Grüne: 52 %, Linke: 4 9 %, SPD: 39 %, CDU/CSU: 33 %, AfD: 15 %. Vielfach heißt es, der Sexismus im Bundestag habe seit dem Einzug der AfD ins nationale Parlament 2017 zugenommen (Lukoschat und Köcher 2021, 53). Gleichwohl darf dies nicht von übergriffigem Verhalten von Politiker*innen anderer Fraktionen gegenüber weiblichen Abgeordneten und Mitarbeiterinnen ablenken (vgl. Müller et al. 2019).

Speziell zu Online-Gewalt gegen Politiker*innen gibt es international einige Untersuchungen, die jedoch kein umfassendes oder einheitliches Bild bieten. Danach sind praktisch alle Politiker*innen, die soziale Medien nutzen, Online-Attacken ausgesetzt (Akhtar und Morrison 2019; Phillips et al. 2023). In Deutschland ergibt sich nach Lukoschat und Köcher (2021) ein differenzierteres Bild, wie die folgende Tabelle zeigt.
 

 

Tabelle 1: Anfeindungen von deutschen Politiker*innen in sozialen Medien (Quelle: Lukoschat und Köcher 2021, 49)

Im Durchschnitt sind demnach Politikerinnen mit 60 % um 14 Prozentpunkte seltener betroffen als Politiker mit 74 %. Dies variiert jedoch je nach politischer Ebene erheblich. Auf Bundesebene machen praktisch alle Politikerinnen diese Erfahrung. Auf Landesebene berichten drei Viertel von Anfeindungen online, auf kommunaler Ebene weniger als die Hälfte. Während internationale Studien besagen, dass Männer wie Frauen in etwa gleich häufig online angegriffen werden (u. a. Erikson et al. 2021; Esposito und Breeze 2022) geben 16,8 % der Politikerinnen, aber nur 3,1 % der Politiker an, schon einmal online belästigt worden zu sein (Lukoschat und Köcher 2021, 50). Männer werden überwiegend in ihrer Rolle als Politiker angegriffen, während Frauen als Geschlechtswesen attackiert werden (Erikson et al. 2021). Sie erleben u. a. Angriffe auf ihre Kompetenz, ihren Charakter, ihre politischen Erfolge und ihr Aussehen. Je höher die politische Position und je sichtbarer die Politikerinnen sind, desto wahrscheinlicher sind Online-Attacken (Rheault et al. 2019). Und offensichtlich sind Frauen aus ethnischen Minderheiten und niedrigen sozialen Schichten mehr Angriffen ausgesetzt als weiße Politikerinnen mit hohem sozialen Status und hohem Bildungsgrad (Esposito und Breeze 2022). Auch in Deutschland variiert die Betroffenheit nach ethnischer Herkunft und Alter erheblich (Lukoschat und Köcher 2021, 50):

  • Politikerinnen mit Migrationshintergrund: 20,8 %
  • Politikerinnen unter 45 Jahren: 35,7 %
  • Politikerinnen zwischen 45 und 54 Jahren: 17,9 %
  • Politikerinnen über 55 Jahre: 6,3 %

Dieser grobe Überblick zeigt, dass es ein massives Problem mit unterschiedlichen Formen übergriffigen und gewaltvollen Verhaltens gegenüber Politikerinnen gibt. Er zeigt aber auch die Lücken im Forschungsstand: Weder wurden alle Gewaltformen detailliert untersucht noch sind die Untersuchungen repräsentativ. Geschlechtervergleichend wurde nur vereinzelt vorgegangen. Wie es mit Männern und Menschen anderen Geschlechts aussieht, ist weiterhin unterbelichtet. Gleiches gilt für die Bedeutung der Kategorie Geschlecht bei unterschiedlichen Formen von personaler Gewalt und der Interdependenz geschlechtsbasierter Gewalt und anders motivierter Gewaltformen.

