In den Tagen und Wochen nach dem Anschlag von Halle und Wiedersdorf an Yom Kippur 5780, dem 9. Oktober 2019, bei dem Jana L. und Kevin S. ermordet wurden, wurden insbesondere jüdischen Überlebenden von Journalist*innen, Arbeitskolleg*innen, Nachbar*innen, Freund*innen und Familienmitgliedern immer wieder zwei Fragen gestellt: „Wie sicher fühlen Sie sich in Deutschland?“ und: „Wirst du Deutschland verlassen?“ So beschreibt es die Community-Organizerin und Überlebende Mollie Sharfman in ihrem Beitrag bei der 5. Ceremony of Resilience des Festivals of Resilience2 am 14. Oktober 2024 in Berlin. Nicht selten ist Frustration und Wut über diese Fragen vorhanden. Die Fragen sind Teil der Themen, zu denen Jüdinnen*Juden in Deutschland fast ausschließlich befragt werden: zu Antisemitismus, zur Shoa oder zu Israel. Sie sind ein Hinweis darauf, dass die betreffende Person, die diese Fragen erhält, anders ist, nicht zugehörig zu dieser Gesellschaft und sich nur mit diesen Themen beschäftigt. Es ist eine Form des Otherings und der Fetischisierung. Gleichzeitig werden diese Fragen in jüdischen Familienkontexten viel diskutiert. Die Umgangsstrategien und Antworten darauf sind so vielfältig und divers wie jüdisches Leben selbst.
Es sind aber auch Fragen, die viele jüdische, migrantische, Sinti*zze und Rom*nja-Communitys, BIPOCs und Queers angesichts der jahrzehntelangen rassistischen, antisemitischen, homo- und trans*feindlichen und aktuell steigenden Gewalttaten, Brandanschlägen und Pogromen in Deutschland beinahe täglich beschäftigen. Die konstant hohen Angriffszahlen, weitere Anschläge, Corona und die damit einhergehende Coronaleugnungsbewegung, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, die Inflation, die Wahlerfolge der AfD, der Wahlsieg Donald Trumps und das Erstarken extrem rechter Bewegungen weltweit – all diese Entwicklungen und Ereignisse beeinflussen den Lebensalltag und damit die Sicherheit vieler Überlebender des Anschlags und der Angehörigen der Ermordeten. Eine weitere Dimension und Verschärfung erreichten diese Fragen nach dem 7. Oktober 2023 und dem bis heute andauernden Krieg in Israel, Gaza, Libanon und Syrien sowie durch das Schicksal der 101 verbleibenden Geiseln in der Gefangenschaft der Hamas (Chernivsky und Lorenz-Sinai 2024).
Fehlender Polizeischutz und eine Tür – Sicherheits-Narrative rund um den Anschlag
Die beiden zu Beginn beschriebenen Fragen sind eng verknüpft mit zwei Narrativen, die in den öffentlichen Debatten rund um den Terroranschlag dominierten und vielen bis heute im Gedächtnis geblieben sind: dem fehlenden Polizeischutz vor der Synagoge und der Tür der Synagoge, die der Attentäter nicht überwinden konnte. In der Auseinandersetzung um den fehlenden Polizeischutz vor der Hallenser Synagoge ging auch Kritik an der Gefährdungseinschätzung, dem unsensiblen Umgang der Polizei mit den Überlebenden und der fehlenden Expertise in der Ermittlung und Aufarbeitung des Anschlags einher. Insbesondere das Verhalten der Polizei nach dem Anschlag verstärkte die Angstgefühle und Unsicherheiten der Überlebenden in der Synagoge und führten in Teilen dazu, dass Menschen ein zweites Mal zum Opfer wurden und eine sekundäre Viktimisierung erfuhren.3 Besonders deutlich wurde das im Gerichtsverfahren gegen den Attentäter, das vom 21. Juli bis zum 21. Dezember 2020 vor dem Oberlandesgericht Naumburg in Magdeburg stattfand. Engagierte Nebenkläger*innen, ihre Anwält*innen und die von ihnen eingeladenen Sachverständigen machten eindrucksvoll und akribisch auf Fehler und Versäumnisse der Ermittlungsbehörden und Kontinuitäten antisemitischer, rassistischer und misogyner Narrative und Ideologien aufmerksam (Pook et al. 2021; Prozess Report Halle o. J.; Belltower.News/Rachel Spicker).
