Alternativen zu verqueren Ansprachen: wie politische Bildung auf Online-Strategien der Querdenken-Bewegung reagieren kann

Empfohlene Zitierung:

Friedrich, Benedikt (2023). Alternativen zu verqueren Ansprachen: wie politische Bildung auf Online-Strategien der Querdenken-Bewegung reagieren kann. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Netzkulturen und Plattformpolitiken, Band 14. Jena, 152–163.

Schlagwörter:

Politische Bildung, alternative Narrative, Beziehungsarbeit, soziale Medien, Online-Ansprachen, Querdenken

 


Radikalisierende Online-Ansprachen werden in sozialen Medien verbreitet, um niedrigschwellig potenzielle Anhänger*innen anzuwerben und zu mobilisieren. Diese sind oft so subtil gestaltet, dass sie reglementierende Maßnahmen umgehen und argumentativen Gegenstrategien wenig Anknüpfungspunkte bieten. Politische Bildung kann hier Alternativen eröffnen und auf den Plattformen Räume des Austauschs, der Reflexion sowie des Empowerments initiieren. Dies wurde durch Ansprachen der Querdenken-Bewegung auf Twitter veranschaulicht. Mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse von knapp 200 Bildern und Videos konnten sechs Hauptansprachen identifiziert sowie deren Wirkweise erfasst werden. Mit alternativen Narrativen, systemischen Fragen und persönlichem Erfahrungsaustausch kann politisch bildnerisches Handeln direkt an den Ansprachen ansetzen und auf einer Beziehungsebene mit den Nutzer*innen individuelle Sorgen diskursiv konkretisieren, Strategien für die Einordnung von Informationen erarbeiten, alltägliche Selbstwirksamkeit und Lösungswege aufzeigen sowie den Umgang mit Ambiguitäten fördern.


 

 

Subtile Online-Ansprachen als Herausforderung

Das Internet bietet extremistischen Akteur*innen eine nützliche Infrastruktur zur Vernetzung, zur Koordination von Aktivitäten und zum Informationsaustausch (Neumann et al. 2018, 10–14). Über soziale Medien werden stark ideologisierte und radikalisierende Inhalte sowie Desinformation verbreitet und gezielt neue Anhänger*innen angesprochen oder mobilisiert (Abay Gaspar et al. 2018, 34). Als Maßnahmen gegen derartige Inhalte bemühen sich Plattformbetreibende, unter Rückgriff auf ihre Richtlinien Gewaltdarstellungen und Hassbotschaften zu löschen und Profile zu sperren. Zivilgesellschaftliche Projekte versuchen hingegen mittels argumentativer Strategien wie Gegenrede oder Faktenchecks, extremistische Beeinflussungsversuche und Falschaussagen als solche zu entlarven, zu widerlegen und zu delegitimieren.

Während ersichtlich extremistische und gesetzeswidrige Inhalte vor allem in privaten Messenger-Räumen wie Telegram geteilt werden, finden Erstansprachen und Zugänge zu radikalen Szenen viel eher niedrigschwellig über öffentliche Plattformen und mittels subtiler Argumentation statt. So dienen etwa TikTok, Twitter, Instagram oder YouTube als „Einstiegsplattformen“ für verschwörungstheoretische und ideologiegeladene Inhalte (Eckert und Schmidt 2021, o. S.). Antidemokratische Botschaften sind dort häufig nicht umgehend als solche zu identifizieren. Diese strategische Darstellung umgeht die Gefahr der Löschung und bewirkt ein Einsickern in den Mainstream (Birsl et al. 2022, 17). Außerdem bieten sie so viel Auslegungsspielraum, dass Faktenchecks und konfrontative Gegenstrategien oft nicht greifen und diese sogar krude Argumentationslinien und radikale Denkmuster verstärken können (Sold und Abay Gaspar 2019, 41–42). Subtile Online-Ansprachen dienen somit als Ausgangspunkt, um gezielt unentschlossene, moderate oder apolitische Menschen anzusprechen und sie schrittweise zur Migration auf privatere Foren zu bewegen, wo extremistische Standpunkte offen ausgetauscht werden und sich die Nutzer*innen zunehmend radikalisieren (Rafael und Dittrich 2019, o. S.).

Wie kann man nun mit derartig subtil gestalteten, aber dennoch problematischen Ansprachen auf öffentlich zugänglichen Plattformen umgehen? Der Text verortet dahingehend zunächst Handlungspotenziale in der politischen Bildung. Es folgt eine Analyse von Ansprachen der Querdenken-Bewegung auf Twitter. Diese dienen als Grundlage für konkrete Vorschläge politisch bildnerischen Handelns.

