Ein historischer Blick aufs Zocken
Gamer sind männlich! Das Bild dieses Prototyps ist klar: Wir sehen einen Techniknerd, einen Geek1, der sich allein durch das eigene Hobby identifiziert, sozial isoliert. Eine toxische Mentalität, bei der „der Gamer“ nur dann anerkannt wird, wenn das Game ohne Tutorial hart „durchgeballert“ wird. Frauen hingegen sind keine Gamerinnen – mobile Spiele, Gelegenheitsspiele oder gar serious games2 gelten nicht als „richtige“ Spiele. So veraltet diese stereotype Darstellung sein mag, porträtiert sie doch über Jahrzehnte nachhaltig die Szene. Bei der Entwicklung von Videospielen war noch bis Ende der 1990er-Jahre die Zielgruppe überproportional dominant „männlich, weiß, cis“ geprägt. Videospiele stellten in der medialen Beachtung eher eine Randerscheinung dar und ihre Inhalte waren häufig gewalttätig und sexistisch. Eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Inhalten geschah nur in einer homogenen Gruppe von Spielenden mit sehr ähnlichen Interessen, die sich an den Inhalten nicht störten (Klatt 2016). Damals wollte die Spielebranche ihre eigene Zielgruppe klarer definieren, trug dabei aber gleichzeitig stark dazu bei, dass sich in dieser Wechselwirkung ein verallgemeinertes Bild verhärtete. Heraus bildete sich schließlich eine eigene, zutiefst exklusive und von toxischer Nerd-Maskulinität3 getragene Subkultur, die bis heute den Diskurs und das Medium prägt (Brandenburg 2020) – auch wenn sich die Szenen stark ausdifferenziert haben. In den Studios sitzen auf den entscheidungstragenden Positionen noch immer Männer. Selbst die Programmierer*innen sind zu über 80 % männlich. Diese Voraussetzungen prägen seit über 30 Jahren den Markt und damit auch die Industrie und die Szene.
Eine öffentliche oder politische Auseinandersetzung mit Gaming hatte dabei immer einen stark kritischen Fokus auf die Spielenden und weniger auf die tatsächlichen Inhalte. Dies stellte eine Bedrohung für das identitätsgebende Hobby dieser Menschen dar. Debatten über „Killerspiele“ dominierten in Deutschland gerade Anfang der 2000er den Diskurs. Ausschlaggebend war der Amoklauf in Erfurt 2002, bei dem ein 19-jähriger Schüler 17 Menschen, darunter sich selbst, tötete. Anschließende Ermittlungen zeigten auf, dass der Täter gewaltdarstellende Videofilme und -spiele besaß. Politisch wurden daraus Forderung von Verboten dieser nicht weiter definierten „Killerspiele“ laut. Das öffentliche Narrativ war und ist eindeutig: Das Spielen, insbesondere von Shootern, fördere das Gewaltpotenzial der Spielenden. Das Schießen auf virtuelle Gegner*innen konditioniere Spieler*innen auf das Abfeuern einer echten Waffe, hieß es. Diese Annahmen werden bis heute kontrovers diskutiert, sind aber weitgehend entschärft (Fritz 2010, 64f.). Im Jahr 2018, mit der Aufnahme von Online-Videospielabhängigkeit als anerkannte Krankheit (Online Gaming Disorder) durch die WHO, gab es neue Debatten zur „Videospielsucht“. Auch hier stellte sich vor allem im populärwissenschaftlichen Bereich eine durchweg negative Auswirkung von Videospielen in nahezu einseitiger und rezeptiver Art heraus. Die umgangssprachlich falsche Bezeichnung als Suchterkrankung4 setzt Spiele dadurch mit dem Konsum illegaler Rauschmittel gleich.
Jüngste Entwicklungen in Bezug auf eine vermeintliche Gamifizierung von Terrorismus entfachten ähnliche Debatten: Gemeint sind damit beispielsweise der Anschlag in Halle vom 09. Oktober 2020 und der Anschlag in Christchurch in Neuseeland vom 15. März 2019, welche beide mit einer Kopfkamera aus der Ich-Perspektive gefilmt und live im Internet übertragen wurden. Die Inszenierungen glichen dadurch in ihrer Darstellung der von First-Person-Shooter-Videospielen. Die Ausstrahlungen erfolgten dabei auf Plattformen mit starkem Fokus auf Videospiele. Folglich wurde in öffentlichen Auseinandersetzungen davon ausgegangen, dass die Attentäter in videospielaffinen Kreisen sozialisiert und dadurch auch zu diesen Taten motiviert wurden (Kreienbrink 2019).