Häufig werden Synagogen oder jüdische Einrichtungen für Außenstehende erst dadurch erkennbar, dass vor ihnen ein Polizeiauto oder Polizei-Container steht. Diese Vorstellung ist mit weiteren Bildern und Erzählungen verknüpft: Beispielsweise wird davon ausgegangen, dass jede jüdische Einrichtung und Synagoge über einen Objektschutz durch die Polizei verfügt.4 Das Bild von Jüdinnen*Juden als passive Opfer, als schwache, schützenswerte Gemeinschaft wird dadurch bestätigt. Gängige Annahmen sind dabei, dass Jüdinnen*Juden privilegiert seien, da sie diese Form des Schutzes überhaupt erhalten – und andere Minderheiten nicht oder nur teilweise – und dass der Staat alle Kosten für sicherheitsrelevante Ausgaben tragen würde. Verstärkt werden solche vorurteilsbehafteten Annahmen durch das Verhalten und Aussagen von Politiker*innen, wie die des ehemaligen Innenministers Sachsen-Anhalts Holger Stahlknecht (CDU), der im Oktober 2020 bei einem Besuch des Polizeireviers Dessau sagte, die Polizei könne bei Notrufen nicht mehr rechtzeitig zu allen Einsatzorten kommen, da so viele zusätzliche Stunden für den Schutz von Synagogen anfielen (Lehmann 2020).
Bei diesen Annahmen wird die Eigeninitiative der jüdischen Gemeinden und Einrichtungen ausgeblendet. Bislang organisierten, finanzierten und setzten sie selbst Sicherheitsmaßnahmen um und tun das teilweise noch heute, obwohl der Schutz jüdischer Einrichtungen nach dem 9. Oktober 2019 und dem 7. Oktober 2023 verstärkt wurde. Die Tür der Hallenser Synagoge war durch ausländische Spenden finanziert, der Sicherheitsdienst, der den Attentäter zuerst durch die Kamera entdeckte, war eigens engagiert und arbeitete ehrenamtlich, der Gemeindevorsitzende informierte die zuständigen Behörden vorab und proaktiv über die jüdischen Feiertage. Außer Acht gelassen wird bei diesen Diskussionen zusätzlich, dass die Anwesenheit der Polizei nicht notwendigerweise zu einem gesteigerten Sicherheitsgefühl beiträgt, da z. B. Jüdinnen*Juden of Color und Israelis immer wieder rassistischen Polizeikontrollen und -übergriffen in Deutschland ausgesetzt sind. Zusätzlich beeinflusst wird dieses mangelnde Sicherheitsgefühl von Nachrichten über Verbindungen von Polizist*innen in rechtsextreme Netzwerke oder über zahlreiche rechtsextreme, rassistische und antisemitische Nachrichten in Polizei-Chats. So war etwa ein Kriminalhauptkommissar aus dem Landkreis Hildesheim, der als Sicherheitsbeauftragter für jüdische Einrichtungen tätig war, Teil der Reichsbürger-Bewegung (Gerczikow 2023). Realität ist auch, dass die Anwesenheit der Polizei nicht notwendigerweise dazu beiträgt, dass Angriffe verhindert werden. Während der Sukkot-Feiertage am 4. Oktober 2020 verletzte ein Angreifer einen jüdischen Studenten vor einer Hamburger Synagoge lebensgefährlich, obwohl die Polizei vor Ort war und der Angreifer durch Kleidung im militaristischen Stil und einen Klappspaten als Waffe zuvor auffiel. Ein antisemitisches Motiv wollte die Richterin im Urteil nicht erkennen.
