Gegenrede gegen antisemitische Hassrede – eine vergleichende Studie französischer und britischer Online-Kommentarspalten

Empfohlene Zitierung:

Ascone, Laura/Placzynta, Karolina/Vincent, Chloé (2023). Gegennarrative gegen antisemitische Hatespeech. Eine vergleichende Studie französischer und britischer Online-Kommentarspalten. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Netzkulturen und Plattformpolitiken, Band 14. Jena, 164–177.

Schlagwörter:

Gegenrede, Antisemitismus, Mainstream-Medien, Kommentarspalten, Mixed-Methods-Ansatz

 


Die zahlreichen Gesetze, die in jüngster Zeit in ganz Europa erlassen wurden, sind ein Beweis für die Bereitschaft der Regierungen, Hatespeech (Hassrede) einzuschränken und zu bekämpfen. Auf der Mikroebene zeigen Online-Kommentarspalten, dass einige Nutzer*innen ebenfalls versuchen, Hatespeech zu bekämpfen, indem sie sich an einer Diskussion beteiligen und/oder Hassinhalte melden. In diesem Beitrag wird untersucht, wie Internetnutzer*innen antisemitischer Hatespeech in Online-Kommentarspalten begegnen, die durch zehn nationale und internationale Diskursereignisse ausgelöst wurden, über die britische und französische Medien berichteten. Insgesamt wurden 48.251 Webkommentare gesammelt und mithilfe eines gemischten Methodenansatzes analysiert. Die quantitative Analyse beleuchtet sowohl den Anteil als auch die Entwicklung von antisemitischen Kommentaren und Gegenrede-Kommentaren in den verschiedenen Sub-Korpora.


 

Einleitung

Die zahlreichen Gesetze, die in jüngster Zeit in Europa erlassen wurden (u. a. das NetzDG in Deutschland oder das Loi Avia in Frankreich), sind ein Beweis für die Bereitschaft, Hassrede einzuschränken und zu bekämpfen. Auf der Mikroebene zeigen die Online-Kommentarspalten, dass einige Nutzer*innen versuchen, Hassrede ebenfalls entgegenzuwirken, indem sie sich an einer Diskussion beteiligen und/oder Hassinhalte melden. Im vorliegenden Beitrag wird diese Ebene untersucht, wobei der Schwerpunkt auf antisemitischer Hassrede liegt. Als Gegenrede oder als Gegenerzählung wird hier ein Diskurs verstanden, der in einer explizit antagonistischen Weise (Mouffe 2010) dem entgegenwirkt, was an anderer Stelle geäußert wurde, z. B. in anderen Kommentaren innerhalb des untersuchten Online-Kommentar-Threads oder in einem Medienartikel, zu dem Webnutzer*innen einen Kommentar abgeben. In diesem Fall betrachteten wir als Gegenerzählung nur die Kommentare, die sich explizit gegen den antisemitischen Diskurs und gegen antisemitische Stereotypen und Tropen richteten.

Um die Muster zu bewerten, wurde die Analyse von Kommentaren auf den Websites und Social-Media-Plattformen großer Medien in Großbritannien und in Frankreich durchgeführt. Die Korpora wurden im Rahmen des transnationalen und interdisziplinären Forschungsprojekts „Decoding Antisemitism: Eine KI-gestützte Studie zu Hassreden und -bildern im Internet“ erstellt, dessen Ziel es ist, Inhalt, Struktur und Häufigkeit von Antisemitismus in Online-Räumen zu untersuchen (Becker et al. 2021).

Nach der Vorstellung des Korpus und der Methodik werden die Anteile der antisemitischen Kommentare und Gegenrede-Kommentare in den beiden untersuchten Sprachgemeinschaften sowie der Zusammenhang zwischen dem Diskursereignis und dem Umfang der Gegenrede untersucht. Der quantitativen Untersuchung folgt eine qualitative Analyse der Zusammenhänge zwischen den antisemitischen Äußerungen und den Gegenäußerungen. Außerdem wurde untersucht, wie sich das Diskursereignis auf die Art und Weise auswirkt, wie Internetnutzer*innen antisemitischen Kommentaren entgegentreten.