Solche öffentlichen Diskurse tragen dazu bei, dass Videospiele als Beschäftigung für eine vermeintlich kleine und homogene Bezugsgruppe dargestellt und zusätzlich kriminalisiert werden, ohne den tatsächlichen Problemen in ihrer Gänze gerecht zu werden. Stattdessen stellte sich ein Umgang damit meist nur über pauschale Verbotsdiskurse dar und schürte für Spieler*innen weiter das Gefühl, einer marginalisierten Gruppe anzugehören. Bei Kritik von außen fühlten sich passionierte Spieler*innen angegriffen, ein Opfermythos entstand. Diese Formen der Reaktion auf monokausale Argumentationen bezüglich Inhalten in der Unterhaltungsbranche sind nicht exklusiv bei Videospieler*innen zu finden. Ähnliche Kritik gab es bei der Etablierung von Belletristik, dem Kino oder Massenmedien wie Radio und Fernsehen.
Wie sieht es denn nun in der Realität aus?
Im Jahr 2012 waren bereits 44 % aller Spieler*innen weiblich (Pauckner 2012) und Gaming ist längst eine anerkannte Freizeitbeschäftigung im Querschnitt der Gesellschaft. Die Inhalte von Spielen werden mittlerweile ob ihres Potenzials, Werte zu vermitteln und als Kulturgut zu dienen, anerkannt und zunehmend positiv wahrgenommen. Die Darstellung von Diversität und Weiblichkeit ist in den letzten Jahren auch in prominenten Veröffentlichungen vorangetrieben worden. Nennenswerte Studios veröffentlichten große Produktionen, in denen sich bewusst von Stereotypen abgewandt wurde. Tragende Rollen werden von Frauen und nicht binären Menschen übernommen, zwischenmenschliche Beziehungen gehen über eine heteronormative Darstellung hinaus, es bedarf längst keiner männlichen Rolle mehr als Vorbild, um eine weibliche Spielfigur vollwertig zu machen5. Diese Entwicklungen sind zu begrüßen und dennoch konkurrieren sie mit veralteten Bildern. Schlimmer noch, es werden Stimmen laut, die sich gegen derartige Entwicklungen wehren wollen.
Wie kam Feminismus in die öffentlichen Diskurse ums Gaming?
Diese Gegenbewegungen sind nicht neu und sicher geprägt durch die Geschichte des Videospiels an sich. Bereits 2011 zeigte die Kommunikationswissenschaftlerin Anita Sarkeesian auf ihrer Website „Feminist Frequency“6 sexistische Motive in Videospielen auf. Sie spricht über das „Damsel in Distress Narrativ“ (die sogenannte „Jungfrau in Not“, welche von einem Helden gerettet werden muss), also über männliche Helden, intentionslose Frauen und über sexualisierte Darstellungen und Objektivierung. Dabei betont sie, nicht jedes Spiel sei gleich sexistisch, wenn es sich stereotyper Motive bediene. Dadurch werde auch nicht jede*r Spieler*in sexistisch oder antifeministisch, aber paternalistische Haltungen gegenüber Frauen würden dadurch normalisiert. Im Jahr 2012 versuchte Sarkeesian, ihre Website und ihre Videos über eine Kickstarter-Kampagne zu finanzieren und musste daraufhin Hasstiraden und Shitstorms über sich ergehen lassen (Paukner 2012; Dieckel 2014). Ihre Aufklärungsversuche mit feministischem Fokus wurden als weiterer Eingriff in die Lebenswelt stereotypisierter Spieler*innen wahrgenommen und es folgte eine radikale Abwehrhaltung. Diese bestimmte Gruppe von meist männlichen Spieler*innen sah sich einer neuen Form vermeintlicher „Zensur“ ausgesetzt – nicht mehr nur Gewalt, jetzt solle ihnen auch die erotisierte Darstellung von Frauen genommen werden, so die Argumentation. Das Problem des alltäglichen Sexismus bis hin zum strukturellen Sexismus im Gaming wurde prompt auf die Objektivierung der Frau reduziert.