Das zweite bekannte Narrativ rund um den Anschlag von Halle und Wiedersdorf bezieht sich auf die Tür, die der Attentäter nicht überwinden konnte. Jegliche Berichterstattung ziert bis heute immer wieder das Foto der Tür mit den Einschusslöchern. Dass diese Bildsprache gewaltvoll und potenziell retraumatisierend und viktimisierend ist, ist den wenigsten bewusst. Die Erzählung dazu ist simpel: „lediglich eine Tür konnte die Jüdinnen*Juden in der Synagoge vor dem Tod bewahren“. Eine Tür, die die wehrlosen und passiven Opfer schützt. Den Höhepunkt erreichte dieses Narrativ mit einer Reportage im Zeit Magazin vom 20. Mai 2020. Im Artikel „Eine gute Tür“ (Machowecz 2020) wird der deutsche Tischler interviewt, der die Tür aus deutscher Eiche gebaut hat und so als verantwortungsvoller Deutscher zur Rettung jüdischen Lebens beigetragen habe. Diese Erzählung reiht sich nahtlos in die Kontinuität des weit verbreiteten, aber statistisch und realistisch gesehen schier unmöglichen Glaubens ein, dass die eigene Familie während der NS-Zeit den Verfolgten geholfen habe. Überlebende berichteten mehrfach, dass diese Erzählung sie zu „passiven Opfern“ mache und außer Acht ließe, dass die Jüdische Gemeinde zu Halle sich um etwaige Sicherheitsvorkehrungen, wie diese Tür, selbstständig kümmerte. Zugleich werde dadurch die Handlungsfähigkeit der Überlebenden während des Angriffs negiert: Sie stellten ehrenamtlich den Sicherheitsdienst, der die Gefahr sofort erkannte, sie verständigten die Polizei, sie verbarrikadierten sich im Inneren der Synagoge und evakuierten einen Teil der Anwesenden in die oberen Räumlichkeiten, sie überprüften Fluchtmöglichkeiten und bereiteten sich auf einen möglichen Kampf mit dem Attentäter oder den Attentätern vor. Sie bemühten sich immer wieder um eine reibungslose Kommunikation mit den Einsatzkräften, um nur einige Beispiele aktiver Handlungen zu nennen. Negiert wird dadurch ebenfalls die Einschätzung von Überlebenden, die dem Schutz durch die Tür eine religiöse Interpretation geben.
Darüber hinaus ist das Gefühl von tatsächlicher und erlebter Sicherheit davon abhängig, inwiefern Überlebende in ihren Wahrnehmungen und ihren Aussagen ernst genommen werden und Anerkennung finden. In der Urteilsverkündung legte die Richterin Ursula Mertens den Nebenkläger*innen einen Perspektivwechsel ans Herz: Die Polizei habe am Einsatztag heldenhaft gehandelt und keine Fehler begangen; auf die Fehler und Versäumnisse im Vorfeld, während und nach der Tat wurde nicht eingegangen (Spicker 2023a). Ein weiteres Beispiel für eine sekundäre Viktimisierung, die die Sicherheit und das Sicherheitsgefühl von Überlebenden beeinflusst.
Sicherheitsrelevant in Bezug auf den Halle-Anschlag sind zwei weitere Ereignisse: Im Mai 2020 gelang es dem Attentäter, aufgrund von der Anstaltsleitung eigenmächtig gelockerten Haftbedingungen eine 3,40 Meter hohe Mauer in der JVA Halle zu überwinden und in ein anderes Gebäude zu gelangen (Spiegel Online 2020). Am 12. Dezember 2022 nahm er im Hochsicherheitsgefängnis der JVA Burg mittels einer im Gefängnis selbst gebauten Waffe zwei JVA-Mitarbeiter als Geiseln und konnte 40 Minuten unbehelligt mehrere Sicherheitsschleusen passieren, bevor er vom Personal überwältigt wurde. Zuvor war er bereits durch andere Vergehen aufgefallen. Im Februar 2024 wurde er zu weiteren sieben Jahren Haft und Schmerzensgeld verurteilt. Er kündigte an, antisemitische und rassistische Taten begehen zu wollen. Die Tatmotive fanden im Urteil keine Berücksichtigung. Wichtige sicherheits- und strafrelevante Details wie die Tatsache, woher der Attentäter das Schießpulver für die selbst gebaute Waffe hatte und wer ihn möglicherweise unterstützt hat, bleiben unaufgeklärt (MDR Sachsen-Anhalt (2024). Ebenfalls bis heute unaufgeklärt ist, mit wem sich der Attentäter vor dem Anschlag ausgetauscht hat und mit wem er vernetzt war. Bekannt ist, dass er von Sympathisant*innen Briefe erhielt oder selbst Anleitungen zum Bau von Waffen verschickte (Steinke 2021).