Forschungshintergrund und Design

Aktueller Antisemitismus in Online-Räumen

Mit dem Aufkommen des interaktiven Webs und insbesondere der sozialen Medien hat sich die Kommunikationsdynamik im Internet verändert. Da Internetnutzer*innen oft relative Anonymität genießen, können die von ihnen geäußerten Ansichten extremer sein als die offline geäußerten (Monnier und Seoane 2019). Darüber hinaus findet die Kommunikation oft innerhalb von Filterblasen statt, die aus Gleichgesinnten bestehen, was den Echokammereffekt hervorruft. Der Echokammereffekt bewirkt, dass die kognitiven Voreinstellungen der Internetnutzer*innen bestätigt werden und extreme Ansichten näher an der Norm erscheinen (Cinelli et al. 2021; Strippel et al. 2023). Dieses Phänomen kann noch verstärkt werden, wenn eine kontroverse Äußerung von einer bekannten Persönlichkeit stammt, z. B. aus dem Bereich der Politik oder der Unterhaltung, vor allem wenn diese Person über beträchtlichen Einfluss und eine große Anhängerschaft im Internet verfügt. Infolgedessen werden die Grenzen dessen, was in der Öffentlichkeit gesagt werden darf, immer weiter verschoben. Der Echokammereffekt schließt Hassideologien keineswegs aus, und im Fall von antisemitischer Hassrede scheint dieser auf dem Vormarsch zu sein, insbesondere in impliziter Form (Schwarz-Friesel und Reinharz 2017).
Bei unserer Analyse haben wir häufig festgestellt, dass ein sprunghafter Anstieg der Zahl antisemitischer Kommentare in der Regel durch globale oder lokale Ereignisse ausgelöst wird – oder genauer gesagt durch die Berichterstattung über diese Ereignisse in den Mainstream-Nachrichten. Die sich daraus ergebende Debatte in den Online-Kommentaren, auch wenn sie moderiert wird, überschreitet unweigerlich die Grenze der legitimen Kritik, dringt in den Bereich antisemitischer Ideologie vor und kann sich gegen jüdische oder israelische Menschen, Israel selbst sowie gegen nichtjüdische Akteur*innen – einschließlich anderer Internetnutzer*innen – richten.

Bekämpfung von Hassrede im Internet

Es gibt reichhaltige Literatur über Diskurse, die offen oder sogar antagonistisch den Äußerungen einer anderen Person oder Gruppe entgegentreten (Mouffe 2010) und versuchen, den potenziellen Schaden von Hassrede zu verhindern oder zu mindern (Cepollaro et al. 2022). Heutzutage wird Gegenrede oft von Organisationen geplant und verwirklicht, die sich der Bekämpfung von Hass verschrieben haben. Gegenrede jann jedoch auch von Einzelpersonen aus der Zivilgesellschaft kommen. Dies ist in Online-Räumen durchaus sichtbar. Online-Kommentare, die Antisemitismus entgegentreten, umfassen einfache Meinungsverschiedenheiten, die keine spezifischen antisemitischen Konzepte ansprechen, bis hin zu ausgefeilteren Kommentaren, die sowohl Kenntnisse über klassische oder moderne Elemente des antisemitischen Diskurses als auch eine Reihe von Argumentationsstrategien aufzeigen können. Dennoch ist es ohne umfangreiche Studien und große Datenmengen schwierig, die Wirksamkeit von Gegenrede zu messen und die Trends aufzudecken, die für Gegennarrative maßgeblich sein könnten (Garland et al. 2022).