Bereits hier zeigte sich ein Mangel an Aufgeklärtheit und ein unreflektierter Umgang mit der Problematik in vereinzelten Kreisen. Vor allem über Foren und soziale Netzwerke wurde der Anti-Diskurs laut und zielgerichtet verbreitet, was zu einer Überformung und Dramatisierung des Problems führte. Daraus resultierende Gewaltdrohungen, Browsergames7 und Hasskampagnen gegen Sarkeesian waren nur Vorläufer einer weiteren Eskalation mit antifeministischem Hintergrund. Im Jahr 2014 wurde durch einen Vorfall um die Spielentwicklerin Zoë Quinn eine weltweit ausufernde Debatte losgetreten. Sie veröffentlichte das Spiel „Depression Quest“, das eine Vielzahl an Auszeichnungen erhielt. Ihr ehemaliger Partner ließ jedoch in einem ausführlichen Blogbeitrag den Vorwurf verlauten, sie habe sich durch eine Affäre mit einem Journalisten Vorteile für ihr Spiel erschlichen. Dies führte zu einer antifeministischen Auseinandersetzung unter dem Deckmantel des Gaming-Journalismus.
Die GamerGate-Kampagne
Die daraus entstandene sogenannte GamerGate-Kampagne wuchs zu einer globalen Diskussion über Diversität in Videospielen und in der digitalen Spielbranche heran – und zog eine Welle von Hetze und Verleumdungen nach sich, die sogar beim FBI bearbeitet werden musste (Banascszuk 2019). Es kam zu öffentlichen Beleidigungen, Bedrohungen, Doxxing (unerlaubtes Veröffentlichen personenbezogener Daten), Stalking, Ankündigungen von Attentaten – die Liste der Vorfälle ließe sich fortführen. Die dadurch öffentlich angefeindeten weiblich gelesenen Menschen wurden als Projektionsfläche für eine antifeministische Agenda instrumentalisiert. GamerGate und die damit einhergehenden Attacken gegen Frauen stellen einen Versuch dar, eine Technik-Männlichkeit, also einen Fokus auf Technologie und Computer zu bewahren. Viele Jungs und Männer pflegten dieses Verhalten, um mit Unsicherheiten und Ambiguitäten umzugehen, die eigentlich aus tieferliegenden sozialen und politischen Problemen stammten.
Nicht nur der Umgang mit Frauen in Spielen ist problematisch, sondern auch Frauen hinter dem Bildschirm werden beleidigt und bedroht. Dem Kriminologen Salter zufolge hat GamerGate zu einer „Kultur der Angst“ (Salter 2016, 55) geführt, von der vor allem Frauen im Bereich Gaming, aber auch auf Social Media generell betroffen seien. Strobel beschreibt Sexismus als strukturelles Problem in fast allen gesellschaftlichen Bereichen (Strobel 2021). Gaming bietet unter den beschriebenen Voraussetzungen möglicherweise einen besonderen Nährboden für sexistisches Verhalten, auch wenn es dafür derzeit keine belastbaren Studien gibt (Reymann-Schneider 2019). Genau wie das Fernsehen und andere digitale Medien spiegeln Videospiele den sozialen Status von Gruppen nicht nur wider, sondern sie formen und tragen auf diese Weise auch zur Erhaltung eines Machtgefälles bei (Harwood und Anderson, 2012).
Das gezielte Vorgehen während GamerGate verweist dabei auf Strukturen aus dem antifeministischen losen Netzwerk Manosphere, das bspw. hegemoniale Männlichkeit fördert, aus der amerikanischen rechtsextremen Organisation „Proud Boys“, der amerikanischen rechtsextremen Sammelbewegung „Alt Right“ und der Neuen Rechten. Es waren diese Gruppen, die Rechtsradikale mit GamerGate erfolgreich abholten, und es sind Strömungen dieser Gruppen, die sich immer noch oft und lautstark darüber beschweren, wie sehr die „Social Justice Warriors“8 doch „ihre“ Spiele kaputt machen würden (Brandenburg 2020). Frauenfeindlichkeit ist ein Einstiegspunkt in den Rechtsextremismus (Brandenburg, 2019), rechte Kampfbegriffe werden in den Debatten der Gamingszene häufig genutzt und erhalten somit Einzug in die vermeintliche Mitte der Gesellschaft, werden dadurch als normal angenommen.