Die Frage „Wie sicher fühlen Sie sich in Deutschland?“ wird durch die Anwesenheit von Polizeikräften nicht notwendigerweise beantwortet, der Polizeischutz ist aber angesichts der gesellschaftspolitischen Lage alternativlos – und das ist die Realität nur wenige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frage kann auch nicht abschließend durch erhöhte Sicherheitsmaßnahmen und Bauvorrichtungen an jüdischen Orten beantwortet werden. So findet der Alltag von Jüdinnen*Juden größtenteils außerhalb dieser Einrichtungen statt, sofern sie überhaupt diese Einrichtungen besuchen (können). Welchen Schutz haben Jüdinnen*Juden im Alltag, in ihrem zu Hause, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in der Universität, am Arbeitsplatz, im Park oder im Club? Und diese Fragen stellen sich nicht nur jüdische und nicht-jüdische Überlebende des Anschlags von Halle und Wiedersdorf, sondern viele, die in dieser Gesellschaft zu anderen gemacht werden. Seit dem 7. Oktober 2023, nach dem insbesondere antisemitische Gewalt, aber auch rassistische Gewalt auf einem neuen Höchststand ist, gehören Sicherheitsvorkehrungen zum Alltag vieler Menschen. İsmet Tekin, Überlebender des Anschlags, denkt darüber nach, das Land zu verlassen: „Ein kleiner Zweifel hält mich noch hier“ (Tiedemann 2024). Auch im bundesweiten Solidaritätsnetzwerk von Angehörigen, Betroffenen und Überlebenden rechter, rassistischer, antisemitischer Morde und Gewalt finden Gespräche darüber statt, z. B. welche Stadtteile und Community-Orte aus Angst gemieden werden, dass Menschen im Dunkeln nicht mehr auf die Straße gehen, dass Feuerlöscher angeschafft oder religiöse Symbole versteckt werden. Eigene Sicherheitsdienste bei Veranstaltungen und sonstige Vorkehrungen sind längst Teil des Alltags. Es wird darüber gesprochen, wie muslimische und als muslimisch und migrantisch gelesene Menschen dem rassistischen Generalverdacht ausgesetzt sind, islamistischen Terror gut zu heißen. Es wird darüber gesprochen, dass jüdische Menschen dem antisemitischen Generalverdacht ausgesetzt sind, die Politik des israelischen Premierministers Netanyahu gut zu heißen und zu unterstützen.
Sicherheitsstufe 1 – Gedenken zum 5. Jahrestag des Anschlags
Überlebende beschreiben, dass der Anschlag von Halle und Wiedersdorf ihr Leben in ein „Davor“ und „Danach“ einteilt. Seit dem 7. Oktober 2023 gibt es für viele ein weiteres „Davor“ und „Danach“ (Spicker 2023b). „Der 9. Oktober ist nicht mehr ohne den 7. Oktober, der 7. Oktober nicht ohne den 9. Oktober in Deutschland zu verstehen“, so die Verhaltenstherapeutin und Überlebende Naomi Henkel-Guembel auf einer Veranstaltung anlässlich des fünften Jahrestags am 9. Oktober 2024.5 Überlebende des Anschlags sind selbst Israelis, haben Familie und/oder Freund*innen vor Ort, haben Familienmitglieder am 7. Oktober 2023 verloren oder wohnen in Israel. