Von Gamergate zu Andrew Tate: Misogynie und Antifeminismus zwischen Mainstream und extremistischer Gewalt

Empfohlene Zitierung:

Rothermel, Ann-Kathrin (2023). Von Gamergate zu Andrew Tate: Misogynie und Antifeminismus zwischen Mainstream und extremistischer Gewalt. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Antifeminismus & Hasskriminalität, Band 13, Online- Ausgabe. Jena, 280–291.

Schlagwörter:

Antifeminismus, Manosphere, Incel, Männlichkeit, Extremismus, Misogynie

 


Antifeminismus ist überall – vor allem online machen antifeministische Influencer*innen und Kampagnen von #Gamergate bis Andrew Tate immer wieder von sich reden – und stoßen dabei nicht nur auf Ablehnung, sondern durchaus auch auf Sympathie. Kein Wunder, hat doch die Leipziger Autoritarismusstudie gezeigt, dass rund jede fünfte Person in Deutschland ein ‚gefestigt antifeministisches Weltbild‘ hegt. Dieser Beitrag thematisiert Strategien und Narrative der Manosphere, welche Antifeminismus über verschiedene Gruppierungen, Themen und digitale und analoge Räume hinweg verbinden und wie diese sowohl an den Mainstream als auch an andere extremistische Netzwerke und Narrative andocken. Zuletzt zeige ich auf, wie sich diese Narrative in der Rezeption der Manosphere in der Öffentlichkeit wiederfinden, was die Gefahr birgt, bestehende Hierarchien zu zementieren und Gewaltstrukturen zu legitimieren.


 

Kurz vor Weihnachten 2022 fand auf Twitter eine höchst skurrile Veranstaltung statt. Die ehemalige Miss New Jersey Sameera Khan hostete einen ‚Twitter Space‘ zum Thema Andrew Tate mit den Taliban. Andrew Tate ist ein ehemaliger Kickboxer und Big-Brother-Star aus England, der 2022 mit dem Erfolg seiner extrem frauenfeindlichen Inhalte auf den Plattformen TikTok und Instagram für Schlagzeilen sorgte. Im August 2022 wurde Tate von den meisten großen Plattformen gesperrt. Im Dezember 2022 wurde er zusammen mit seinem Bruder aufgrund von Menschenhandel und Vergewaltigung in Rumänien verhaftet, nachdem der Aufenthaltsort der beiden über einen viralen Schlagabtausch mit Greta Thunberg auf Twitter bekannt geworden war (Wright und Murphy 2022). Nun ist das Thema auf den ersten Blick ein Twitter-Skandal, wie er im Buche steht; der Twitter Space, in dem sich teilnehmende (angebliche) Taliban für eine Befreiung Tates aussprachen – ein kurioser Auswuchs einer kuriosen Debatte über eine kuriose Persönlichkeit. Gleichzeitig ist es jedoch sinnbildlich für eine größere Dynamik von Online-Antifeminismus und dessen Tendenz, Allianzen hervorzurufen, die auf den ersten Blick erstaunlich wirken, im Nachgang aber umso deutlicher die Bedeutung von Antifeminismus und Misogynie für extremistische Mobilisierung verdeutlichen.

 

Die Online-Welt der Manosphere – von Männerrechtlern zu Incels

Während die Kritik an Andrew Tate in den Medien lauter wurde, wurde auch immer wieder auf Tates Verbindungen bzw. auf seinen Einfluss in die sogenannte Manosphere verwiesen. Die Manosphere ist kein festes Forum oder Plattform, sondern kann am besten als ein Konglomerat aus verschiedenen misogynen Blogs, Webseiten, Wikis und Foren verstanden werden, in denen sich Nutzende insbesondere zu Themen von Maskulinität, Femininität und Genderhierarchien austauschen (Marwick und Caplan 2018). Der Begriff Manosphere tauchte ursprünglich Ende der 2000er als Selbstbezeichnung und Wortspiel aus dem damaligen Format der ‚Blogosphere‘ auf. Richtig etabliert hat sich der Begriff allerdings erst durch Zuschreibungen von außen im Zuge der medialen Aufmerksamkeit der letzten Jahre – sowohl in Verbindung mit digitalen Hasskampagnen, allen voran der Harassment-Kampagne gegen weibliche und nicht-binäre Menschen in der Spieleentwicklung, die 2013 unter dem Namen #Gamergate bekanntgeworden ist, als auch mit einer rasant ansteigenden Anzahl misogyn und antifeministisch motivierter Terroranschläge (Kelly et al. 2021). Obwohl die meisten digitalen Räume, die mit der Manosphere in Verbindung gebracht werden, englischsprachig sind, haben verschiedene Arbeiten auf die internationale Dimension der Manosphere und deren Relevanz für deutsche Nutzer*innen verwiesen (RAN 2021).

