Einleitung
Das mediale Bild über den ländlichen Raum changiert aktuell in einem Spannungsfeld zwischen Romantisierung und Stigmatisierung. Einerseits wird eine neue Ländlichkeit konstatiert, in der ein idyllischer Sehnsuchtsort in einer sich mehr und mehr beschleunigenden Welt imaginiert wird. So gibt es eine Fülle an Zeitschriften und Magazinen, die einen äußerst positiven Blick zeigen, z. B. Landlust, Landidee oder Walden. Abgebildet werden „traditionelle und zeitgemäße Handwerkskunst“, „inspirierende Menschen“ und „traumhafte Gärten“ (Liebes Land 2018). Andererseits wird vor allem in (über-)regionalen Zeitungen ein düsteres Bild von ‚abgehängten‘ oder gar ‚sterbenden‘ Dörfern und Kleinstädten gezeichnet. Hier ist die Rede von Dörfern, denen „die Frauen davon [laufen]“ und Männer „Zoten und Pegida“ mögen (Süddeutsche 2017), man ist eben „Lost in Mecklenburg“ (TAZ 2013). Häufig sind diesen Artikeln Fotos von kargen Landschaften und heruntergekommener Bausubstanz beigefügt. Mitunter scheint es in der medialen Darstellung, als handle es sich um völlig gegensätzliche Räume des Ländlichen.
Im Diskurs darüber, ob es sich nun in Städten oder auf dem Land besser leben lässt, bilden sich dementsprechend Argumentationsstränge heraus, die einerseits auf die Attraktivität von Landschaft, Ruhe und Rückzugsmöglichkeiten im Ländlichen rekurrieren sowie andererseits die Legitimität eines Lebens bzw. Bleibens in ‚der Provinz‘ herausfordern. Insbesondere die negativen Konnotationen werden oftmals auf die sogenannten ‚Einheimischen‘ übertragen, also jene Personen, die schon immer in ländlichen Räumen leben und dort sesshaft sind. Vor dem Hintergrund eines tradierten Stadt-Land-Gegensatzes gelten sie „gemeinhin als ‚Modernisierungsverlierer‘, denen mangelnde Handlungskompetenz zugeschrieben wird“ (Speck et al. 2009: 153, H. v. i. O.). Die Frage nach Gehen oder Bleiben, sprich einem möglichen Wohnortwechsel, ist integraler Bestandteil des Lebenslaufs. Ausschlaggebend sind bestimmte biografische Gelegenheiten, wie die Phase nach der Schule. Verknüpft ist die Entscheidung wiederum mit strukturellen Bedingungen am Wohnort, bspw. Arbeitsplätzen, Kita oder Schule für die Kinder (Kalter 1997, Huinink/Kley 2008). Geht es um das Bleiben in ländlichen Räumen, werden vornehmlich junge Erwachsene im Zusammenhang mit der Berufswahlentscheidung in den Blick genommen. Hier wird das Verlassen des ländlichen Raums als ein gesellschaftlich akzeptierter Bestandteil einer Normalbiografie beschrieben (u. a. Schuhbarth/Speck 2009, Wochnik 2014, Schametat et al. 2017). Für Bleibewillige entsteht eine Art Abwanderungsdruck. Diejenigen, die sich dafür entscheiden, den ländlichen Raum nicht zu verlassen, müssen infolgedessen gute Argumente finden, um ihre Entscheidung zu rechtfertigen (Leibert/Wiest 2014, Speck et al. 2009, Merkel 2004). Im Kontext bisheriger empirischer Arbeiten wurde vereinzelt der Versuch unternommen, diejenigen Personen, die in „peripheren Regionen der neuen Bundesländer“ leben, zu typisieren. So kategorisieren Kröhnert und Klingholz die Gebliebenen als „Trotzige Macher“, „Verbitterte und Resignierte“ und „Genügsame Zurückbleiber“ (2007: 19ff.).
Der vorliegende Beitrag geht dem Leben im ländlichen Raum am Beispiel von Mecklenburg-Vorpommern auf die Spur und fragt gebliebene Land-Bewohner_innen nach ihrem Alltagsarrangement und Lebensentwurf unter den ortsspezifischen Bedingungen. Unsere leitenden Forschungsfragen lauten:
- Welche Motive und Lebensentwürfe sind ausschlaggebend für ein Leben auf dem Land?