Potenziale politischer Bildung

Das Hauptziel aufklärerisch-emanzipatorischer politischer Bildung ist die Befähigung von Individuen zur selbstbestimmten und kritischen Urteilsbildung (Hufer 2021, 29–30). Dies erfolgt durch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Fragen aus verschiedenen Perspektiven und dem Begreifen komplexer Zusammenhänge (Heinrich 2017, 265). Dabei indoktriniert politische Bildung nicht, sondern gibt Raum, neue An- und Einsichten zu erlangen, will Einstellungen und Überzeugungen diskutieren sowie Erfahrungen von Selbstwirksamkeit ermöglichen.

Politische Bildung bietet dadurch Umgangsmöglichkeiten für radikalisierende Online-Ansprachen. Statt auf Reglementierung, argumentative Faktenchecks und konfrontative Gegenrede kann sie auf den Einsatz alternativer Narrative setzen. Diese nehmen direkt auf die Inhalte Bezug, indem sie abweichende und positive Interpretationen aufzeigen und zu einem persönlichen Erfahrungsaustausch anregen. So wird nicht gegen etwas argumentiert oder Dinge ausschließlich rational-logisch klargestellt, sondern für etwas eingestanden und geworben, etwa für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Partizipationsmöglichkeiten (Frischlich 2019, o. S.). Der subjektive Austausch kann potenzielle Konflikte verringern und Perspektivwechsel anstoßen, da sich vermeintliche Fakten nicht widersprechen, sondern verschiedene Sichtweisen nebeneinander bestehen dürfen. So können in sozialen Medien Foren des Austauschs entstehen, in denen Ansprachen kritisch reflektiert, eigene Anliegen diskutiert, kontroverse Positionen verhandelt sowie Handlungsoptionen entwickelt werden (Jantschek 2021, 39).

Inwiefern dies konkret ausgestaltet werden kann, wird anhand von Online-Ansprachen der Querdenken-Bewegung veranschaulicht.

Ansprachen der Querdenken-Bewegung auf Twitter

Um pädagogische Handlungsmöglichkeiten zu generieren, muss zunächst Wissen über die zentralen Narrative bestehen (Sold und Abay Gaspar 2019, 38), sich mit ihnen rational und dechiffrierend auseinandergesetzt werden (Hafeneger 2018, 51). Die Forschung zur Online-Agitation der Querdenken-Bewegung konzentriert sich größtenteils auf (teil-)private Messenger-Räume (u. a. Otto 2021; Wiebe 2022; Holzer 2021). Daher widmet sich dieser Text den öffentlich zugänglichen Ansprachen und Mobilisierungsversuchen und analysiert Medieninhalte der Querdenken-Bewegung auf Twitter. Grund für die Wahl der Plattform war die dortige beobachtete Aktivität vieler Querdenken-Profile sowie die weitreichende Löschung von Querdenken-Seiten auf anderen Plattformen wie YouTube, Facebook und Instagram.

Zuerst wurden alle Querdenken-Profile mit mindestens 100 Follower*innen erfasst, die charakteristisch aus dem Namen „Querdenken“ und den Anfangsziffern der jeweiligen Ortsvorwahl zusammengesetzt sind. Von insgesamt 34 identifizierten Profilen war zum Erhebungszeitpunkt „QUERDENKEN-711 (Stuttgart)“ mit 12.056 Follower*innen die größte und „Querdenken-5231 (Detmold)“ mit genau 100 Follower*innen die kleinste Seite. Zweitens wurde als thematische Eingrenzung der „Sommer der Freiheit“ ausgewählt, eine überregionale Mobilisierungskampagne der Querdenken-Bewegung, die sich hauptsächlich auf eine Großdemonstration am 01.08.2021 in Berlin bezieht (Frei und Nachtwey 2021, 16). Drittens folgte eine Erhebung von kampagnenbezogenen Medien-Inhalten anhand von Beschreibungstexten, verwendeten Hashtags und direkten inhaltlichen Bezügen. Dabei wurden ausschließlich originär von den Profilen geteilte Posts berücksichtigt. Es wurden 125 Bilder und 73 Videos samt Beschreibungstexten analysiert, die von 14 der 34 Profilen im Zeitraum vom 20.05.21 bis zum 06.08.21 zum „Sommer der Freiheit“ geteilt wurden. Die Analyse konzentrierte sich auf visuelles Material, da die Verbreitung derartiger Medieninhalte als besonders effektiv gilt, sie eine größere Aufmerksamkeit erzeugen, eher im Gedächtnis bleiben, weniger hinterfragt werden und oft eine höhere Glaubwürdigkeit genießen als ausschließlich textbasierte Inhalte (Rodriguez und Dimitrova 2011, 50).