Methodischer Rahmen

Die hier vorgestellten Ergebnisse basieren auf den Analysen, die im Rahmen des Projekts „Decoding Antisemitism: Eine KI-gestützte Studie zu Hassreden und -bildern im Internet“ durchgeführt wurden. Ziel dieses Projekts ist es, ein umfassendes Bild des zeitgenössischen antisemitischen Diskurses durch die Untersuchung der führenden Medien in drei Ländern zu erstellen: Großbritannien, Frankreich und Deutschland. In der qualitativen Analysephase werden die Daten mithilfe von zwei Schlüsselinstrumenten analysiert: einer Software zur Inhaltsanalyse und einem detaillierten, vom Projektteam entwickelten Klassifizierungssystem. Die Software MAXQDA ermöglicht eine übersichtliche und konsistente Kommentierung der heruntergeladenen Kommentarstränge und eine rasche Zusammenstellung der Kommentierungsergebnisse. Die Kommentare werden anhand einer Liste von über hundert konzeptionellen und sprachlichen Kategorien annotiert, die im Klassifizierungssystem enthalten sind (zusammen mit Definitionen und relevanten Beispielen), das auf der IHRA-Definition von Antisemitismus und einem pragmalingustischen Ansatz (Mayring 2015) basiert, der den Einfluss des Kontexts und des Ko-Textes auf die Äußerung berücksichtigt (vgl. Chapelan et al.).
Die quantitative Analyse basiert auf der Annotation, die in der qualitativen Analysephase erstellt wurde. Um den Umfang der Gegenrede in den Online-Diskussionen zu bewerten, betrachten wir den Anteil der Kommentare, die vom Forschungsteam als Gegenrede annotiert wurden, an der Gesamtzahl der Kommentare für jeden Thread, d. h. die Liste der Kommentare, die auf eine einzelne Nachricht reagieren. Wir haben als Gegenrede nur die Kommentare betrachtet, die sich explizit gegen antisemitische Stereotype und Tropen richten. Wir verwenden die Programmiersprache R (Paket lme4, Banta et al. 2010), um lineare Regressionsmodelle mit dem Anteil der Kommentare mit Gegenrede als abhängige Variable zu erstellen.

Obwohl beide Schritte vom Forschungsteam sorgfältig durchgeführt wurden, gibt es einen gewissen Spielraum für Fehler. Einschränkungen ergeben sich aus den verschiedenen Lesarten, die ein einzelner Kommentar haben kann. Wir haben versucht, dies durch häufige Diskussionen über das Klassifikationssystem und regelmäßige Validierung abzumildern. Wenn ein Kommentar mehr als eine Interpretation zuzulassen schien, wählten wir die nicht-antisemitische Lesart, was zu falsch-negativen Ergebnissen geführt haben könnte. Wir untersuchten nicht die Identität der oft anonymen Internetnutzer*innen, sondern konzentrierten uns auf die möglichen Auswirkungen des Kommentars selbst und auf das Gesamtbild des antisemitischen Diskurses, zu dem er beitrug.

Sammeln der Daten und Aufbau des Korpus

Die Daten wurden von Nachrichtensendern gesammelt, die im politischen Mainstream in Großbritannien und Frankreichs angesiedelt sind, wobei ihre Websites und offiziellen Medienkonten als Quelle für Kommentar-Threads dienten. Diese wurden mit einem speziell entwickelten Daten-Crawling-Tool gesammelt. Obwohl die Inhalte bereits von menschlichen Moderator*innen (wie im Fall von Twitter) oder automatisierter Moderation (z. B. auf Facebook) moderiert wurden, enthielten sie immer noch eine erhebliche Anzahl von antisemitischen Kommentaren, die oft implizit geäußert wurden.