In der Wissenschaft wird mittlerweile gemeinhin auf vier Kerngruppierungen der Manosphere verwiesen: Men’s Rights Activists (MRAs), Pick-Up-Artists, MGTOWs und Incels, die im Folgenden kurz beschrieben werden. Die erste Gruppe ist die der Männerrechtsaktivist*innen oder MRAs (Men’s Rights Activists). Die Entstehung von MRAs als Gruppierung wird häufig in den 1970ern angesiedelt, als sich in den USA die Gegenbewegung zum feministischen Aktivismus formierte. MRAs finden sich aber in verschiedenen Organisationsformen on- und offline in verschiedenen Ländern, wo sie häufig Kampagnen zu Vaterrechten, aber auch gegen Abtreibung und gegen Gesetzgebung zum Schutz vor sexualisierter Gewalt gegen Frauen mobilisieren (Gotell und Dutton 2016). Sie präsentieren sich als korrektiver Spiegel zum Feminismus und nutzen gezielt liberale Begrifflichkeiten und Zuschreibungen, um Feminist*innen als antiliberale Aktivist*innen darzustellen (Rothermel 2020). Die Wurzeln der zweiten Gruppe der Pick-Up-Artists (PUAs) reichen ebenfalls bis in die 1970er zurück. Populär wurde der Begriff allerdings vor allem in den 2000ern, als der Bestseller „The Game“ und die Fernsehshow „The Pickup Artist“ erschienen. In beiden wurden sogenannte Verführungstechniken thematisiert, wobei (häufig sex-losen) Männern Strategien beigebracht werden sollen, wie sie Frauen zum Sex bewegen können. Obwohl PUAs häufig behaupten, weder antifeministisch noch misogyn zu sein, basieren Kernelemente der PUA-Ideologie auf einer Markt-Logik, in der Frauen objektiviert und essentialisiert werden (Cosma und Gurevich 2019).

Die traditionelle Konstellation aus MRAs und PUAs als die zwei überwiegenden antifeministischen online Strömungen veränderte sich ab den späten 2000ern grundlegend. Aus MRA-Online Foren entwickelte sich die Gruppierung der sogenannten Men Going Their Own Way (MGTOWs). Im Gegensatz zum eher gesellschaftlichen Aktivismus von MRAs, geht es bei MGTOWs vor allem um ein individuelles Lossagen von romantischen Beziehungen mit Frauen und das Reetablieren einer hypermaskulinen Idee von Autarkie. Frauen wird, in Anlehnung an die marktbasierte Logik der PUA-Philosophie, das Ziel der finanziellen Ausbeutung des Mannes unterstellt (Jones et al. 2019). Die jüngste Gruppe der Manosphere ist mittlerweile auch ihre bekannteste: die sogenannten Incels, also involuntary celibates (im unfreiwilligen Zölibat Lebende), gingen ursprünglich aus Foren und Subreddits hervor, in denen es vorrangig um die Ablehnung von PUA-Tipps ging, die sich für die betroffenen Männer als unwirksam erwiesen hatten (Bratich und Banet-Weiser 2019). In diversen Manifesten von Incel-Terroristen, allen voran dem des Attentäters von Isla Vista, der im Jahr 2014 in Kalifornien sieben Menschen ermordete, wurde der Status als Incel allerdings immer mehr vor allem zur Rechtfertigung für misogynen Hass und Gewaltakte angeführt (Kelly et al. 2021).

Die Größe der Manosphere ist aufgrund der Diversität und Wandelbarkeit ihrer Gruppierungen und losen Verbindungen zwischen den Plattformen, auf denen diese aktiv sind, nur schwer abschätzbar. Allerdings finden einige Studien der letzten Jahre sowohl einen generellen Zuwachs an Nutzenden als auch eine Verschiebung von PUA und MRA- Räumen und -Diskussionen hin zu den als stärker toxisch wahrgenommenen Gruppierungen von MGTOWs und Incels (Ribeiro et al. 2020). Zugleich hat die Manosphere seit Mitte der 2010er eine Politisierung erfahren. Während PUAs und MRAs sich traditionell zumindest vorgeblich als apolitisch positionierten, werden seit #Gamergate, spätestens aber seit der Wahl Donald Trumps im Jahr 2016 und dessen misogynen Äußerungen immer mehr Verbindungen mit (extrem) rechten Gruppierungen und Bewegungen bekannt (Bezio 2018; Dignam und Rohlinger 2019).