Die Untersuchung erfolgte regelgeleitet anhand der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz 2018) und wurde um das Konzept des kollektiven Handlungsrahmens (Benford und Snow 1988) ergänzt, um zu verstehen, wie die Inhalte Problemlagen und deren Ursachen darstellen, Lösungs- und Handlungsstrategien aufzeigen und Anreize zur Mobilisierung bieten. Die Sprachebene des Materials wurde transkribiert, während das visuelle Material auf seiner stilistischen, ideologischen, inhaltlich vordergründigen wie auch hintergründigen Ebene (Rodriguez und Dimitrova 2011, 52–59) erfasst wurde.

Aus dem untersuchten Material ließen sich sechs Hauptansprachen ableiten:

  1. Drohende dystopische Zukunft: Es wird eine düstere Zukunft beschrieben, die auf negativ bewerteten Zuständen und Entwicklungen der Gegenwart basiert. Die Bedrohung durch repressive Regierungsmaßnahmen, Zwangsimpfungen und wirtschaftliche Krisen schürt Ängste, erzeugt Handlungsdruck und legitimiert dabei die gegenwärtige Kritik. Anschlussfähig wird diese Erzählung, indem drohende Szenarien lediglich vage formuliert und schwammig angedeutet werden. Dies bietet Raum für individuelle Interpretation und Anknüpfung für persönliche Ängste und Krisenerfahrungen.
  2. Feindbild etablierte Autoritäten: Politik, Polizei, Wissenschaft und Medien werden pauschal als undemokratisch, verlogen und manipulativ dargestellt. Durch die Abgrenzung zu klar definierten Feindbildern wird die eigene Gruppenidentität bestärkt. Wirksam wird diese Erzählung, wenn durch Feindbilder abstrakte Sorgen und Ängste greifbar werden. Eine Projektionsfläche für persönliches Leid, Frust, Verzweiflung und Unsicherheit wird geschaffen.
  3. Selbstdarstellung als Opfer: Die eigene Gruppe wird als diskriminiert und ungerecht behandelt dargestellt. Aus einer Verteidigungsposition heraus werden widerständige Handlungen als Pflicht legitimiert, um stellvertretend für die schweigende Mehrheit den Eliten Paroli zu bieten. Diese Erzählung funktioniert, indem faktische Elemente und wahre Negativbeispiele (etwa dokumentierte Polizeigewalt) herangezogen werden, um sie zu verallgemeinern und auf andere Bereiche zu übertragen. Durch den geforderten mutigen Widerstand werden proaktive Lösungswege zur Emanzipation aus der eigenen Opferrolle geboten.
  4. „Glaube nichts, hinterfrage alles, denke selbst“: Informationen der etablierten Autoritäten zur Corona-Pandemie werden als konstruierte Unwahrheiten und die jeweiligen Akteur*innen als prinzipiell unglaubwürdig dargestellt. Eigene Recherche und selbstständiges Denken werden als Maxime präsentiert. Dies wird jedoch meist nicht auf das Individuum bezogen, sondern auf die alternativen Wissensbestände der Querdenken-Bewegung. Die Attraktivität dieser Erzählung ergibt sich aus der Präsentation einfacher Antworten und klarer Handlungsempfehlungen, die Orientierung bieten und im Gegensatz zur Überforderung durch die Menge an komplexen und teils ambivalenten wissenschaftlichen Informationen stehen.
  5. Utopische Idealvorstellungen als Forderung: Es werden blumige Forderungen gestellt, etwa nach Liebe, Frieden, Freiheit, Wahrheit, Selbstbestimmung und „echter Demokratie“. Für deren Umsetzung wird der Konflikt mit den etablierten Autoritäten als unausweichlich dargestellt. Selbstjustiz, Widerstand und kämpferische Handlungen werden als logische Konsequenz und akzeptierte Handlungsoptionen präsentiert. Jene bedeutungsschweren Forderungen werden nicht genauer definiert, was wiederum ausreichend Spielraum für individuelle Bedürfnisse und Wünsche zulässt. Als Gegenentwurf zu dystopischen Szenarien werden hier Perspektiven aufgezeigt, die Ängste nehmen und die Wirksamkeit des eigenen Handelns hervorheben.
  6. Individuelle Vorteile durch Gruppenanschluss: Die Bewegung wird als Gemeinschaft von Gleichgesinnten dargestellt, die Zugehörigkeit, Geborgenheit und Anerkennung bietet. Die Teilnahme an kollektiven Aktivitäten verspricht Spaß und Abwechslung. Der Erfolg der Bewegung konstituiert sich maßgeblich durch die Partizipation und Unterstützung der Gruppenmitglieder. Durch diese Erzählung wird das Gefühl vermittelt, als Individuum selbst bedeutsamer Teil der Gruppe und derer Ziele sein zu können. Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Wertschätzung und Selbstwirksamkeit werden angesprochen. Gerade im Kontrast zu potenziellen persönlichen Ausgrenzungserfahrungen, mangelndem Selbstwertgefühl und negativen biografischen Erlebnissen wird diese Erzählung wirkungsvoll.