Die Webkommentare wurden als Reaktion auf 10 nationale und internationale Diskursereignisse gepostet, über die die Medien in Großbritannien und Frankreich zwischen 2021 und 2022 berichteten. Für Großbritannien analysierten wir die Reaktionen auf die Medienberichte über die Behauptungen von Professor David Miller. Miller behauptete, die Studierenden der jüdischen Gesellschaft der Universität Bristol seien „politische Spielfiguren eines gewalttätigen, rassistischen ausländischen Regimes, das ethnische Säuberungen betreibt“ (Liphschiz 2021). Wir untersuchten auch den Fall der irischen Schriftstellerin Sally Rooney, die sich im Rahmen eines kulturellen Boykotts gegen Israel weigerte, einem israelischen Verlag die Übersetzungsrechte für ihren Bestseller „Beautiful World, Where Are You“ zu überlassen. Die dritte Diskursveranstaltung befasste sich mit der Entscheidung des US-Unternehmens Ben & Jerry‘s, seine Produkte nicht mehr in israelischen Siedlungen zu verkaufen.

Bei den drei untersuchten französischen Diskursereignissen handelte es sich erstens um die Reaktionen auf die Berichterstattung über das Verbot der Facebook- und YouTube-Konten des Komikers Dieudonné M‘bala M‘bala und des politischen Essayisten Alain Soral. Zweitens handelte es sich um auf das Auftauchen antisemitischer Parolen bei den Demonstrationen gegen den sogenannten Covid-19-Gesundheitspass und drittens um Berichte über den angeblichen Einsatz der von der israelischen Cyberwaffenfirma NSO Group entwickelten Spionagesoftware Pegasus. Die vier internationalen Diskursereignisse, die sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien untersucht wurden, betrafen die Covid-19-Impfkampagne in Israel, eine Eskalationsphase des arabisch-israelischen Konflikts, Terroranschläge in Israel und die russische Invasion in der Ukraine. Insgesamt wurden 310 Threads für das Vereinigte Königreich und Frankreich kommentiert. Für die quantitative Analyse wurden die kürzesten und längsten 5 % dieser Threads entfernt, was zu einem Datensatz von 278 Threads führte, die zwischen 71 und 264 Kommentare enthielten (mit einem Mittelwert von 147). Insgesamt umfassten die Threads 48.251 Webkommentare, von denen über 6.797 als antisemitisch eingestuft wurden (entweder explizit oder im Kontext), während 4.100 Kommentare den antisemitischen Ideen entgegentraten.

Quantitative1 Analyse: das große Bild

Da die Daten sehr vielfältig sind – sie umfassen zwei Sprachgemeinschaften und zehn Diskursereignisse –, war die quantitative Analyse ein hilfreicher Ansatz, um ein umfassenderes Bild der Muster innerhalb des Korpus zu erhalten. Mithilfe des R-Pakets lme4 (Banta et al. 2010) wurde ein lineares Regressionsmodell erstellt. In diesem Regressionsmodell ist der Anteil der Gegenrede-Kommentare in einem Thread die abhängige Variable. Unabhängige Variablen sind der Anteil der antisemitischen Kommentare, die Sprachgemeinschaft und die Diskursereignisse. Der p-Wert der einseitigen ANOVA der Modelle wird verwendet, um die Signifikanz der untersuchten Beziehung zu bewerten.


Abb. 1: Anteil der Gegenrede-Kommentare (Proportion of counter speech comments) in einem Thread in Abhängigkeit vom Anteil der antisemitischen Kommentare (Proportion of antisemitic comments)

 

Wie erwartet zeigte sich, dass der Anteil der Gegenrede in einem Thread stark mit dem Anteil der antisemitischen Kommentare korreliert (p < .001). Allerdings ist der Anteil des Antisemitismus im Allgemeinen höher als der Anteil der Gegenrede: Die Steigung des linearen Modells beträgt 0,29 – das bedeutet, dass der Anteil des Antisemitismus etwa das 3,4-fache des Anteils der Gegenrede beträgt (Abb. 1). Es scheint, dass wenn der Anteil des Antisemitismus in einem Thread unter 10% liegt, der Anteil der Gegenrede in ähnlichem Maße zunimmt wie der Anteil der antisemitischen Rede. Wenn der Anteil der antisemitischen Äußerungen jedoch 10% oder mehr beträgt, steigt der Anteil der Gegenrede nicht mehr parallel zum Anteil des Antisemitismus. Stattdessen vergrößert sich der Abstand zwischen den beiden.

