Am 28. Oktober 2022 drang ein 42 Jahre alter Kanadier in das Haus der damaligen Sprecherin des Repräsentantenhauses der USA und Demokratischen Politikerin Nancy Pelosi ein und attackierte den Ehemann der Politikerin, Paul Pelosi, mit einem Hammer. Paul Pelosi musste mit mehreren Schädelbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Der Angriff galt eigentlich seiner Frau – die als eine der wichtigsten Demokratinnen seit Jahrzehnten Zielscheibe misogyner Angriffe ist. Recherchen ergaben, dass der Täter begeisterter Leser der Autoren Jordan B. Peterson und James Lindsay war, deren Arbeit hauptsächlich aus Hassreden gegen eine „kulturmarxistische und feministische Woke Agenda“ besteht, außerdem ist er Anhänger der antisemitischen QAnon-Verschwörungsideologie. Weitere Momente der Radikalisierung waren die gegen Frauen aus der Videospielszene gerichtete „GamerGate“-Kampagne und die Hasskampagne gegen die Schauspielerin Amber Heard (Klee und Rawnsley 2022). Heard wurde von ihrem Ex-Mann, dem Schauspieler Johnny Depp, der Verleumdung bezichtigt, nachdem sie in einer Kolumne in der Washington Post über ihre Erfahrungen als Aktivistin gegen häusliche Gewalt geschrieben hatte(Heard 2018). Der im Bundesstaat Virgina geführte und live ausgestrahlte Gerichtsprozess wurde von einer misogynen Hass- und Desinformationskampagne begleitet, die nicht nur in ihrer Brutalität ihresgleichen sucht, sondern an der sämtliche gesellschaftlichen Milieus, diverse Unternehmen, Social Media-Portale und vor allem die antifeministische Bewegung partizipiert haben. Letztere hat den Prozess aktiv genutzt, um vor allem junge Männer in den organisierten Antifeminismus und die radikale Rechte zu rekrutieren. Denn Frauenhass, gekränkte Männlichkeit und Antifeminismus stellen einige der wichtigsten „Türöffner“ nach Rechtsaußen dar (Anti-Defamation League 2018).
Misogynie – Eine Begriffserklärung
Wie Manne (2020) im Buch „Down Girl – Die Logik der Misogynie“ ausführt, handelt es sich bei Misogynie weniger, wie gesellschaftlich angenommen, um einen allgemeinen Frauenhass, sondern um einen Straf- und Kontrollmechanismus des Patriarchats. Dieser greift, so Manne, sobald Frauen und weiblich gelesene Personen patriarchalen Ansprüchen an Weiblichkeit nicht genügen (wollen) . Diese Anforderungen an Frauen sind: a) das Bereitstellen „weiblich codierter Güter“ (Zeit, Aufmerksamkeit, Nähe, Anerkennung, Pflege, Reproduktionsarbeit, Freundlichkeit, Sex, aber auch patriarchale Schönheitsnormen) und b) das Nicht-Einfordern „männlich codierter Güter“ (öffentlicher Raum, Erfolg, Sichtbarkeit, Respekt, Anerkennung). Innerhalb dieser Verhältnisse sind Männer es gewohnt, von ihrer patriarchalen Vormachtstellung zu profitieren und sind demzufolge geneigt, ihre Vormachtstellung und jene Strukturen, die sie garantieren, zu verteidigen. Ich-schwache Männer, bei denen der Bezug zum eigenen Geschlecht einen großen Teil ihrer Identität und Persönlichkeit ausmacht, empfinden feministische Kämpfe jedoch nicht nur als Angriff auf ihre Vormachtstellung, sondern auf die eigene Person und Identität. Da hegemoniale Männlichkeit, wie bereits dargelegt, auf der Abwertung des Nicht-Männlichen basiert, müssen Kämpfe, die diese Abwertung infrage stellen oder gar von Männern fordern, ihre Privilegien zu hinterfragen, bekämpft werden – auch mittels gegen einzelne Frauen gerichtete politische Hetzkampagnen (Manne 2020). Misogynie äußert sich zudem spezifisch, je nachdem, welche Frau sie trifft, da bei mehrfach marginalisierten Frauen unterschiedliche Unterdrückungsmechanismen intersektional ineinandergreifen. So sind zum Beispiel Schwarze Frauen von Misogynoir oder trans Frauen von Transmisogynie betroffen (zu Intersektionalität vgl. auch den Beitrag von Dellagiacoma & Geschke in diesem Band).