 

Antifeminismus und Misogynie in Narrativen der ‚Manosphere‘

Obwohl die Gruppen der Manosphere, wie oben gezeigt, durchaus divers sind und ihnen unterschiedliche Ziele und Weltbilder zugrunde liegen, gibt es einige ideologische Grundannahmen, die sich in allen Teilgruppierungen der Manosphere wiederfinden lassen und zur gegenseitigen Reproduktion von Misogynie, männlicher Überlegenheit und Antifeminismus beitragen: das Narrativ der Pille, das Narrativ männlicher Überlegenheit und Anspruchshaltung und das Narrativ einer feministischen Elite und einer antifeministischen Opferrolle.

Das Narrativ der Redpill hat seinen Ursprung in einer mittlerweile recht breit bekannt gewordenen Referenz auf den dystopischen Science-Fiction-Film „Die Matrix“, in dem der Protagonist die Wahl zwischen einer blauen und einer roten Pille erhält (Hagen et al. 2020). Im Film geht mit dem Einnehmen der roten Pille ein Erwachen aus einer positiven, aber täuschenden Scheinwelt einher, der gegenüber eine harsche Realität als jetzt endlich sichtbare, tatsächliche Wahrheit steht. In der Manosphere ist die Redpill ein Symbol für das Eintauchen in eine Wahrheit, in der alle Erfahrungen durch einen Fokus auf Geschlecht interpretiert werden. Dadurch werden beispielsweise in Incel-Foren ethnische Zugehörigkeit und Klasse als Diskriminierungserfahrungen abgewertet und ausschließlich im Kontext einer Benachteiligung (oder Bevorzugung) bei den Chancen auf Sex mit Frauen gelesen (Kelly et al. 2021).

In der auf der angeblichen Wahrheit der Redpill basierenden Weltsicht geht es im Kern um die Konstruktion und konstante Reproduktion von geschlechtsbasierten Hierarchien. Im Mittelpunkt stehen dabei sowohl Hierarchien zwischen Männern und Frauen als auch Hierarchien zwischen Gruppen von Männern – oder eher Männlichkeiten. Je nach Gruppenzugehörigkeit basiert die Selbstpositionierung innerhalb dieser Männlichkeits-Hierarchie auf unterschiedlichen Punkten der Skala. So ordnen sich MGTOWs und MRAs häufig eher hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen von Stärke und Rationalität zu. Demgegenüber fokussieren sich Incel-Diskussionen häufig stark auf eine als unterlegen wahrgenommene Männlichkeit (insbesondere in Bezug auf Aussehen und Einkommen), welche für ihre Misserfolge beim Dating verantwortlich gemacht wird (Rothermel et al. 2022).

Analysen haben jedoch gezeigt, dass in beiden Fällen ein zugrundeliegendes, im Kern hegemoniales Verständnis von Männlichkeit als übergeordnet über Weiblichkeit vorherrscht. Im Falle von Incels äußert sich dies beispielsweise durch ihre Abwertung von Männern, die ihre Redpill-Weltsicht nicht teilen, über traditionell als weiblich gelesene Zuschreibungen (Glace et al. 2021). Zudem zeichnen sich alle Manosphere-Gruppierungen durch eine sexistische und misogyne Ideologie aus, nach der Männern die Kontrolle über (den Körper und das Verhalten von) Frauen zustehe – sei es auf dem Arbeitsmarkt, in der Familie oder in sexuellen und romantischen Beziehungen (Furl 2022). Diese Haltung entspricht der Misogynie-Definition von Kate Manne (2018), die Misogynie als „ausführende Kraft“ einer patriarchalen Ordnung definiert, welche die Funktionen der Kontrolle und der Durchsetzung sexistischer Normen und Erwartungen an korrekte Weiblichkeit erfüllt. Während Sexismus dementsprechend „dazu dient, patriarchale soziale und gesellschaftliche Beziehungen zu begründen und zu rechtfertigen“, dient Misogynie vor allem der Unterscheidung zwischen guten und schlechten Frauen und der Rechtfertigung von Gewalt – insbesondere gegen letztere.