Abb. 2: Anteil an Gegenrede-Kommentaren (Proportion of counter speech comments) als Funktion von antisemitischen Kommentaren und Land

 

Der Anteil der Gegenrede und die Sprachgemeinschaft, aus der die Daten stammen, stehen in einem signifikanten Zusammenhang (p < .001). Da das Ausmaß des Antisemitismus in den verschiedenen untersuchten Diskursen von Land zu Land unterschiedlich ist, haben wir das Modell für den Anteil der Gegenrede in Bezug auf Großbritannien oder Frankreich und den Anteil der antisemitischen Kommentare in den Threads untersucht. Wie in Abbildung 2 dargestellt, haben wir festgestellt, dass in den Daten aus den untersuchten Kommentarspalten aus Großbritannien signifikant mehr Gegenrede zu finden ist als in denen aus Frankreich.

 

Darüber hinaus ist auch die Interaktion zwischen dem Anteil antisemitischer Kommentare und dem Land signifikant (siehe Tab. 1): Wenn der Anteil des Antisemitismus steigt, nimmt der Anteil der Gegenrede sowohl in Großbritannien als auch in Frankreich zu. Allerdings ist der Anstieg in Frankreich deutlich größer als im Vereinigten Königreich.

Abschließend wollten wir untersuchen, ob die spezifischen Diskursereignisse zur Bestimmung des Anteils der Online-Gegenrede von Bedeutung sind. Die Varianzanalyse (ANOVA) des Modells, d.h. der Vergleich der Varianzen über die Mittelwerte der verschiedenen Diskursereignisse, zeigt, dass sich das Ausmaß der Gegenrede von einem Ereignis zum anderen unterscheidet (p < .001). Wie in Abbildung 3 dargestellt, stechen drei Ereignisse hervor, nämlich die Fälle von Dieudonné in Frankreich sowie von Sally Rooney und David Miller in Großbritannien – alle Fälle mit einer öffentlichen Person im Mittelpunkt. Wir haben auch festgestellt, dass die Fälle Miller und Rooney die einzigen Ereignisse sind, bei denen wir mehr Gegenrede-Kommentare gekennzeichnet haben als antisemitische Kommentare.

Abb. 3: Mittlerer Anteil an antisemitischen Kommentaren und Gegenrede-Kommentaren für jedes Diskursereignis

 

Während die quantitative Analyse es uns ermöglichte, sowohl den Anteil als auch die Entwicklung von antisemitischen Kommentaren und Gegenrede-Kommentaren in den verschiedenen Sub-Korpora zu bestimmen, war eine qualitative Analyse notwendig, um zu verstehen, wie diese beiden Arten von Kommentaren zueinander in Beziehung stehen. Um die Verbindung zwischen den antisemitischen Stereotypen, die in den antisemitischen Kommentaren zum Ausdruck kommen, und denjenigen, die in der Gegenrede gekontert werden, zu untersuchen, wurde das Augenmerk auf die Kommentare gelegt, die antisemitischen Äußerungen direkt entgegentreten. Unsere Analyse ergab, dass die meisten von ihnen dem in dem jeweiligen antisemitischen Kommentar geäußerten Stereotyp entgegentreten. Das zeigen im Folgenden ausgewählte Beispiele. Aufgrund des großen Umfangs des Datensatzes ist dies nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus dem umfangreichen und komplexen Diskurs der Gegenrede in Online-Kommentarspalten. Die Auswahl soll einige der gängigen antisemitischen Konzepte darstellen, denen entgegengetreten wird. Darüber hinaus sollen die wichtigsten argumentativen und rhetorischen Strategien, auf die Nutzer*innen zurückgreifen, um antisemitische Aussagen zu delegitimieren und zu kontern, gezeigt werden.