Zur Funktion misogyner Online-Hasskampagnen
Zwar ist die öffentliche Diffamierung von Frauen in Zeitungen oder im Fernsehen seit Jahrhunderten ein regelmäßiges Ereignis in einem patriarchalen System, aber durch das Internet wurde die Möglichkeit, an diesen Angriffen zu partizipieren oder sie gar in Gange zu bringen, auf perfide Weise demokratisiert: Jeder sich gekränkt fühlende Mann kann nun das Internet nutzen, um eine ihm missliebige Frau oder nicht binäre Person misogyn abzustrafen. Eines der wohl geläufigsten Beispiele ist das als „Racheporno“ bekannte, nicht konsensuelle Teilen von intimem Bildmaterial.
Das bis vor den Angriffen gegen Heard drastischste Beispiel misogyner Online-Angriffe stellt die sogenannte GamerGate-Kampagne von 2013 und 2014 dar, die sich gegen Akteur*innen der Videospielszene richtete. Die GamerGate- Kampagne begann als misogyne Attacke gegen Zoe Quinn, Entwickler*in des Spiels „Depression Quest“, welches die Spieler*in dazu animierte, die Krankheit Depression spielerisch zu erkunden. Das Spiel erhielt zahlreiche positive Reviews. Das Spiel wurde von Teilen der männlichen Gaming-Szene, die es gewohnt war, dass es sich bei Spielen primär um Männerfantasien mit stoischen, muskelbepackten Protagonisten handelte, als direkter Angriff auf eine vermeintlich nur heterosexuellen Männern vorbehaltene Gaming-Community verstanden. Quinns Expartner veröffentlichte einen Post, in dem er nicht nur intime Details aus der Beziehung veröffentlichte, sondern fälschlicherweise auch behauptete, Quinns aktueller Freund habe in dem ohnehin als links verschrienen Videospielmagazin „Kotaku“ eine positive Kritik für das Spiel veröffentlicht. Dieser Angriff auf die „Ethik im Videospieljournalismus“ wurde als vorgeschobener Grund verwendet, um Quinn massiv zu bedrohen. Auch die Videospielentwicklerin Brianna Wu und die Kulturwissenschaftlerin Anita Sarkeesian waren von der GamerGate-Kampagne betroffen. Brianna Wu hatte sich auf Twitter kritisch zu den GamerGate-Angriffen geäußert und die GamerGate-Kommentare auf dem rechtsextremen Imageboard 8chan analysiert, Anita Sarkeesian veröffentlichte eine Reihe YouTube-Videos, in denen sie sich kritisch zu Sexismus in Videospielen äußerte („Keinen Pixel den Faschisten“, 2020). Quinn, Wu und Sarkeesian wurden zum erklärten Feindbild der männlichen Gaming-Community, da ihre feministische Kritik an den sexistischen Tendenzen der Szene wurde als „feministische Bevormundung“ angesehen. Folge waren eine trotzige Verteidigungshaltung und misogyne Affekte entlud. Die drei Aktivist*innen wurden Opfer von misogyner und antisemitischer Hassrede, Stalking, Doxxing, Vergewaltigungs- und Morddrohungen. Zu den dominanten Akteuren von Gamergate zählten Männer wie Milo Yiannopoulos oder Stefan Molyneux, die einige Jahre später zu den Führungsfiguren der Alt-Right werden sollten. Generell muss die GamerGate-Kampagne mit seinem Antifeminismus, Antikommunismus und der Opferinszenierung weinerlicher Männer als Ursprung der Alt-Right begriffen werden.
Andere Beispiele für misogyne Hasskampagnen sind die über Monate andauernden Angriffe gegen die Politikerinnen Hillary Clinton und Annalena Baerbock im Rahmen ihrer jeweiligen Wahlkämpfe zur Präsidentin bzw. Bundeskanzlerin, gegen antifaschistische und feministische Aktivistinnen gerichtete Attacken, die von dem der Identitären Bewegung nahe stehenden Discord-Server „Reconquista Germanica“ koordiniert wurden (Musyal und Stegemann 2020) oder die nicht enden wollenden Kampagnen gegen Klima-Aktivist*innen. Der 2021 von dem WELT-Kolumnisten Rainer Meyer initiierte Shitstorm gegen die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl (Baum 2021) bzw. 2022 gegen die kommunistische Schriftstellerin Elisa Aseva (Solty 2022) und die Empörungswelle gegen die „Meldestelle Antifeminismus“ der Amadeu Antonio-Stiftung (Kracher 2023) zeigen deutlich: Gerade wenn es gegen feministische, linkspolitische oder queere Individuen oder Organisationen geht, verschwinden die Berührungsängste zwischen bürgerlich-konservativen und rechtsradikalen Angreifer*innen.