Dabei muss kritisch betrachtet werden, inwiefern die Mitte der Gesellschaft in Online-Diskursen überhaupt dargestellt wird, da emotionale und hasserfüllte Inhalte meist eine höhere Aufmerksamkeit erlangen und überproportional stark dargestellt werden. Über „edgy“9 (grenzüberschreitender, schwarzer) Humor radikalisieren sich somit ganze Communitys und bieten Anknüpfungspunkte für rechtsradikales Gedankengut. Dabei ist GamerGate gleichzeitig eine Reaktion auf den Einzug von Videospielen in die Mitte der Gesellschaft – eine Kontroverse über Sexismus im Gaming, bei der sich die „Ureinwohner“ der Szene (Klatt 2016) in ihrer Identität angegriffen fühlten. Das Vorgehen ist also ein von radikalen bis hin zu extremistischen Akteur*innen gesteuertes und überzeichnetes Phänomen. Einzelne Ereignisse wurden durch eine sehr eigene Dynamik für eine Hasskampagne genutzt, wodurch die Illusion einer sehr großen homogenen Gruppe mit starker Außenwirkung erzeugen werden konnte. Dabei gibt es gar keine einheitliche Gaming-Szene und sie ist nicht von Grund auf sexistisch oder antifeministisch. Vielmehr wurde hier ein Thema instrumentalisiert, um eine bestimmte Agenda zu verbreiten. Dieses Vorgehen gilt auch als eine Art Blaupause für darauffolgende Online-Rekrutierungsstrategien.
Problem Sexismus im Game – oder eher sexistische Gamer*innen?
Letztlich sind es also nicht zwangsläufig die Inhalte eines Spiels, die sich am stärksten auf die Konsument*innen auswirken. Mit 21 Jahren haben durchschnittliche Spieler*innen bereits tausende Stunden an Spielzeit vorzuweisen (Maher 2016). In einer digitalisierten Lebenswelt ist eine Unterteilung zwischen einer „realen“ Offlinewelt und einer davon abzugrenzenden digitalen (Spiel-)Welt kaum noch möglich. Da Spiele, neben anderen Unterhaltungsformaten, einen großen Teil der Freizeit, bzw. des Lebens ausmachen, haben sie auch Auswirkungen auf die individuell wahrgenommene Wirklichkeit . Eine der stärksten Auswirkungen auf Spieler*innen sei, wie sie miteinander kommunizieren würden (Maher 2016). Es falle ihnen schwer, sexistisches Verhalten zu erkennen und zu benennen, wenn Sexismus in das Gesamtbild des Spiels verwoben ist und kommunikativ in Chats gepflegt wird (Maher 2016). Wenn sexistische Inhalte in Videospielen nicht ausreichend kritisch aufgearbeitet und hinterfragt werden, dann gilt Feminismus schnell als rotes Tuch und wird zum Opfer von Strohmannargumenten aus den Reihen problematischer Strömungen. Es bedarf also vor allem einer diversen und öffentlichkeitswirksamen Auseinandersetzung mit dem Thema, um dieser polemischen und emotionalisierten Argumentation entgegenzutreten. Dabei sollte klargemacht werden, dass Feminismus die Gamingszene nicht bedrohen will und dass Spiel mit der Angst von der Gegenseite gezielt eingesetzt wird, um Diversität als fremd und bedrohlich darzustellen.