A: „So indicating a list of actors in the health crisis whose actions or positions are disapproved is punishable because some of them (7/12 I think) are Jewish? FN style ladies aren’t my cup of tea, but isn’t there a problem here?“

B: „Please show us the role of Soros and Rotschild in the health crisis. To see“ (TWITT_20210810)

Im ersten Kommentar aus dem Korpus zum Diskursereignis „Gesundheitspass“ stellt Person A den Antisemitismusvorwurf infrage, der Cassandre Fristot gemacht wird, weil sie auf einem Schild, das sie bei Straßenprotesten zeigte, die Akteur*innen im Zusammenhang mit der Gesundheitskrise aufführte. Indem sie sich auf die Partei Front National bezieht, scheint Person A dieses Argument zu benutzen, um zu beweisen, dass ihre LEUGNUNG DES ANTISEMITISMUS2 nicht von ihren politischen Ansichten beeinflusst ist. Indem Person B Person A bittet, zu erklären, welche Rolle George Soros und die Familie Rothschild, die beide weithin als jüdisch identifiziert werden, in der Gesundheitskrise spielten, entkräftet Person B indirekt das Argument von Person A, wonach Fristot diese Namen unabhängig von ihrem jüdischen Hintergrund aufführte. Dieses Muster wurde auch in den britischen Korpora beobachtet, wie Beispiel 2 zeigt, das aus dem Korpus der Kommentare zum Sally Rooney-Diskursereignis stammt.

A: „Named terrorists by whom? Israel took over the land by force of arms.“

B: Proscribed terrorists by most Western countries ... And they have not started one war in the last 73 years…So the moral of the story is don’t declare war if you don’t want to lose land…[…] And you have the cheek to accuse Israel of “taking over the land by force of arms [...]“. (FB-TELEG_20211104)

Hier beschuldigt Person A Israel, ein evil state zu sein und sich gewaltsam auszudehnen. Dieses Stereotype kontert dann Person B und erklärt, dass der Krieg von Palästina erklärt wurde und dass Israel das Land nicht mit Gewalt, sondern als Ergebnis des Konflikts eingenommen hat. Mit anderen Worten: Die Anschuldigung gegen Israel wird auf Palästina übertragen. Außerdem greift Person B auf die Logik zurück („Man erklärt keinen Krieg, wenn man kein Land verlieren will“), um seiner Aussage Gewicht zu verleihen und Palästina zu diskreditieren.

In einigen Fällen widersprachen die Kommentare jedoch nicht demselben Stereotyp, das in den antisemitischen Kommentaren hervorgerufen wurde:

A: „The problem in your story is that the aggressor and the occupying power is Israel“

B: „The problem in your story is that Israel is a sovereign and legitimate nation, over the whole Jerusalem and, in the long run, from the see to the Jordan.“ (FB-MONDE_20210512)

In diesem Beispiel, das als Reaktion auf die Medienberichterstattung über die Eskalationsphase des arabisch-israelischen Konflikts 2021 gepostet wurde, hält Person A Israel für „den Aggressor und die Besatzungsmacht“, für ein böses Gebilde, das gegen die palästinensische Bevölkerung vorgeht. Anstatt jedoch auf dieses antisemitische Stereotyp zu reagieren, kontert Person B dieLEUGNUNG DES EXISTENZRECHTS ISRAELS, indem er es als „souveräne und legitime Nation“ bezeichnet. Auch wenn diese beiden antisemitischen Tropen unterschiedlich sind, könnte Person B den Begriff „Besatzungsmacht“ als eine indirekte Andeutung verstanden haben, dass Israel illegal Gebiete außerhalb der israelischen Grenzen besetzt hält. Um das Argument umzudrehen, beginnt Person B seinen Kommentar mit demselben Ausdruck, nämlich: „Das Problem in deiner Geschichte ist, dass ...“.