Das Internet vs. Amber Heard
Aktuellstes und erschreckendstes Beispiel für das Ausmaß an Gewalt, das eine Frau erfahren kann, die zur Zielscheibe des Internet erkoren wurde, ist der Hass, der Amber Heard wiederfahren ist. Seinen Höhepunkt erreichte der Hass während des zwischen April und Juni 2022 geführten Prozesses zwischen Johnny Depp und Heard. Depps Vorwurf an Heard war, dass ihr Schreiben über häusliche Gewalt ihn derselben bezichtige – und sie von langer Hand geplant habe, seinen Ruf zu ruinieren. Obwohl Johnny Depp bereits 2020 einen ähnlichen Prozess gegen das britische Boulevardblatt The Sun in 12 von 14 Fällen verloren hatte und von der Zeitung offiziell als „Frauenschläger“ (im Original: „Wife beater“) bezeichnet werden darf, traf der Großteil des Internets sehr schnell eine Vorverurteilung von Amber Heard (Nandi 2022). Sie galt seit Prozessbeginn für große Teile des Internets nicht als Opfer einer missbräuchlichen Beziehung, sondern als hysterische Lügnerin und Täterin. Dies ist begründet in einer gesellschaftlich omnipräsenten Misogynie (Kracher 2022), der Identifikation mit Johnny Depp als Weltstar (Scott 2022), der Verkörperung idealisierter Männlichkeit, der zynischen, bewussten Gestaltung von Memes („Memefizierung“; Colombo 2022) und der gezielten Propaganda durch organisierte antifeministische Kräfte. Vielen Personen, die kein Interesse an Celebrity-Gossip haben, war es in den Monaten des Prozesses unmöglich, Memes, Videos und TikToks zum Thema zu entgehen. Eine Frau, die im Zeugenstand und trotz der Sensibilität des Themas vor laufender Kamera dazu genötigt wurde, die sexuellen und körperlichen Übergriffe durch ihren Ex-Mann zu rekapitulieren, war über Monate hinweg eine Lachnummer des Internets. Doch wie konnte es soweit kommen, wie konnte eine derartige Grausamkeit gesellschaftliche Normalität werden?
Auf TikTok verzeichnete der Hashtag #JusticeForJohnny zum Ende des Prozesses 1,4 Milliarden Aufrufe. Facebook-Reels mit Ausschnitten aus der Live-Übertragung der Gerichtsverhandlungen dominierten. YouTube-Videos zum Prozess kamen auf Aufrufe im zweistelligen Millionenbereich, zahlreiche Kanäle und Influencer*innen widmeten sich der Berichterstattung erschöpfend – in der Regel einseitig pro Depp, selbst vermeintlich „neutrale“ Kanäle. Auf dem Forum Reddit konnten sich die Ersteller*innen von positivem Johnny-Depp-Content über mehrere tausend Upvotes freuen. Auf Twitter gingen Hashtags wie #Justice4Johnny, #AmberHeardisanAbuser, #AmberTurd oder #MePoo viral. Selbst auf der Plattform Twitch, die vornehmlich für Videospiel-Streams gedacht ist, diskutierten Gaming-Influencer*innen über Depp und Heard. Die Washington Post zitierte den Content Creator Rowan Winch, der erklärte: „Inhalte zu Johnny laufen wesentlich besser. Wenn Menschen Sachen posten, die Amber Heard verteidigen, verlieren sie Follower. Eine Menge großer Influencer*innen interessieren [...] sich nur für die Klicks, die sie bekommen.“ (Lorenz 2022)
Akteur*innen der Hass-Kampagne waren, neben dem Weltstar und seinem unermüdlich arbeitenden PR-Team, auch „reguläre“ Social-Media-Influencer*innen, Unternehmen wie Lidl oder Duolingo, die Heards Aussagen auf dem Zeugenstand in einem Werbeclip höhnisch persiflierten und so vom Prozess profitieren wollten, GamerGate-Akteur*innen, rechtsradikale Blogs und Zeitungen, menschenfeindliche Troll-Foren wie 4chan oder Kiwi Farms ebenso wie antifeministische Männerrechtsaktivisten. Recherchen des Magazins VICE ergaben zum Beispiel, dass das rechtsradikale News-Outlet The Daily Wire zehntausende Dollar in gezielte Propaganda gegen Amber Heard investiert hat (McCool und Narayanan, 2022). Auch Breitbart und FOX News, zwei der wichtigsten Informationsquellen für konservative bis rechtsextreme US-Amerikaner*innen, begleiteten den Prozess und erklärten dabei regelmäßig, dass die #MeToo-Kampagne einem Krieg gegen Männer Tür und Tor geöffnet habe. Frauenhass scheint darüber hinaus auch ein lukratives Geschäft zu sein: Gerade YouTuber*innen, die im Rahmen von GamerGate mit Inhalten gegen sogenannte „Social Justice Warriors“, also linkspolitische Aktivist*innen groß geworden sind, fokussierten sich auf den Prozess und Inhalte gegen Heard.