 

Hassattacken: Geschlecht im Fokus

Alter, Spitzenposition, Einsatz für (migrantische) Minderheiten, eigener migrantischer Hintergrund, LGBTIQ+ – all diese Differenzierungskategorien sind für die Betroffenheit von Gewalthandlungen bedeutsam. Das deckt sich mit einer Untersuchung von Geschke et al. (2019), der zufolge neben Politiker*innen vor allem Geflüchtete, migrantische Menschen sowie Muslim*innen besonders häufig Online-Gewalt ausgesetzt sind. Obwohl solche Zusammenhänge von geschlechtsbasierter Gewalt und Online-Gewalt noch nicht annähernd beforscht sind, lassen sich strukturelle Ähnlichkeiten erkennen. So kann sowohl antifeministische als auch rassistisch bzw. rechtsextrem motivierte Gewalt als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit konzeptualisiert werden (Küpper und Zick 2015). Menschen werden aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit diskriminiert und angefeindet, und zwar weil sie die Dominanz des weißen (cis) Mannes herausfordern. Außerdem verstärken sich diese Gewaltformen gegenseitig, teilweise mithilfe von Verschwörungstheorien. Dies haben die Rechtfertigungen der Attentäter von Halle 2019 und Hanau 2020 gezeigt (Rahner 2020).

Zwar werden Politiker*innen jeden Geschlechts attackiert. Die Morddrohung gegen den Mann ist dabei nicht weniger bedrohlich als die Vergewaltigungsdrohung gegen die Frau. Im Folgenden weise ich dennoch auf einige Aspekte hin, die vermuten lassen, dass Frauen und LGBTIQ+ verletzungsoffener für Online-Gewalt sind als cis Männer:

  • Das Geschlechterstereotyp der schwachen Frau lässt diese als leichte Beute erscheinen, zumal sexualisierte Gewalt trotz der Reform des Sexualstrafrechts weithin nach wie vor als Kavaliersdelikt oder ‚Ausrutscher‘ gilt.
  • Nur LGBTIQ+ erfahren in ähnlicher Weise wie Frauen sexualisierte Gewalt.
  • In der Frau als Projektionsfläche kreuzen sich zwei Feindbilder: das der Feministin, die die bürgerliche Kleinfamilie und die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung infrage stellt, und das der Politikerin, die durch ihre Politik die Identität der Nation gefährdet. Damit bietet sich gleichsam eine doppelte Rechtfertigung für Attacken.
  • Nicht zuletzt werden im öffentlichen Diskurs Frauenhass und Antifeminismus weniger wahr- und ernst genommen als beispielweise Rassismus oder Antisemitismus. So wurde die antifeministische Selbstrechtfertigung der Terrorattacken in Halle und Hanau vergleichsweise wenig zur Sprache gebracht (Rahner 2020).

Aufgrund dieser Aspekte sollte die Kategorie Geschlecht als Fixpunkt für alle möglichen Motivationen für von Hass getriebene Attacken betrachtet werden.

 

Mit Gewalt-Erfahrung umgehen: Effekte

Gewalt gegen Politiker*innen geschieht nicht einfach, weil es misogyne oder sexistische Männer gibt. Gewalt hat Ziele und Effekte. Dabei ist es wichtig, zwischen Zielen, Intentionen und Motivationen der Täter*innen und Effekten, also Auswirkungen auf das Handeln der betroffenen Politiker*innen, zu unterscheiden. Ziele, Intentionen und Motivationen der Täter*innen lassen sich vor allem über deren Befragung erheben.6 Gleichwohl spricht auch ohne solche Untersuchungen einiges dafür, dass mit den unterschiedlichen Formen von geschlechtsbasierter Gewalt in politischen Institutionen bedrohte Männlichkeiten resouveränisiert (Beck 2020), also die vermeintlich verlorene männliche Vormachtstellung wieder hergestellt werden soll (vgl. Forster 2006). Der gleiche Hintergrund lässt sich auch bezogen auf rechtsextremistische und rassistische Gewalt annehmen (u. a. Beck 2021; Claus et al. 2010; Rahner 2020, 347–349). Insofern kann ein Zusammenhang angenommen werden. Bezogen auf politische Institutionen ist das jedoch weitgehend eine Leerstelle in der Forschung. Hingegen ist einiges über die Effekte von geschlechtsbasierter Gewalt sowohl online als auch offline bekannt. Van Bavel (2022) hat die Wirkung von Gewalt gegen Frauen in der Politik mit drei Mechanismen konzeptualisiert:

  1. Geschlechtsbasierte Gewalt schafft ein feindseliges Arbeitsumfeld – und das auch in Parlamenten, in denen Frauen annähernd paritätisch vertreten sind (vgl. auch Wagner 2022).
  2. Frauen werden als politische Akteurinnen zum Schweigen gebracht: Sie werden etwa in den sozialen Medien so sehr mit Hass-Mails und Anfeindungen überschwemmt, dass sie mit ihren eigenen Botschaften nicht mehr durchdringen. Sie werden vorsichtiger bei öffentlichen Stellungnahmen, um keine Angriffsfläche für Hasstiraden zu bieten. Und sie werden in der politischen Debatte schlicht nicht so ernst genommen wie männliche Kollegen.
  3. Politikerinnen werden daran gehindert, ihre eigentliche politische Arbeit zu machen. Stattdessen bindet die Auseinandersetzung mit den Angriffen ihre Ressourcen.