Die Ansprachen auf Twitter ähneln den Beobachtungen des analogen Demonstrationsgeschehens, etwa der Liebes-Rhetorik einer „Festgemeinschaft“, die sich durch Bedrohungen von außen zu einer „Leidensgemeinschaft“ wandelt, und schließlich zur „Widerstandsgemeinschaft“ umschwingt, die sich durch eigenes Wissen abgrenzt und ihren Zorn auf politisch Verantwortliche richtet (Frei und Nachtwey 2021, 18). Im Vergleich zu Telegram, wo gezielte Desinformation und manifeste Verschwörungstheorien (Holzer 2021, 132) bis hin zu Tötungsaufrufen (Wiebe 2022, o. S.) verbreitet werden, handelt es sich beim untersuchten Material zwar teils um verquere, jedoch meist nicht um strafrechtlich relevante Inhalte. Vergleichbare Kommunikationsstrategien rechtsextremer und islamistischer Gruppen bestätigen aber, dass niedrigschwellige und identitätsstiftende Online-Angebote ein Ausgangspunkt für demokratiefeindliche Botschaften sein können, die Verschwörungsglauben und gewaltbefürwortende Einstellungen befördern (Fielitz und Kahl 2022, 289–292).

Die Ansprachen tauchen vereinzelt oder zusammen mit unterschiedlichen Schwerpunkten im gesichteten Material auf und bauen nicht zwangsläufig aufeinander auf. Dabei kann es innerhalb der Ansprachen zu inhaltlichen Diskrepanzen kommen – etwa wenn trotz der Forderung, alles zu hinterfragen, alternative Informationen unreflektiert als neuer Wissenskonsens akzeptiert werden sollen. Die Ansprachen können auch untereinander Widersprüche erzeugen, z. B. wenn trotz der eigenen Opferdarstellung die Möglichkeit besteht, rauschende Feste zu feiern oder große Demonstrationen durchzuführen. Dies legt nahe, dass nicht immer eine in sich schlüssige Geschichte erzählt werden muss, sondern einzelne Bausteine in Reaktion auf politische, gesellschaftliche oder andere situative Entwicklungen angepasst und gezielt dafür genutzt werden können, um verschiedene Zielgruppen anzusprechen und ihnen je nach Lebenslage wirksame Anknüpfungspunkte für alltagsrelevante Themen zu bieten. Der Wunsch nach gemeinsamem Feierabendbier, Tanz und Meditation wird ebenso bedient wie die Rebellion gegen den Staatsapparat durch (körperliche) Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Konkrete Handlungsmöglichkeiten

Hier kann politisch bildnerisches Handeln anknüpfen, wenn es sich in sozialen Medien an diejenigen Nutzer*innen wendet, die sich von den Inhalten angesprochen fühlen, aber selbst noch keine stark ideologisierten Weltbilder internalisiert haben. Der proaktive Kontakt zur Zielgruppe kann auf verschiedene Weisen erfolgen: durch direkte Gesprächsangebote von politischen Bildner*innen in den Kommentarspalten, persönliche Chatanfragen oder selbst produzierte Beiträge in sozialen Medien. Wie die identifizierten Erzählungen zeigen, greifen viele der Ansprachen der Querdenken-Bewegung ernst zu nehmende individuelle Sorgen und Bedürfnisse auf. Für politische Bildung gilt es, hier Alternativen zu präsentieren und einen offenen und vorurteilsfreien Raum zu schaffen, in dem Kontroverses diskutiert, Standpunkte konkretisiert und gleichzeitig individuelle Erfahrungen respektiert werden. Hilfestellungen für den Umgang mit persönlichen Krisen, die Sensibilisierung für Desinformation sowie das Empowerment, eigene Lösungsansätze und Selbstwirksamkeit zu entwickeln, gehen damit einher.