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel wurde – wie der Anschlag in Halle – während eines jüdischen Feiertages verübt, dem Feiertag Simchat Torah und am 50. Jahrestag des Yom Kippur-Krieges, und macht damit die Kontinuität des weltweiten antisemitischen Terrors deutlich. Jüdische Menschen, Institutionen und Organisationen an jüdischen Feiertagen anzugreifen, hat eine jahrhundertelange Tradition – und das sowohl in der Diaspora als auch in Israel selbst. Auch deshalb begehen Überlebende und Unterstützer*innen zwei Gedenktage an den Anschlag von Halle und Wiedersdorf: einen an Yom Kippur, ein Feiertag, der nach dem jüdischen Kalender jedes Jahr auf ein anderes bürgerliches Datum fällt, und das Gedenken am 9. Oktober selbst nach dem bürgerlichen Kalender. Das fünfjährige Gedenken an den Anschlag wurde vom ersten Jahrestag des 7. Oktobers und dem anhaltenden Krieg in Israel, Gaza, Libanon und Syrien und den vielen tausenden Toten überschattet. Anastassia Pletoukhina, promovierte Sozialwissenschaftlerin und Sozialpädagogin sowie Überlebende des Anschlags, drückt es anlässlich des fünften Jahrestags so aus:
„Nach dem Massaker in Israel sind alte Wunden und Traumata aufgerissen und es ist wieder nicht sicher, sich in jüdischen Räumen aufzuhalten. Und da ist noch dieses unendliche Gefühl der Einsamkeit. Ich muss mich zwingen zu hoffen, um nicht in Handlungsunfähigkeit zu erstarren. Hoffen, dass wir weiterhin füreinander und miteinander sein können. Die Chance ist im Gespräch und nicht in den Parolen.“6
Gleichzeitig fand das Gedenken in Halle in einem gesellschaftlichen Klima statt, dass vor fünf Jahren undenkbar schien. Die Wochen und Tage vor dem 9. Oktober waren geprägt von verschiedenen Meldungen: Der Gemeindevorsitzende Max Privorozki erhielt Morddrohungen, bei den Google-Bewertungen der Hallenser Synagoge wurden vermehrt antisemitische Hasskommentare hinterlassen und der Attentäter glorifiziert, Stolpersteine wurden aus der Landsberger Straße gestohlen, was der für die Verlegung zuständige Verein zunächst der Öffentlichkeit verschwiegen hatte, und es wurden mehrere Hakenkreuze in unmittelbarer Nähe zum TEKİEZ angebracht.
Anlässlich der Gedenkfeiern zum 9. Oktober kündigte sich der Bundespräsident in Halle an. Für manche Angehörige und Überlebende ein wichtiges Zeichen der Anerkennung und Solidarität. Er besuchte die Synagoge, das TEKİEZ und die offizielle Gedenkfeier der Stadt in der Ulrichskirche. Die entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen, umschrieben mit dem Begriff „Sicherheitsstufe 1“, erforderten wochenlange intensive Absprachen und Vorarbeit. Es führte u. a. dazu, dass die Synagoge während des ganzen Tages weitläufig abgesperrt wurde, es gab eine massive Polizeipräsenz. Nur angemeldete und überprüfte Personen durften die Synagoge und für einen bestimmten Zeitraum das TEKİEZ und die Ulrichskirche betreten. An der Synagoge halfen Gemeindemitglieder, Personen zu verifizieren, um den Einlassprozess zu beschleunigen. Zwischendurch liefen Personen des SEK in militaristischer Kleidung in die Synagoge, über dem Paulusviertel, in dem sich die Synagoge und das TEKİEZ befinden, schwebte ein Hubschrauber. Eine Polizeisprecherin scherzte bei der Einlasskontrolle mit einem ihr bekannten Journalisten, ob sie denn seinen Sprengstoffgürtel überprüfen dürfe. Die umstehenden Polizist*innen lachten. Es sind Szenen, die in mehrfacher Hinsicht retraumatisierend sein können. Es sind Szenen, die die Sicherheit und das Sicherheitsgefühl nachhaltig beeinflussen. Und es sind Szenen, die deutlich machen, warum selbstbestimmtes Erinnern und Gedenken unabdingbar sind.