- Wie sieht das Alltagsarrangement unter den ortsspezifischen Möglichkeiten aus?
Datengrundlage und Forschungsansatz
Die Grundlage unserer Analyse bildet ein qualitativer Forschungsansatz.1 Im Laufe des ersten Halbjahres 2018 wurden zwölf narrative Einzel- und Paarinterviews2 geführt. Insgesamt umfasst die Stichprobe 15 Personen. Die Gesprächspartner_innen leben in ländlichen Räumen Mecklenburg-Vorpommerns. Die meisten wohnen sehr lange und einige bereits ihr ganzes Leben am gleichen Ort.3 Das Alter der acht Männer und sieben Frauen liegt zwischen 32 und 74 Jahren. Darunter sind sowohl Personen mit hohem, mittlerem und niedrigem als auch ohne Bildungsabschluss. Die Gesprächspartner_innen verfügen teilweise über keine Ausbildung, überwiegend über eine Ausbildung im dualen System, einige haben einen (Fach-)Hochschulabschluss oder eine abgeschlossene Promotion. Niemand ist in der Landwirtschaft tätig.
Ländliche Räume werden in unserem Beitrag definiert auf der Basis der Typisierung des Thünen-Instituts für Ländliche Räume, Wald und Fischerei (Küpper 2016). Dabei spielt nicht nur die Siedlungsdichte eine Rolle, sondern u. a. auch der Anteil an land- und forstwirtschaftlichen Flächen, die Erreichbarkeit von großen Zentren und der Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern.
Für die wissenschaftliche Analyse wurden die geführten Gespräche zunächst transkribiert4 und mittels eines offenen Kodierverfahrens ausgewertet (Strauss 1991). In unserem Vorgehen steht die Themensetzung der Befragten im Vordergrund.
Bleibemotive und Alltagsarrangements
Bleibemotive und Lebensentwürfe
In den geführten Gesprächen finden sich ganz unterschiedliche Beweggründe der Gesprächspartner_innen, welche die Entscheidung im ländlichen Raum zu verbleiben maßgeblich beeinflussen. Daher gibt es zwar in den einzelnen Gesprächen Schwerpunkte, doch es ist vielmehr ein Bündel aus vielen Motiven, die einen Gradmesser für die subjektive Lebenszufriedenheit ausmachen. Der Wohnraum, insbesondere das Eigenheim und das dazugehörige großzügige Grundstück, ist ein relevanter Faktor, der oftmals in Verbindung mit der Schönheit und Eigenart der Landschaft vor Ort und dem unmittelbaren Zugang zur Natur thematisiert wird:
Na für mich, für uns, ist das Besondere, ich sag mal, ich finde unser Grundstück ganz toll. Erstmal weil's so riesengroß ist, das find ich gut und ja eine Grenze ist n bisschen Wassergrenze, der Bach und das find ich alles schön.
(Hannes, 74, Rentner)
Benannt wird weiterhin, dass dort bevorzugte (Freizeit-)Aktivitäten wie Gärtnern und Handwerk oder Eigenversorgung und Tierhaltung realisiert werden können. In diesem Zusammenhang wird auf die Möglichkeit verwiesen, auf dem eigenen Grundstück, im eigenen Haus, autonome Entscheidungen über deren Aus- und Umgestaltung, unabhängig von Vermieter_innen oder Nachbar_innen, zu treffen und umzusetzen. Dadurch erfahren die Gesprächspartner_innen ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit („Selbstverwirklichung“):
Ich kann mich hier handwerklich äh austoben […] Hochbeete baun, Fußböden verlegen, tapeziern, Wände einreißen, ne. Das sind so kleine Ausgleichssachen. Könnt ich in der Großstadt nich. (Ulrike, 34, Angestellte)
Interessanterweise wird in diesem Punkt die vermutete hohe soziale Kontrolle in dörflichen bzw. kleinstädtischen Siedlungsformen nur sehr beiläufig angeschnitten.
Nicht zuletzt erfordert die Erwerbstätigkeit einiger Befragter spezifische Räumlichkeiten wie eine Werkstatt oder ein Atelier, die im ländlichen Raum für vergleichsweise geringe Kosten gegenüber der Stadt verfügbar sind.