Dabei ist es entscheidend, Grundlagen für substanzielle Diskussionen und Gespräche mit der Zielgruppe zu schaffen und diese aufrechtzuerhalten, selbst wenn Emotionen wie Ärger, Wut und Gefühle der Vernachlässigung im Spiel sind. Wenn es Praktiker*innen politischer Bildung gelingt, der Versuchung zu widerstehen, mittels Gegenerzählungen argumentativ zu belehren, ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, um mit der Zielgruppe von einer allgemeinen und konfrontativen Sachebene auf eine persönliche, empathische und diskursive Beziehungsebene zu gelangen.

So kann eine gezielte systemische Fragetechnik Perspektivwechsel initiieren („Was denkst du, wie sich jemand fühlt, wenn er deinen Kommentar liest?“), neue Sichtweisen ermöglichen („Was bräuchtest du, damit du in Zukunft glücklicher wärst?“) oder dazu beitragen, gedankliche Barrieren zu überwinden sowie versteckte Ressourcen und Bedürfnisse sichtbar zu machen („Wenn dein Problem von einem Moment auf den anderen wie durch ein Wunder gelöst wäre, was würdest du dann machen?“). Weiterhin animieren persönliche Erzählungen das Gegenüber, selbst Erfahrungen zu teilen und in einen Austausch zu treten (Hagemeier und Stuiber 2020, 24–38). Durch aktives, zugewandtes Zuhören und Nachfragen, ein offenes und ehrliches Interesse an den Themen und Problemen der Zielgruppe sowie das Anerkennen individueller Lebensrealitäten fühlen sich die Gegenüber wahrgenommen und akzeptiert. Das wird auch nicht durch eine kritisch-distanzierte Haltung der Praktiker*innen gegenüber bestimmten Standpunkten und Aussagen geschmälert.

Während ähnliche Methoden bereits in anderen Kontexten angewendet werden (Hagemeier und Stuiber 2020; Visualising Democracy 2023), wird anhand der sechs spezifischen Querdenken-Hauptansprachen überlegt, welche konkreten Möglichkeiten sich diesbezüglich für politische Bildungsarbeit ergeben könnten:

  1. Drohende dystopische Zukunft: Systemische Fragen zu den geteilten Inhalten eröffnen einen Raum, um individuelle Befürchtungen und Probleme zu konkretisieren. Dies kann beispielsweise durch hypothetische Fragen erfolgen, etwa: „Wie würde dein Alltag aussehen, wenn deine Befürchtungen wahr werden?“ Darauf aufbauend wird das Potenzial auf Ressourcen, Umgangsmöglichkeiten und Lösungsperspektiven gelenkt („Was macht dich zuversichtlich? Was kannst du tun, um diesen Zustand zu erreichen?“). Bei Bedarf erfolgt die Weitervermittlung an Beratungsstellen.
  2. Feindbild etablierte Autoritäten: Eine eigens produzierte Video-Reihe macht den beruflichen Alltag von Politiker*innen, Polizist*innen und Wissenschaftler*innen nahbar und erfahrbar. Transparente Einblicke in Entscheidungswege, Debatten und Kompromissfindungen werden gegeben. Diese Videos werden geteilt und dienen als Grundlage, anhand derer Gefühle von Frust und Ohnmacht thematisiert werden können. Ähnliche Formate produzierten punktuell bereits der Hessische Rundfunk1 oder die Tagesschau2 sowie die österreichische Plattform PolEdu3 – gerade für zivilgesellschaftliche Projekte bieten sich hier noch viele Potenziale.
  3. Selbstdarstellung als Opfer: Im Austausch (entweder öffentlich oder im privaten Chat) werden berechtigte Beschwerden und Ängste gesehen und anerkannt. Dabei ist es wichtig, Missstände anzusprechen, ohne pauschale Opfererzählungen zu reproduzieren. Dies kann gelingen, indem der Fokus auf persönliche Erfahrungen gelenkt und individuellen Ungerechtigkeiten Raum gegeben wird.
  4. „Glaube nichts, hinterfrage alles, denke selbst“: Die Wichtigkeit der kritischen Auseinandersetzung mit Informationen wird bestärkt. Politische Bildner*innen teilen persönliche Strategien und Tipps zur Bewertung und Einordnung. Gemeinsam werden allgemeine Standards und Hilfestellungen im Umgang mit Desinformation und Verschwörungserzählungen erarbeitet. Zudem wird das pauschale Misstrauen gegenüber Medien und dem Staat thematisiert, um konkrete Sorgen und Bedürfnisse anzusprechen und Umgangsweisen zu erarbeiten. Die Kontaktaufnahme kann in den Kommentarspalten beginnen und kann je nach Bedarf in ein intimeres Setting (Einzelchat) wechseln.
  5. Utopische Idealvorstellungen als Forderung: Diskussionen in öffentlichen Kommentarspalten unter den jeweiligen Inhalten werden initiiert. Dort werden anhand der Forderungen gemeinsam geteilte Werte und Ideale identifiziert, konkretisiert und hervorgehoben. Es wird eruiert, was es braucht, um jene Vorstellungen umzusetzen. Kompromisse werden diskutiert und Gewalt als Mittel verurteilt.
  6. Individuelle Vorteile durch Gruppenanschluss: In einem Verbund mit lokalen Kooperationspartner*innen werden Angebote von Sportvereinen, Kultureinrichtungen, Nachbarschaftsinitiativen, politischen Bürgergruppen, Stadtteiltreffs etc. online vorgestellt. Einzelne Mitglieder dieser Einrichtungen berichten von ihren Erfahrungen und laden mit ihren Geschichten zur Partizipation ein.