Die Notwendigkeit für misogyne Gewalt ist dem Weltbild der Manosphere insofern inhärent, als alle Untergruppierungen auf der Konstruktion einer gesellschaftlichen Opferrolle für Männer basieren, die nur auf den ersten Blick im Gegensatz zur Überlegenheitspositionierung steht. Das Redpill-Weltbild beginnt mit einem Gefühl der Gewahrwerdung über die gesellschaftliche Dominanz einer angeblichen feministischen Elite, deren Ziel die Umkehr der als natürlich angesehenen patriarchalen Geschlechterverhältnisse und die damit einhergehende Abwertung, Entrechtung und Unterordnung von Männern zugunsten von Frauen sei (Mingo und Fernández 2022). Feminist*innen werden hierbei gleichzeitig als irrational und hysterisch sowie als mächtige und gewaltbereite Elite gezeichnet (Chang 2020). So framte der oben erwähnte Andrew Tate die Vorwürfe von sexualisierter Gewalt in einem seiner Tiktok-Videos beispielsweise mit den Worten „The matrix has attacked me“. Diese auf den ersten Blick widersprüchliche Positionierung als Opfer und gleichzeitig überlegen ist elementar, weil durch die gefühlte Diskrepanz zwischen vermeintlich natürlichem und gerechtfertigtem Anspruch und erlebter Realität jegliche Gewalt gegen diejenigen, die als Repräsentant*innen einer ungerechten Ordnung wahrgenommen werden, legitimiert wird.

 

Misogynie zwischen Mainstream und Extremismus – drei Fallen im Umgang mit der Manosphere

Durch die verstärkte Aufmerksamkeit, die die Manosphere in den letzten Jahren erfahren hat, haben sich neue Möglichkeiten eröffnet, antifeministische und misogyne Weltbilder und Gewalt zu benennen und problematisieren. So wurden beispielsweise im Nachgang der Anschläge von Toronto 2018 und 2019 in Kanada incelmotivierte Anschläge als Form des Terrorismus behandelt (Bell et al. 2020). Ähnliche Verbindungen zwischen Misogynie, Extremismus und Hasskriminalität sowie häuslicher Gewalt und sexueller Belästigung werden auch in anderen Länderkontexten verstärkt thematisiert (Johnston und Meger 2022; McCulloch et al. 2019). Allerdings ist die Darstellung davon, wie Misogynie in der Manosphere wirkt, in den Medien, aber auch in der Wissenschaft, an einigen Stellen etwas zu kurz gefasst (DeCook und Kelly 2021). Anhand von drei häufigen Darstellungen der Manosphere als 1) extremes Nischenphänomen, 2) Ausdruck einer Krise der Männlichkeit und 3) Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus zeige ich im Folgenden auf, wie diese dazu führen können, dass sowohl Verbindungen mit anderen extremistischen Ideologien als auch mit dem gesellschaftlichen Mainstream unterbetont bleiben.

 

Die Manosphere als „extremes Nischenphänomen“

Die Darstellung der Manosphere als düsteres, aber gleichzeitig absurdes Nischenphänomen im Internet, in dem Frauenhass und Antifeminismus zu Hause sind, war zu Beginn der Auseinandersetzung mit der Manosphere weit verbreitet. Diese Kategorisierung der Manosphere- und Incel-Ideologie als neue und spezielle Form der Gewalt zeigt sich in gesellschaftlichen Debatten darüber, ob misogyn und antifeministisch motivierte Gewaltakte als politischer Terrorismus gewertet werden können. Auch in der Terrorismusforschung ist, laut den Wissenschaftlerinnen DeCook und Kelly die Einordnung von misogyner Gewalt als incelmotiviert und damit auf spezielle Räume der Manosphere zurückzuführendes Phänomen verbreitet. Sie kritisieren, dass durch diese Kategorisierung sowohl die Verbindung mit rechten und rassistischen Weltbildern als auch die Verbindung mit gesellschaftlichem Antifeminismus und Misogynie unberücksichtigt bleiben (DeCook und Kelly 2021). Beispielsweise wird in dieser Kategorisierung häusliche Gewalt gegen Frauen weiterhin nicht als Teil von gewalttätiger Misogynie verstanden. Auch bleiben Überschneidungen mit misogynen Weltbildern in extremistischen Kontexten außerhalb der Manosphere so weiterhin unbeleuchtet. Das Framing der Manosphere-Maskulinität als toxische Maskulinität, die radikal anders und inhärent gewaltvoller ist als die in der breiteren Gesellschaft vorherrschenden Vorstellungen über Genderverhältnisse, dient dementsprechend auch dazu, die Verantwortung der letzteren ausblenden zu können (Pearson 2019).