Van Bavel (2022) hat für Belgien Hinweise darauf gefunden, dass geschlechtsbasierte Gewalt Frauen zwar nicht davon abhält, in die Politik zu gehen, wohl aber dort zu bleiben (vgl. auch Esposito und Breeze 2022 für Großbritannien). Hingegen stellen Erikson et al. (2021) für Schweden fest, dass Männer nach schwerwiegenden Angriffen häufiger darüber nachdenken, die Politik zu verlassen als Frauen. Sie erklären diesen Befund damit, dass Frauen Gegenwind bereits antizipiert haben, wenn sie in die Politik gehen. Jedoch, so Erikson et al., berichten Politikerinnen häufiger als Politiker von Selbstzensur und vorsichtigerem Agieren in sozialen Medien.

 

Eine Frage der Demokratie: Resümee

Da geschlechtsbasierte Gewalt auf die eine oder andere Weise die politische Partizipation von Frauen und LGBTIQ+ beschädigt, schränkt sie Demokratie insgesamt ein (Bardall et al. 2020; Krook 2017, 75). Allerdings ist die Frage noch nicht genügend beforscht, in welcher Hinsicht das geschieht und wie Demokratie ohne vergeschlechtlichte Hierarchien und Gewaltverhältnisse zu denken wäre (Beck 2020).

Ausgangspunkt demokratietheoretischer Überlegungen zu geschlechtsbasierter (und generell vom Hass getriebener) Gewalt gegen Politiker*innen müsste sein, sich von der Illusion politischer Öffentlichkeiten als herrschaftsfreie Räume zu verabschieden. Es ist nicht oder zumindest nicht überwiegend der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas), der sich in politischen Systemen durchsetzt, die als liberale Demokratie bezeichnet werden. Vielmehr sind politische Öffentlichkeiten und damit politische Diskurse auch von vergeschlechtlichten Hierarchien und Gewaltverhältnissen durchwirkt. Ob sich ein „besseres Argument“ durchsetzt, hängt also nicht nur von dessen überzeugender Darlegung ab, sondern vor allem auch von der hierarchischen Position der Person, die dieses Argument vorbringt. Ob und wie das zu ändern wäre, ist eine demokratietheoretisch offene Frage, die dringend diskutiert werden muss.

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1    Misgendern meint das Ansprechen mit dem falschen Geschlecht.

2    Ich betrachte Sexismus als Verhalten von Individuen oder Gruppen und Antifeminismus als politische Haltung.

3    Dieser Aufsatz ist eine Überarbeitung meines Vortrags „Politiker*innen und Aktivist*innen: Wie sexualisierte Gewalt und Hass-Kriminalität interagieren“ bei der Fachtagung des IDZ zu „Antifeminismus und Hasskriminalität“ am 10. und 11. November 2022 in Jena. Anders als der Begriff Hass-Kriminalität vermuten lässt, befasse ich mich jedoch nicht mit der strafrechtlichen Relevanz von Hass-Attacken.

4    Ich bezeichne alle Personen als Frau, die sich selbst so identifizieren, unabhängig davon, ob sie dieses Geschlecht bei der Geburt zugewiesen bekommen haben oder nicht.

5    Da im Englischen Substantive kein Geschlecht haben, ist unklar, ob tatsächlich ausschließlich Männer gemeint sind.

6    Zur Befragung von gewalttätigen jugendlichen Straftäter*innen siehe Bereswill (2011).

 


Dorothee Beck, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Sie leitet dort das Forschungsprojekt „‚Not in my Parliament‘. Gewalt und Geschlecht im Deutschen Bundestag aus intersektionaler Perspektive“. Forschungsschwerpunkte: politische Partizipation und Geschlecht, Antifeminismus/Anti-Gender.


 

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