In der heutigen Medienlandschaft begrenzt sich Gaming längst nicht mehr allein auf das Spielen von Videospielen, sondern ist zu einer crossmedialen, medienkonvergenten Freizeitbeschäftigung geworden. Streaming von Lets Plays (Formate, bei denen das Spielen von Videospielen in meist kommentierter Form gefilmt und veröffentlicht wird) und Speedruns (eine Art Wettstreit, bei dem ein Spiel mit allen Mitteln zur Perfektion geübt und dann in Rekordzeit gespielt wird), der Besuch von Conventions (Spielemessen), Rollenspiel und Cosplays (Verkleiden als Charakter aus einem Videospiel oder anderen Unterhaltungsformaten) bis hin zum professionellen E-Sport eröffnen völlig neue Bereiche und diversifizieren weitere Formen von Gemeinschaften. Darin beeinflussen vor allem Top-Streamer*innen mit ihrem Verhalten ihre Gefolgschaft nachhaltig und bieten identitätsfördernde Inhalte. Gamer*innen waren nie isoliert, heute stehen sie sogar international in regem Kontakt, ihre Vorbilder stehen teilweise sinnbildlich für ganze Communitys. Zwischen den tausenden Zuschauer*innen und einem*einer Spieler*in in seinen*ihren wiederkehrenden Live-Übertragungen können parasoziale Bindungen10 entstehen. Konsument*innen fühlen sich durch die direkte Ansprache, als würden sie ihre Idole persönlich kennen und eher im Dialog mit ihnen stehen, statt nur Teil einer riesigen anonymen Zuschauendenschaft zu sein. Dabei kann es durchaus zu einer Idealisierung der Streamer*innen kommen, welche selbst bei Fehlverhalten starken Rückhalt ihrer Fangemeinde bekommen. Die Toleranz diversen Fehlverhaltens befeuert dann zusätzlich und kann noch als Appell zu weiterer Aufmüpfigkeit bis hin zu legitimierten Angriffen, Hass und Hetze verstanden werden. Sollten diese dann kritisiert werden, kommt es nicht selten zu polarisierenden Auseinandersetzungen. Dabei stehen dann die Betroffenen oft als Individuum sinnbildlich für eine ganze Gruppe von Menschen. Eine sachliche Auseinandersetzung findet selten statt und emotionalisierende Debatten schaffen große Aufmerksamkeit. Die Reichweitenverantwortung bleibt dabei meist aus, Kritik wird als persönlicher Angriff gesehen und das Vorhaben, auf Missstände hinzuweisen, schlägt sich in einen Machtkampf um die Deutungshoheit viel zu komplexer Themen um.
Beispielhaft: Gibt es eine Situation, in der es zu einer sexistischen Äußerung oder Handlung durch eine*n Streamer*in kommt und diese wird als nicht angemessen benannt, entfacht selten ein sachlicher Streit über das Thema. Die Handlung wird dann über die Maße von der befürwortenden Seite in Schutz genommen und jedes Gegenargument wird als Angriff wahrgenommen. Die Deutungshoheit obliegt in solchen Situationen meist nicht den von Sexismus Betroffenen. Die Community schlägt sich also auf die Seite des „Idols“ und relativiert das eigentliche Problem des sexistischen Übergriffs. Der*die Streamer*in fühlt sich im eigenen Verhalten bestärkt und die marginalisierte Gruppe erhält wenig solidarischen Rückhalt. Verantwortung für das Fehlverhalten wird nicht übernommen, es wird sogar eher noch als Ansporn gesehen, den Fans genau dieses Verhalten weiterhin zu bieten, da es auf Zustimmung gestoßen ist.
Ein Blick in die Zukunft?
Bei all diesen Entwicklungen darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass sich vieles in eine gute und aufgeklärte Richtung bewegt: In der Spielindustrie, in Fangemeinden, bei den Herstellenden wie Konsumierenden zeigt sich Engagement für eine gelebte Vielfalt im Gaming. Dabei gehen Diversitätsinitiativen von einer Vielzahl an Akteur*innen aus. So zeigt eine Studie des Mobilfunkanbieters congstar zum Thema „Girls and Gaming“ (congstar 2022), dass das Bewusstsein für sexistische Inhalte und die Relevanz von Diversität durchaus zunehmen. So halten es 16 % der Befragten für problematisch, dass Frauen in Videospielen seltener im Vordergrund stehen. Aber immerhin 31 % aller befragten Studierenden sehen es als problematisch an, wenn Frauen unterrepräsentiert sind. Insgesamt sehen 8 % der Teilnehmenden die Darstellung von diversen Geschlechtern als relevant an. Das wirkt erst einmal wenig, ist aber in jüngeren Kohorten (18-25-Jährige zu 25 %) und bei Studierenden (45 %) signifikant höher. Besonders beeindruckend ist, dass fast jede*r Dritte auch bei der Kaufentscheidung eines Spiels bewusst durch bekannte Sexismusprobleme innerhalb von Unternehmen beeinflusst werden.