 

Manosphere als Ausdruck einer „Krise der Männlichkeit“

Wird die Manosphere hingegen, wie zuletzt häufiger, als ein Auswuchs einer Krise der Männlichkeit angesehen, so wird die Verankerung ihrer Narrative in der breiteren Gesellschaft nicht nur anerkannt, sondern ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt. In diesem Verständnis werden auf feministische Errungenschaften zurückgehende Veränderungen in der Gesellschaft als Belastung für die Identitätsbildung von jungen Männern dargestellt. Diese könnten demnach im Extremfall zu Radikalisierung in Gruppierungen wie der Manosphere führen. Auch vor dem Erstarken der Manosphere wurden derlei Darstellungen häufig im Zuge von Reformen zu Genderaspekten diskutiert (Kimmel 2018). Feminist*innen haben jedoch wiederholt darauf hingewiesen, dass diese Krisennarrative Gefahr laufen, die oben genannten antifeministischen Vorstellungen einer angeblichen feministischen Elite sowie eines „Kampfes der Geschlechter“ zu reproduzieren, welche zum Anlass der Gegenwehr genommen werden (Lemon 1992). Dadurch wird im Extremfall die von der Manosphere ausgehende Gewalt nicht nur relativiert, sondern deren zugrundeliegenden Annahmen einer gesellschaftlichen Opferrolle in gewisser Weise reproduziert. Dabei wird außer Acht gelassen, dass die Opferrolle zentral auf patriarchalen Annahmen über eine ‚natürliche‘ Ungleichheit der Geschlechter und auf einer männlichen Anspruchshaltung basiert.

 

Manosphere als „Einstiegsdroge“ in den Rechtsextremismus

Die dritte Darstellung der Manosphere befindet sich zwischen den beiden bereits aufgezeigten, indem sie die Manosphere als Brücke zwischen Extremismus und Mainstream-Gesellschaft versteht (Decker et al. 2022). Hierbei werden die Verbindungen zu extremistischen und rechtspopulistischen Vorstellungen aufgezeigt, welche sich insbesondere über die Darstellung als Opfer einer übermächtigen Elite äußern, die beliebig an verschiedene Feindbilder angedockt werden kann. Gleichzeitig wird auf die Verankerung misogyner Vorstellungen in der breiteren Gesellschaft hingewiesen, um die Mobilisierung in die Manosphere zu erklären. Problematisch wird dieses Narrativ, wenn die Manosphere als Durchlauferhitzer oder Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus geframt wird. Denn diesem Bild liegt weiterhin die Vorstellung zugrunde, dass antifeministisch und misogyn motivierte Gewalt in gewisser Weise weniger gravierend ist als andere Formen der Gewalt (Cannon 2022). Hierdurch wird das Verständnis von Misogynie und Antifeminismus als an sich gewaltvolle Ideologie geschmälert, indem sie vor allem im Kontext anderer politischer Gewalttaten problematisiert wird.

 

Schluss

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Die Manosphere stellt kein in sich abgeschlossenes Phänomen dar, dem eine eigene Ideologie innewohnt. Stattdessen können die Diskurse und Narrative der Manosphere als sinnbildlich für die Rolle und Verankerung von Misogynie und Antifeminismus im Mainstream und im Extremen verstanden werden. Ideen von männlicher Überlegenheit und Anspruchshaltung sind sowohl elementarer Bestandteil extremistischer Ideologien und Gruppierungen als auch gesamtgesellschaftlich anknüpfungsfähig. Gleiches gilt für antifeministische Bilder einer Opferpositionierung unter einer mächtigen feministischen Elite. Das Mobilisierungspotenzial solcher Bilder für Gegenbewegungen wie die in der Manosphere hängt, wie in diesem Beitrag gezeigt, zentral von der breiteren Verankerung misogyner Vorstellungen über angeblich korrekte Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder und -hierarchien ab. Das Zusammenspiel dieser Narrative erklärt die Verbindungen zwischen zunächst scheinbar wenig verknüpften On- und Offline-Gegebenheiten, von Gamergate bis hin zum Twitterspace mit Andrew Tate und den Taliban.