Trotz Zweifel die eigene Handlungsfähigkeit stärken
„Sind wir hier sicher? Und wenn die Antwort darauf ‚Nein‘ lautet, wo sollen wir hin? Das sind die Fragen, die ich mir vor 5 Jahren am 09. Oktober stellte und es sind Fragen, über die ich auch heute noch brüte. Ich habe zwar keine Antworten, aber ich habe Hoffnung. […] Und die Hoffnung auf eine bessere Welt ist wahrscheinlich unser größter Akt des Widerstands.“ (Borovitz 2024)
Das schreibt Jeremy Borovitz, Rabbiner und Chief Program Officer von Hillel Deutschland e. V. und Überlebender, anlässlich des fünften Jahrestags. Hoffnung finden, sich der eigenen Handlungsfähigkeit bewusstwerden und Eigeninitiative stärken, selbstbestimmt und solidarisch gedenken und erinnern, aus der Gemeinschaft Kraft schöpfen, jüdisches und migrantisches Leben feiern, einander zuhören und voneinander lernen, für Bündnisse einstehen. Gegenerzählungen sichtbar und hörbar machen, die in öffentlichen Debatten häufig vergessen oder ignoriert werden – das ist ein wichtiger Akt der Selbstbestimmung und Eigeninitiative. Ein weiterer Aspekt darin ist die gesellschaftliche und spirituelle Verantwortung und Arbeit, wie Rebecca Blady, Rabbinerin und Geschäftsführerin von Hillel Deutschland e. V. und Überlebende, in ihrem Redebeitrag zum Ausdruck brachte:
„Es gibt ein Wort im Hebräischen, ‚avodah‘, wörtlich übersetzt heißt es ‚Arbeit‘. Die jüdische Tradition versteht das als heilige Arbeit. Eine Form der Arbeit, die nicht nur physische und mentale, sondern spirituelle Arbeit voraussetzt. Die Überwindung des Impulses zu hassen ist die avodah unserer Gesellschaft, denn dieser endlose Kreislauf des Hassens, des Gefühls, gehasst zu werden, und des Zurückhassens, ist eine spirituelle Krise.“7
Mit all diesen Aspekten können wir keine Unversehrtheit garantierten, aber es kann dabei helfen, mit Unsicherheiten, dem Erstarren und der Isolation umzugehen, ein stückweit Sicherheit und Stabilität zurückzugewinnen und an einer besseren, gerechteren Zukunft festzuhalten. Beispiele hierfür sind fünf Jahre nach dem Anschlag erfahrbar und erlebbar. Entgegen vieler Widerstände existiert das TEKİEZ, der Raum der Erinnerung und Solidarität, den jüdische und nicht-jüdische Überlebende und ihre Unterstützenden in der Soligruppe 9. Oktober gemeinsam mit anderen Menschen tragen. Dort fand am 9. Oktober erneut selbstbestimmtes Gedenken und Erinnern unter dem Motto „Trauer, Angst, Wut – Hoffnung?“ statt, auf dem Überlebende, Unterstützer*innen, Angehörige und Überlebende aus dem bundesweiten Netzwerk zu Wort kamen. Wie die Jahre zuvor gestaltete die Künstlerin und Überlebende Talya Feldman die Fenster des TEKİEZ.8 In der Jüdischen Gemeinde zu Halle wurden in einer feierlichen Zeremonie die letzten Buchstaben der neuen Torahrolle für die Gemeinde zu Ende geschrieben. Eine neue Torahrolle für eine Gemeinde ist eine große Ehre und ein besonderes Ereignis. Der Prozess des Schreibens hatte am vierten Jahrestag begonnen. Die letzten Buchstaben durften Angehörige, Überlebende und Unterstützer*innen schreiben. Ein Gemeindemitglied widmete einen Buchstaben seiner am 7. Oktober 2023 in Israel ermordeten Tante. Gleichzeitig fand eine Kundgebung am 9. Oktober 2024 in Berlin vom Bündnis „Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfen“ mitten in Kreuzberg statt, an dem Ort, wo viele antisemitische Vorfälle und Raumnahmen derzeit stattfinden und an dem die Wichtigkeit von aktivem jüdischen Leben, Solidarität und Bündnissen deutlich gemacht wurde. Vom 13. bis 27. Oktober 2024 wurde das fünfte Festival of Resilience mit Veranstaltungen in Berlin und Halle während und nach der Sukkot-Feiertage Wirklichkeit. Ein besonderes Highlight war das Konzert und die Aufführung „Nach Hall(e)“ mit einem eigens komponierten Stück „Resilience. Helical Changes“ von Camilo Bornstein für den Künstler und Überlebenden Valentin Lutset, der das Stück mit Shofar und einem Ensemble zusammen in Halle und bei der Ceremony of Resilence spielte.