Fazit

Subtile, radikalisierende Ansprachen in sozialen Medien stellen eine Herausforderung dar. Die Analyse von Inhalten der Querdenken-Bewegung auf Twitter zeigt, wie politische Bildung hier Umgangsstrategien bieten kann. Grenzen und Potenziale müssen dabei offen und ehrlich anerkannt werden: Politische Bildung allein kann nicht die großen gesellschaftlichen Konflikte lösen, aber sie kann durchaus Alternativen zu verqueren (Online-)Ansprachen anbieten. Die Querdenken-Bewegung dient hier als Beispiel, obwohl inzwischen ihre Präsenz nachgelassen hat. Der Ansatz ist durch seine Orientierung an den Themen und Bedürfnissen der Zielgruppe auch auf andere aktuell polarisierende Inhalte flexibel übertragbar, beispielsweise die Krisenmobilisierung zur Klima- oder Migrationspolitik. Gleiches gilt aufgrund vergleichbarer Online-Strategien (Fielitz und Kahl 2022) auch für andere Szenen: Diesbezüglich gibt es bereits vereinzelte Leuchtturmprojekte, die eine ähnliche methodische Herangehensweise verfolgen, etwa streetwork@online4 im Bereich Islamismus oder Good Gaming – Well Played Democracy5 (vgl. der Beitrag von Mick Prinz in diesem Band) im Bereich Rechtsextremismus. In Anbetracht der Relevanz des Themas verdienen derartige Ansätze wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Bezogen auf das direkte pädagogische Handeln in sozialen Medien besteht hier für politische Bildungsarbeit noch viel Entwicklungsbedarf, um die Online-Foren nicht denjenigen zu überlassen, die mit radikalisierenden Ansprachen versuchen, Individuen von sich zu überzeugen und für ihre Zwecke zu mobilisieren.

 

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1    www.youtube.com/watch (abgerufen am 26.10.2023).

2    www.youtube.com/watch (abgerufen am 26.10.2023).

3    poledu.at (abgerufen am 21.05.2023).

4    www.streetwork.online (abgerufen am 21.05.2023).

5    www.amadeu-antonio-stiftung.de/projekte/good-gaming-well-played-democracy (abgerufen am 21.05.2023).

 


Benedikt Friedrich, M. A. Erziehungs- und Bildungswissenschaft, war von 2021 bis 2023 als Online-Streetworker im Präventionsprojekt streetwork@online tätig. Seit April 2023 setzt er sich als Koordinator und Referent im Projekt „Narrativ-Check: Was hinter radikalisierenden Botschaften steckt“ des Zentrum Liberale Moderne verstärkt mit Instrumentalisierung, Rezeption und Wirkungsweisen bestimmter (Online-)Narrative auseinander.


 

Literatur

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