Die Analyse dieses und anderer Beispiele zeigt, dass solche Kommentare die Adressat*innen zu einer Reaktion veranlassen und in einigen Fällen ihre antisemitischen Positionen bekräftigen können. Anders ausgedrückt: Auch wenn Online-Gegenerzählungen notwendig sind, kann diese Form der spontanen Gegenerzählung paradoxerweise das Aufkommen antisemitischer Kommentare fördern. Darüber hinaus wirken einige Kommentare antisemitischen Stereotypen entgegen und werten Israel auf, indem sie eine andere Out-Group herabsetzen, als ob es ihr Ziel wäre, einen anderen Sündenbock zu finden.

Abschließende Kommentare

Es überrascht nicht, dass wir in unserer Analyse der Online-Kommentare, die auf ausgewählte Medienberichte reagierten, feststellen konnten, dass die Kommentare, die sich gegen antisemitische Äußerungen richten, tendenziell zahlreicher sind, wenn der Antisemitismus sichtbarer ist. Es bleibt die Frage, ob die Gegenrede als Reaktion auf antisemitische Kommentare zunimmt, ob sie vielleicht den Antisemitismus anheizt oder ob beide nicht direkt miteinander korrelieren, sondern von der Art des Medienberichts abhängen, auf den sie reagieren. Wie bereits erwähnt, ergab die quantitative Untersuchung der Daten, dass bei Ereignissen, an denen eine umstrittene Persönlichkeit (bei der Analyse handelte es sich um Dieudonné in Frankreich sowie Sally Rooney und David Miller in Großbritannien) beteiligt ist, verhältnismäßig mehr Gegendarstellungen zu verzeichnen sind.

Es könnte an der Personalisierung des antisemitischen Gedankenguts in diesen Figuren liegen, die es vielleicht leichter macht, sich dagegen zu wehren. Sie könnten mit dem Ereignis des Covid-19-Gesundheitspasses verglichen werden, bei dem die meisten Artikel über die Figur Cassandre Fristot berichteten, die bei einem Straßenprotest ein antisemitisches Schild hochhielt. Allerdings war Fristot vor diesem Ereignis anonym, während Dieudonné, Rooney und Miller bereits bekannt waren und von einigen für ihre Arbeit in ihren jeweiligen Berufsfeldern bewundert wurden. Wahrscheinlich ist diese Zweiteilung auch eine Folge der Art und Weise, wie über die Ereignisse berichtet wird. Wie aus den analysierten Daten hervorgeht, ist es wahrscheinlicher, dass die Medienberichterstattung über ein Ereignis, bei dem eine Person im Mittelpunkt steht, bereits Berichte über gegen sie erhobene Antisemitismusvorwürfe enthält. Daher ist es wahrscheinlicher, dass Online-Kommentare, die auf eine solche Berichterstattung reagieren, Gegenrede als Reaktion auf den Inhalt des Nachrichtenartikels enthalten und nicht nur als Reaktion auf antisemitische Kommentare von anderen Nutzer*innen innerhalb des Threads. Es ist auch möglich, dass eine bekannte Persönlichkeit mehr Aufmerksamkeit bei den Internetnutzer*innen erregt, was wiederum zu einer dynamischeren Debatte in den Kommentarspalten führt.

Das Profil der Gegenrede scheint von Land zu Land unterschiedlich zu sein: Im Durchschnitt gibt es in den Daten aus Großbritannien mehr Gegenrede als im französischen Korpus; allerdings steigt der Anteil der Gegenrede in Großbritannien nicht so stark mit antisemitischen Kommentaren an wie in Frankreich. Das könnte darauf hindeuten, dass Internetnutzer*innen in den beiden Ländern unterschiedliche Strategien anwenden, wenn sie Antisemitismus und Gegenrede produzieren.