Die Zahlen der congstar-Studie bleiben zwar hinter wünschenswerten Erwartungen zurück, die Ergebnisse zeigen aber, dass gerade bei jungen, weiblich gelesenen Personen Diversität eine gestiegene Bedeutung hat. Und auch bei cis-männlichen Personen deutet sich ein wachsendes Bewusstsein an. Vor allem in dem Kontext nahezu unkommentierter Problemlagen in der Geschichte von Videospielen zeigt sich, dass der noch recht junge Kampf gegen Alltagssexismus an Bedeutung und gesellschaftlichem Bewusstsein gewinnt. Akteur*innen stehen gemeinsam für eine diverse und gerechte Medienlandschaft ein. Dabei wird endlich klar, dass Gaming nicht von einer durchgängig sexistischen, misogynen und vor allem unverbesserlichen Szene geprägt ist. Viel mehr werden Potenziale sichtbar und die Gegner*innen von Gleichberechtigung und Demokratie können auch unter dem Deckmantel der Unterhaltungsbranche benannt und ihr Verhalten aufgedeckt und kritisch aufgearbeitet werden. Sexismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und es kann an allen Fronten bekämpft werden.
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1 Geek bezeichnet seit den 1990er-Jahren meist abfällig Menschen mit einem starken Interesse an modernen Medien, Informatik und dem Internet. Die klassische Definition kommt der eines Hackers nahe.
2 Serious Games sind Spiele, die nicht ausschließlich einem Unterhaltungszweck dienen – im weitesten Sinne Lernspiele, die neben der Unterhaltung einen starken Fokus auf Bildung und Information legen.
3 Der „Nerd“ ist zwar negativ konnotiert, wird aber in seiner Form als technikaffin und somit in einer digitalisierten Welt als bevorteilt wahrgenommen. Dieses Bild hat sich popkulturell mittlerweile jedoch stark gewandelt.
4 Der Suchtbegriff ist hier teilweise umstritten. Laut WHO handelt es sich in der Übersetzung der „online gaming disorder“ um eine nicht stoffgebundene Abhängigkeit. Der Suchtbegriff fördert eine stark negativ behaftete Konnotation, gerade in Bezug auf Spielen als eine natürliche Handlung von Kindern. Eine eindeutige Bezeichnung ist bisher nicht etabliert, der Autor legt persönlichen Wert darauf, Distanz zu dem Wort Sucht im Zusammenhang mit spielerischen Tätigkeiten zu verwenden.
5 Nennenswerte Beispiele sind „Hellblade – Senuas Sacrifice“, „Assasins Creed Oddysee“, „Horizon Zero Dawn“ oder „The Last of Us – Part II“, in denen jeweils die Rolle weiblich gelesener Figuren übernommen wird, die nicht einfach nur eine Geschichte erleben, wie sie einer männlich gelesenen Person auch passieren könnte oder an männliche Standards angepasst wurde. Es sind eigenständige und vollwertige Figuren mit eigenen Beweggründen für ihr Handeln.
6 https://feministfrequency.com/.
7 Bspw. ein Spiel, in dem sich gewaltsam an einem Abbild von Anita Sarkeesian ausgelassen werden muss.
8 Eine meist abwertende Bezeichnung von Aktivist*innen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, häufig Feminist*innen oder Bürgerrechtler*innen.
9 Bspw. belegt durch aufmerksamkeitsbasierte Algorithmen bei Facebook, https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/frances-haugen-facebook-meta-101.html.
10 Diese Annahme basiert auf den Ausarbeitungen von Horton/Wohl und kann durch den Autor derzeit durch keine wissenschaftlichen Studien belegt werden.
Max Neuhäuser, B. A. Bildungswissenschaft, seit 2016 Referent im Kinder- und Jugendschutz, Themenschwerpunkte: Extremismusprävention, Desinformation und Verschwörungsideologien, Hasskriminalität und (sexualisierte) Gewalt im Netz, exzessive Mediennutzung. Aktuelle Interessenschwerpunkte liegen in den Bereichen Rekrutierung und politische Konditionierung über (Online)-Gaming-Communitys und Chancen und Gefahren „Künstlicher Intelligenz“.
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