Neben einer „organischen“, also nicht durch gezielte Propaganda angeheizten Empörung über eine Frau, die es gewagt hat, darüber zu sprechen, dass ein nostalgisch verklärter Schauspieler ein sexistischer, cholerischer Gewalttäter mit Tendenz zum Substanzmissbrauch ist, wurde die Kampagne gegen Heard auch durch gezielte Social-Media-Manipulation angefacht. Troll-Accounts sind ein sehr effektives Werkzeug in Social-Media-Kampagnen und haben auch hier eine beträchtliche Rolle gespielt. Das OSINT-Unternehmen BotSentinel hat es sich zur Aufgabe gemacht, Fake-Accounts, Desinformation und Hasskampagnen auf der Plattform Twitter zu beobachten und zu analysieren. Im Juli 2022 erschien ein Report des Unternehmens, der gezielte Troll- und Desinformations-Aktionen im Rahmen der Hasskampagne gegen Amber Heard zum Thema hatte. Wie die Autor*innen herausarbeiten konnten, wurden User*innen, die sich solidarisch mit Amber Heard äußerten, sofort einer Welle an Hasskommentaren unterzogen – in der Regel von Accounts, die den einzigen Zweck hatten, Pro-Depp- und Anti-Heard-Inhalte zu verbreiten. Eine Analyse von mehr als 14.200 Posts auf dem Kurznachrichtendienst Twitter von 627 analysierten Accounts, welche gegen Heard gerichtete virale Hashtags verwendeten, ergab: 24,4 % der Accounts waren erst wenige Wochen alt, 20 % der Accounts waren ausschließlich auf Spam und Trolling ausgelegt. Die Accounts wendeten klassische Troll-Techniken an, etwa „Copypasta“, also das Posten des immer gleichen Textes, misogyne und vulgäre Sprache, Androhungen von Gewalt und das Veröffentlichen privater Daten (BotSentinel 2022).
Memes, Massenpsychologie und gesellschaftlich vermittelte Misogynie
Eine der Voraussetzung für menschenfeindlichen Hass ist die Dehumanisierung des Opfers. Online geschieht dies mittels sogenannter „memetischer Kriegsführung“. Das Betrachten des Opfers einer Kampagne durch den Bildschirm, und oft kommentiert mit vereinfachten, hämischen Aussagen, erleichtert es den Zuschauer*innen, das Opfer weniger als Subjekt zu sehen, dessen Leben gerade zerstört werden soll. Weitere Aspekte von Online-Kampagnen sind die Anonymität des Internets und die Teilhabe an einer – wenn auch temporären – Massenbewegung. So können Individuen die eigenen Handlungen, wie in diesem Fall das Verhöhnen einer Betroffenen sexueller und häuslicher Gewalt oder Angriffe gegen deren Unterstützer*innen, leichter von sich abspalten und verdrängen. Interessanter Aspekt bei der Kampagne gegen Heard war jedoch, dass sehr viele Beteiligte sich nicht einmal in die virtuelle Anonymität zurückzogen, sondern unter Klarnamen und bei Videos unter Verwendung ihres Gesichts misogyne Desinformationen verbreiteten. Denn für einige Wochen im Sommer 2022 war der Hass gegen eine spezifische Frau nicht nur toleriert, sondern sogar gesellschaftsfähig. Letztendlich jedoch funktionierte die Hasskampagne gegen Amber Heard auch deshalb so gut, weil Frauen, die Täter als solche benennen, in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft, die gewalttätige Männer systematisch schützt, von vornherein kein Glauben geschenkt wird (Hobbes 2022). Amber Heard, die zahlreiche Beweise für die Gewalt ihres Exmannes vorgelegt hatte – von denen jedoch viele vor Gericht unterschlagen wurden (Userin @cocainecross, Twitter) –, ist keine Ausnahme, sondern die Regel.