Da der Annotationsprozess fortgesetzt wird und der Datensatz wächst, können weitere quantitative und qualitative Analysen Erkenntnisse über diese Phänomene liefern. Darüber hinaus eröffnen die Erkenntnisse über die Effizienz der Gegenrede und das Vorhandensein anderer Formen von Hass in den Kommentaren, die Antisemitismus entgegentreten, den Weg zu komplexeren Fragen: Ist die spontane Gegenrede der Nutzer*innen effizient genug? Werden die positiven Auswirkungen der Gegenrede durch die negativen (z. B. das Schüren von Hassrede) gefährdet? Kann Gegenrede als solche betrachtet werden, wenn sie auch Hassrede enthält bzw. vermittelt? All diese Fragen erfordern weitere Studien, die dazu beitragen könnten, Hassideologien effizienter zu bekämpfen und Internetnutzer*innen, Medien, Social-Media-Plattformen und politischen Entscheidungsträger*innen praktische Lösungen anzubieten.

 

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1    Bitte beachten Sie, dass dieser Abschnitt Zitate aus antisemitischen Hassreden enthält. Auch wenn die ausgewählten Zitate keine beleidigende Sprache enthalten, können die Logik und der Inhalt, die hier dargestellt werden, für die direkt betroffenen Personen und Gemeinschaften schädlich sein, insbesondere in der heutigen Zeit.

2    Da es sich bei Stereotypen um Phänomene handelt, die auf der begrifflichen, d. h. mentalen Ebene existieren und mithilfe von Sprache wiedergegeben werden können, werden Stereotypen gemäß den Konventionen der kognitiven Linguistik in Kapitälchen angegeben.

 


Laura Ascone, Dr., befasst sich in ihrer Forschung mit computervermittelter Kommunikation, dem Ausdruck von Emotionen sowie mit Hassreden. Sie verteidigte ihren Doktortitel in Linguistik an der Université Paris-Seine. Ihre Dissertation zum Thema „Die Radikalisierung durch den Ausdruck von Emotionen im Internet“ befasste sich mit den rhetorischen Strategien, die sowohl in der dschihadistischen Propaganda als auch in der institutionellen Gegenrede verwendet werden. Derzeit ist sie Postdoktorandin am Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der Technischen Universität Berlin im internationalen Projekt „Decoding Antisemitism: Eine KI-gestützte Studie zu Hassreden und -bildern im Internet“.

Karolina Placzynta ist Linguistin und Politikwissenschaftlerin mit einem Interesse an Pragmatik, Soziolinguistik und kritischer Diskursanalyse. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Normalisierung von Vorurteilen, das Mainstreaming und die Marginalisierung von Diskursen in den Medien und die Überschneidungen von diskriminierenden Diskursen. Bevor sie sich dem Projekt „Decoding Antisemitism“ am Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der Technischen Universität Berlin anschloss, untersuchte sie die Muster diskursiver Darstellungen von Immigration in der britischen Presse.

Chloé Vincent ist spezialisiert auf Soziolinguistik, wobei sie sowohl quantitative als auch qualitative Methoden anwendet. Sie interessiert sich für Diskriminierung und wie diese in und durch Sprache aufrechterhalten wird, insbesondere für verdeckte Manifestationen von Diskriminierung in der Sprache. In ihrer Magisterarbeit untersuchte sie die Einstellung französischer Muttersprachler zu regionalen französischen Akzenten. Sie hat außerdem einen Master of Engineering von der Grenoble INP Graduate School of Engineering.


 

Literatur

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Chapelan, Alexis/Ascone, Laura/Becker, Matthias J./Bolton, Matthew/Haupeltshofer, Pia/Krasni, Jan/Krugel, Alexa/Mihaljević, Helena/Placzynta, Karolina/Pustet, Milena/Scheiber, Marcus/Steffen, Elisabeth/Troschke, Hagen/Tschiskale,#Victor/Vincent, Chloé (2023). Decoding Antisemitism: An AI-driven Study on Hate Speech and Imagery Online. Discourse Report 5. Berlin: Technische Universität Berlin. Centre for Research on Antisemitism. Online verfügbar unter decoding-antisemitism.eu/publications/fifth-discourse-report/ (abgerufen am 05.12.2023).

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