Obwohl die Thematisierung der Manosphere und ihrer Ideologien bereits zu einem verstärkten Bewusstsein über die Rolle von Misogynie geführt hat, sind viele mediale Darstellungen der Manosphere als radikal anders, Produkt einer Männlichkeits-Krise oder Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus weiterhin problematisch, weil sie im Kern ebenfalls auf misogynen und patriarchalen Annahmen basieren und diese im Zweifel relativieren und/oder reproduzieren. Zukünftige Portraits der Manosphere sollten daher insbesondere darauf achten, misogyne und antifeministische Gewalt weder zu verharmlosen noch zu externalisieren.

 


Ann-Kathrin Rothermel (sie/ihr) forscht als PostDoc an der Universität Bern im Projekt UNTWIST zu Anti-Gender Politiken in Europa. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Referentin für das NETTZ, die Vernetzungsstelle gegen Hate Speech. Ihr Forschungsschwerpunkt: Schnittstellen zwischen Gender und politischer Gewalt sowohl im Kontext von antifeministischen Online-Bewegungen und Radikalisierungsdynamiken als auch transnationaler Deradikalisierungspolitik.


 

Literaturverzeichnis

Bell, Stewart/Russell, Andrew/McDonald, Catherine (2020). Deadly attack at Toronto erotic spa was incel terrorism, police allege. Global News.ca vom 20. Mai 2020. Online verfügbar unter globalnews.ca/news/6910670/toronto-spa-terrorism-incel/ (abgerufen am 11.04.2023).

Bezio, Kristin MS (2018). Ctrl-Alt-Del: GamerGate as a precursor to the rise of the alt-right. Leadership 14(5), 556–566. DOI: 10.1177/1742715018793744.

Bratich, Jack/Banet-Weiser, Sarah (2019). From Pick-Up Artists to Incels. Con(fidence) Games, Networked Misogyny, and the Failure of Neoliberalism. International Journal of Communication 13, 5003–5027. Online verfügbar unter ijoc.org/index.php/ijoc/article/viewFile/13216/2822 (abgerufen am 12.12.2020).

Cannon, Maddie (2022). Assessing Misogyny as a ‘Gateway Drug’ into Violent Extremism. Insights, Global Network on Extremism & Technology. Online verfügbar unter gnet-research.org/2022/01/24/assessing-misogyny-as-a-gateway-drug-into-violent-extremism/ (abgerufen am 14.7.2022).

Chang, Winnie (2020). The monstrous-feminine in the incel imagination: investigating the representation of women as “femoids” on /r/Braincels. DOI: 10.1080/14680777.2020.1804976.

Cosma, Stephanie/Gurevich, Maria (2019). Securing sex: Embattled masculinity and the pressured pursuit of women’s bodies in men’s online sex advice. Feminism & Psychology 0(0), 1–21. DOI: 10.1177/0959353519857754.

Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Heller, Ayline/Brähler, Elmar (Hg.) (2022). Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismus-Studie 2022. Forschung Psychosozial. Psychosozial-Verlag. DOI: 10.30820/9783837979190.

DeCook, JuliaR.ZKelly, Megan (2021). Interrogating the “incel menace”: assessing the threat of male supremacy in terrorism studies 15(3), 706-726. DOI: 10.1080/17539153.2021.2005099.

Dignam, Pierce A/Rohlinger, Deana A (2019). Misogynistic Men Online: How the Red Pill Helped Elect Trump. Signs: Journal of Women in Culture and Society 44(3), 589–612. DOI: 10.1086/701155.

Furl, Katherine (2022). Denigrating Women, Venerating “Chad”: Ingroup and Outgroup Evaluations among Male Supremacists on Reddit. Social Psychology Quarterly 85(3), 279–299. DOI: 10.1177/01902725221090907/FORMAT/EPUB.

García Mingo, Elisa/Díaz Fernández, Silvia (2022). Wounded men of feminism: Exploring regimes of male victimhood in the Spanish manosphere. European Journal of Cultural Studies. doi.org/10.1177/13675494221140586.

Glace, Alyssa M./Dover, Tessa, L./Zatkin, Judith G. (2021). Taking the black pill: An empirical analysis of the “Incel”. Psychology of Men & Masculinities 22(2), 288–297. DOI: 10.1037/men0000328.