„Ist eine Gesellschaft der Vielen und eine sichere Welt für alle möglich?“, fragten wir uns bei der Planung des diesjährigen Festivals of Resilience, das von jüdischen Überlebenden gegründet und gemeinsam mit nicht-jüdischen Überlebenden und Unterstützer*innen organisiert und umgesetzt wird. „Trotz Zweifel“ hieß das Motto des diesjährigen Festivals, denn
„trotz aller Zweifel sind wir überzeugt, dass Solidarität unabdingbar ist und Bündnisse gegen menschenverachtende Ideologien wichtiger sind als je zuvor. Um diese Bündnisse resilient zu machen, müssen wir offen über Zweifel, Sorgen und Differenzen reden- und dann allem zum Trotz weitermachen.“9
Rachel Spicker, Sozialwissenschaftlerin M. A., systemische Beraterin und Prozessbegleiterin sowie Unterstützerin der Überlebenden des antisemitischen, rassistischen und misogynen Anschlags von Halle und Wiedersdorf an Yom Kippur 5780, 9. Oktober 2019. Sie ist Mitglied der Soligruppe 9. Oktober, Mitorganisatorin des Festival of Resilience und setzt mit Überlebenden und Aktivist*innen bildungspolitische und künstlerische Projekte zum Thema Gedenken und Erinnern um. Sie arbeitet u. a. für die Mobile Opferberatung Sachsen-Anhalt.
1 Borovitz, Jeremy (2024). Von dem Mann, der uns nach dem Anschlag Bier brachte. Online verfügbar unter www.juedische-allgemeine.de/politik/von-dem-mann-der-uns-nach-dem-anschlag-bier-brachte/ (abgerufen am 06.11.2024).
2 Das Festival ist ein künstlerischer und expressiver Raum, der von jüdischen Überlebenden in enger Zusammenarbeit mit Base Berlin, heute Hillel Deutschland e. V., initiiert wurde. Dabei geht es um selbstbestimmtes Erinnern und communityübergreifende Solidarität, aber auch darum, das (Über-)Leben und jüdisches Leben zu feiern. Ausführlich hierzu Blady, Rebecca (2023). The Jewish Pursuit of Justice at the Festival of Resilience. In: Micha Brumlik/Marina Chernivsky/Max Czollek/Hannah Peaceman/Anna Schapiro/Lea Wohl (Hg.). Nach Halle. Jalta, Positionen zur jüdischen Gegenwart. Berlin, Neofelis Verlag, 118–126.
3 Siehe beispielsweise die Zeug*innenaussagen von Christina Feist 2020 vor dem Oberlandesgericht Naumburg in: Pook, Linus/Stanjek, Grischa/Wigard, Tuija (Hg.). (2021). Der Halle-Prozess: Mitschriften. Leipzig, Spector Books, S. 303–310 sowie von Jeremy Boroviz, ebd. S. 275–281, Conrad Rößler, ebd., S. 421–426, Aftax I., ebd. S. 430–433, Dagmar M. ebd., S. 450–460, Daniel W., ebd. S.463–468.
4 Eine Bestandsaufnahme zur Sicherheit jüdischer Einrichtungen und Synagogen hat der Mediendienst Integration veröffentlicht: mediendienst-integration.de/artikel/5-jahre-nach-dem-anschlag-in-halle.html (abgerufen am 06.11.2024).
5 Podiumsdiskussion „Solidarische Bündnisse. Fünf Jahre nach dem rechten Terroranschlag von Halle“ mit Naomi Henkel-Guembel, İsmet Tekin, Nathan, Biffio, Paige H. und Rachel Spicker, organisiert von der Initiative „Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfen“ und „Soligruppe 9. Oktober“ am 10. 09.2024 im about.blank in Berlin.
6 Eine jährliche Plakatkampagne der Mobilen Opferberatung mit der Soligruppe 9. Oktober, dem TEKİEZ und dem Bündnis Halle gegen Rechts versucht, unterschiedliche Forderungen und Perspektiven von Überlebenden und Betroffenen sichtbar zu machen. Die Zitate sind online abrufbar unter https://www.instagram.com/tekiez_raum/?hl=de.
7 Rebecca Blady auf der Kundgebung der Initiative Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfen am 9. Oktober 2024 in Berlin zum 5. Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlags von Halle.
8 Talya Feldmans Projekte zum Thema Gedenken und Erinnern umfassen z. B. die Ausstellungen „Nach Halle“, „The Violence We Have Witnessed Carries a Weight on Our Hearts“, die Videoinstallation „Elegy“ oder das Projekt „WIR SIND HIER“.
9 Beitrag zum Motto des Festival of Resilience 2024/5785, online unter www.instagram.com/resilience.fest/.
Literaturverzeichnis
Prozess Report Halle (o. J.). Startseite. Online verfügbar unter www.halle-prozess-report.de (abgerufen am 22.11.2024).