Dass eine junge, vergleichsweise unbekannte Frau wie Amber Heard einen der beliebtesten Schauspieler der Welt angeklagt hat, verschlechterte ihre Chancen, von der Öffentlichkeit Glauben zu erfahren. Johnny Depp hatte bereits 2016 in einer SMS an seinen Agenten gefordert, Amber Heard müsse für die Scheidung und die Unterlassungserklärung, die sie gegen ihren Exmann eingefordert hatte, bestraft werden: durch eine „totale, weltweite Erniedrigung“. Gerade dieser Satz unterstreicht die misogyne Intention des Prozesses und der Kampagne gegen Heard noch einmal: Eine Frau hatte es gewagt, sich von ihrem – reichen, berühmten – Ehemann zu trennen und zu benennen, dass es sich bei ihm um einen Gewalttäter handelt. Diese Kränkung wurde von Depp, seinem PR-Team und seiner Armee an Fans damit beantwortet, die Drohung der Demütigung Wirklichkeit werden zu lassen. Einige Beispiele dafür sind: Auf Internet-Shops wie Redbubble oder Etsy wurden T-Shirts, Kaffeetassen oder Kissenbezüge mit dem Gesicht der weinenden Heard zum Verkauf angeboten. Ein Unternehmen für Sexspielzeuge fertigte die Replik der Flasche an, mit der Johnny Depp Amber Heard gewaltvoll penetriert hat. Zahlreiche TikTok-Nutzer*innen filmten sich dabei, wie sie angaben, sie solle nicht darüber lamentieren, von dem Filmstar Johnny Depp vergewaltigt worden zu sein. User*innen auf Twitter fertigten Deepfakes von Heard in sexuellen Posen an und teilten diese auf Social Media oder rieten ihr, sich zu prostituieren – inklusive detaillierter Rechnungen, wie lange sie gegen Geld Oralverkehr an Klienten ausüben müsste, um ihre Gerichtsschulden zu bezahlen. Striptease-Etablissements forderten Amber Heard in ihrer Leuchtreklame zu einem Bewerbungsgespräch auf. Die Demütigungen gegen Heard haben nicht zufällig oft eine sexuelle Komponente, da Frauen in patriarchalen Verhältnissen oftmals abgestraft werden, indem man ihnen mit sexueller Gewalt und Erniedrigung droht und sie somit „auf ihren Platz“ verweisen will. Vor allem sind der Prozess, dessen Online-Rezeption und sein Ausgang als Backlash gegen die Errungenschaften der #MeToo-Kampagne zu verstehen, die Antifeministen und Männerrechtlern seit ihrem Beginn ein Dorn im Auge ist. Ein Artikel im Rolling Stone zitierte eine Anwältin für Opfer sexueller Gewalt, die darüber sprach, dass „hunderte“ ihrer Klientinnen ihre Anzeigen als direkte Reaktion auf die Urteilsverkündung im Fall Depp vs. Heard zurückgezogen hätten (Dickinson 2020). Männerrechtler freuen sich, dass eine Frau, die wie Heard noch feministisch aktiv ist, in diesem bisher kaum gekannten Ausmaß gedemütigt wurde. Das nächste Opfer haben sie übrigens bereits gefunden: die „Westwood“-Schauspielerin Evan Rachel Wood, die ihren Expartner Marilyn Manson der häuslichen Gewalt bezichtigt hat. Manson und Johnny Depp sind seit Jahren beste Freunde.
Veronika Kracher arbeitet und publiziert seit 2015 journalistisch zu Antifeminismus, Misogynie, Rechtsextremismus und Online-Radikalisierung. 2020 erschien ihr Buch „Incels – Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“, seit 2021 ist sie Mitarbeiterin der Amadeu Antonio Stiftung.
Literaturverzeichnis
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