Gotell, Lise/Dutton, Emily (2016). Sexual Violence in the ‘Manosphere’: Antifeminist Men’s Rights Discourses on Rape. International Journal for Crime, Justice and Social Democracy 5(2), 65–80. DOI: 10.5204/ijcjsd.v5i2.310.

Hagen, Sal/Tuters, Marc/Wilson, Jack (2020). Reactionary Wokeness: How Redpilling became a Thing on Reddit. Online verfügbar unter oilab.eu/reactionary-wokeness-how-redpilling-became-a-thing-on-reddit/ (abgerufen am 11.04.2023).

Johnston, Melissa/Meger, Sara (2022). Policy Brief: The linkages between violent misogyny and violent extremism and radicalization that lead to terrorism. Online verfügbar unter www.osce.org/secretariat/525297 (abgerufen am 11.04-.2023).

Jones, Callum/Trott, Verity/Wright, Scott (2019). Sluts and soyboys: MGTOW and the production of misogynistic online harassment. New Media & Society 22(10). DOI: 10.1177/1461444819887141.

Kelly, Megan/DiBranco, Alex/DeCook, Julia R (2021). Misogynist Incels and Male Supremacism. Political Reform. Online verfügbar unter www.newamerica.org/political-reform/reports/misogynist-incels-and-male-supremacism/ (abgerufen am 14.07.2022).

Kimmel, Michael S (2018). The contemporary “Crisis” of masculinity in historical perspective. The Making of Masculinities: The New Men’s Studies, 121–153.

Lemon, Jennifer (1992). The crisis of masculinity and the renegotiation of power. Communicatio 18(2), 16–30. DOI: 10.1080/02500169208537709.

Manne, Kate (2018). Down Girl. The Logic of Misogyny. UK, Penguin Random House.

Marwick, Alice E./Caplan, Robyn (2018). Drinking male tears: language, the manosphere, and networked harassment. Feminist Media Studies 18(4), 543–559. DOI: 10.1080/14680777.2018.1450568.

McCulloch, Jude/Walklate, Sandra/Maher, Jane Maree/Fitz-Gibbon, Kate/McGowan, Jasmine (2019). Lone Wolf Terrorism Through a Gendered Lens: Men Turning Violent or Violent Men Behaving Violently? Critical Criminology 2019 27(3), 437–450. DOI: 10.1007/S10612-019-09457-5.

Pearson, Elizabeth (2019). Extremism and toxic masculinity: the man question re-posed. International Affairs 95(6), 1251–1270. DOI: 10.1093/ia/iiz177.

RAN (Radicalization Awareness Network) (2021). Incels: A First Scan of the Phenomenon (in the EU) and its Relevance and Challenges for P/CVE. European Commission Report. Online verfügbar unter home-affairs.ec.europa.eu/system/files/2021-10/ran_incels_first_scan_of_phenomen_and_relevance_challenges_for_p-cve_202110_en.pdf (abgerufen am 04.05.2023).

Ribeiro, Manoel/Blackburn, Jeremy/Bradlyn, Barry/DeCristofaro, Emiliano/Stringhini, Gianluca/Long, Summer/Greenberg, Stephanie/Zanettou, Savvas (2020). From Pick-Up Artists to Incels: A Data-Driven Sketch of the Manosphere. Online verfügbar unter arxiv.org/abs/2001.07600 (abgerufen am 02.02.2021).

Rothermel, Ann-Kathrin (2020). “The Other Side”: Assessing the Polarization of Gender Knowledge Through a Feminist Analysis of the Affective-Discursive in Anti-Feminist Online Communities. Social Politics: International Studies in Gender, State & Society. DOI: 10.1093/sp/jxaa024.

Rothermel, Ann-Kathrin/Kelly, Megan/Jasser, Greta (2022). Of Victims, Mass Murder and ‘Real Men’: The Masculinities of the ‘Manosphere’. In: Carian, Emily K/DiBranco, Alex/Ebin, Chelsea (Hg.) Male Supremacism in the United States. From Patriarchal Traditionalism to Misogynist Incels and the Alt-Right. London, Routledge.

Wright, George/Murphy, Matt (2022) Andrew Tate detained in Romania over rape and human trafficking case. BBC News, 30.12.2022. Online verfügbar unter www.bbc.com/news/world-europe-64122628 (abgerufen am 24.03.2023)