Belltower.News/Rachel Spicker (o. J.). Interviews mit Überlebenden und Nebenkläger*innen. Online verfügbar unter www.belltower.news/author/rachel-spicker/ (abgerufen am 22.11.2024).
Borovitz, Jeremy (2024). Von dem Mann, der uns nach dem Anschlag Bier brachte. Jüdische Allgemeine vom 9. Oktober 2024. Online verfügbar unter www.juedische-allgemeine.de/politik/von-dem-mann-der-uns-nach-dem-anschlag-bier-brachte/ (abgerufen am 06.11.2024).
Chernivsky, Marina/Lorenz-Sinai, Friederike (2024). Der 7. Oktober als Zäsur für jüdische Communities in Deutschland. APuZ 25–26, 9–24. Online verfügbar unter www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antisemitismus-2024/549359/der-7-oktober-als-zaesur-fuer-juedische-communities-in-deutschland (abgerufen am 06.11.2024).
Gerczikow, Ruben (2023). Der Feind vor meinem Haus. Polizeiverbindungen in die rechte Szene verunsichern Jüdische Gemeinden. In: Heike Kleffer/Matthias Meisner (Hg.). Staatsgewalt. Wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern. Freiburg im Breisgau, Herder, 169–176.
Lehmann, Timo (2020). Sachsen-Anhalts Minister für Fehltritte und Missverständnisse. Online verfügbar unter www.spiegel.de/politik/deutschland/holger-stahlknecht-sachsen-anhalts-minister-fuer-fehltritte-und-missverstaendnisse-a-2ceaeee5-0798-4daa-b009-043ba72b00ea (abgerufen am 06.11.2024).
Machowecz, Martin (2020). Eine gute Tür. Zeit Magazin vom 20. Mai 2020. Online verfügbar unter www.zeit.de/zeit-magazin/2020/22/anschlag-in-halle-synagoge-tuer-tischler-eichenholz (abgerufen am 06.11.2024).
MDR Sachsen-Anhalt (2024). Nach Urteilsverkündung: Halle-Attentäter nach Thüringen verlegt. Online verfügbar unter www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/halle/halle/halle-attentaeter-geiselnahme-gefaengnis-prozess-urteil-102.html (abgerufen am 06.11.2024).
Pook, Linus/Stanjek, Grischa/Wigard, Tuija (Hg.). (2021). Der Halle-Prozess: Mitschriften. Leipzig, Spector Books.
Spicker, Rachel (2023a). Eine Einladung zum Perspektiv-Wechsel. Wie in Sachsen-Anhalt Überlebende von antisemitischer und rassistischer Gewalt mit Täter-Opfer-Umkehr konfrontiert werden. In: Heike Kleffer/Matthias Meisner (Hg.). Staatsgewalt. Wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern. Freiburg im Breisgau, Herder, 262–273.
Spicker, Rachel (2023b): „Seit dem 7. Oktober 2023 gibt es ein weiteres ,Davor‘ und ,Danach‘.“ Folgen des Terroranschlags der Hamas auf Überlebende des Halle-Anschlags und die Bedeutung von Handlungsfähigkeit. Online verfügbar unter www.mobile-opferberatung.de/seit-dem-7-oktober-2023-gibt-es-ein-weiteres-davor-und-danach-folgen-des-terroranschlags-der-hamas-auf-ueberlebende-des-halle-anschlags-und-die-bedeutung-von-handl/ (abgerufen am 06.11.2024).
Spiegel Online (2020). Fluchtversuch von Halle-Attentäter hat personelle Konsequenzen. Online verfügbar unter www.spiegel.de/panorama/justiz/jva-halle-fluchtversuch-von-halle-attentaeter-hat-personelle-konsequenzen-a-2ec3ca3a-7ded-42a8-ab9f-e29769b52d68 (abgerufen am 06.11.2024).
Steinke, Ronen (2021). Briefe an Gleichgesinnte. Online verfügbar unter www.sueddeutsche.de/politik/attentaeter-von-halle-briefe-1.5463675 (abgerufen am 06.11.2024).
Tiedemann, Sophia (2024). Nach dem Attentat von Halle: Es bleibt eine offene Wunde. Online verfügbar unter www.fr.de/politik/ueberlebende-halle-attentat-anschlag-jahrestag-terror-antisemitismus-93344506.html (abgerufen am 06.11.2024).