Hinzu kommen die Verbundenheit zum Ort, die verknüpften Erfahrungen und die Erinnerungen im Kontext der gesamten Lebensgeschichte. Diese beinhalten vor allem eine zeitliche Dimension: So sind es auf der einen Seite Erinnerungen aus Kindheitstagen, die in Verbindung mit dem ländlichen Raum stehen. Auf der anderen Seite definiert sich eine Verbundenheit durch einen Lebensentwurf, den es (noch) zu erfüllen gilt. Hier ist der zukünftige „Familienort“ (Christian, 34, Student).
Ich schaff mir ja auch dieses Reich oder versuch diese Häuser am Leben zu erhalten, weil ich möchte, dass das auch noch Generationen nach mir genießen könn. (Ulrike, 34, Angestellte)
Die Verbundenheit zum Ort resultiert zudem aus der Möglichkeit, hier die eigenen Ansprüche, Einstellungen und Werte realisieren zu können:
Also erstens ist es tatsächlich irgendwie so was wie ne politische Entscheidung zu sagen: […] Ich will hier bei diesen Menschen wohnen so, bei denen die, tja ob man sie nun die einfachen Leute nennt, oder die Bildungsfernen, oder die was auch immer, sind sie ja auch nicht, da ist ja nicht homogen, auch die Dorfstruktur ist nicht homogen. (Eva, 40, Angestellte)
Ein weiteres Motiv ist das soziale Netzwerk, bestehend aus (alten) Freund_innen und Bekannten im Ort oder der näheren Umgebung. Auch die Familie spielt eine Rolle, insbesondere in Form einer intergenerationalen Solidarität, nämlich dann, wenn Familienmitglieder zu Pflegefällen werden und Unterstützung nötig wird. Darüber hinaus bieten das eigene Haus und der dazugehörige Hof die Voraussetzung, dass sich hier viele Familienmitglieder treffen, hier können Familien- und Erziehungskonzepte verwirklicht werden, hier entwickelt sich ein Gefühl, das Sicherheit, Konstanz und Gewohnheit beinhaltet: „Dieses Schutzgefühl, wie son kleiner Kokon um einen drum […] egal wie man nach Hause kommt, es is immer einer da“ (Ulrike, 34, Angestellte). Insbesondere bei Familien und Paarbeziehungen ist anzumerken, dass die Wahl des Wohnortes nicht nur auf individuellen Entscheidungen beruht, sondern auch in Aushandlungsprozessen entstehen.
Erwerbstätigkeit
In den von uns geführten Gesprächen wird die Phase der (Neu-)Orientierung und des Abgleichs möglicher und tatsächlicher (Ausbildungs-)Berufsmöglichkeiten hinsichtlich der Frage über das Gehen oder Bleiben thematisiert. Ausschlaggebend sind zweierlei Aspekte: Zum einen besteht häufig nicht die Möglichkeit, im Wunschberuf tätig zu werden, denn „die kricht man auch nicht hier vor Ort, weil die einfach nicht angeboten werden“ (Ulrike, 34, Angestellte). Zum anderen werden finanzielle Aspekte angesprochen. Doch auch diese Faktoren führen nicht zwangsläufig zu einem Fortzug, so resümiert eine Bewohnerin:
Ne, und im Endeffekt geht’s doch nur darum, sein Leben zu gestalten, glücklich zu gestalten, ne? Und nich ums Geldverdienen, wer die Heimat verlässt, der geht nur, weil er Geld haben will. (Ulrike, 34, Angestellte)
Zum Zeitpunkt der geführten Gespräche geben die Bewohner_innen an, dass sie sich mit ihrem jeweiligen Erwerbsstatus arrangiert haben und kein Handlungsbedarf besteht, diesen zu ändern. Darüber hinaus sind einige der Befragten bereits im Ruhestand.
Versorgung und Mobilität
Um den eigenen Lebensentwurf unter den ortsspezifischen Gegebenheiten zu verwirklichen, bedarf es entsprechender Strategien, die mögliche Herausforderungen abfedern und dazu beitragen, die Lebenszufriedenheit positiv zu beeinflussen. In den Gesprächen wurde deutlich: Der Führerschein und ein eigenes Fahrzeug sind für den Alltag in ländlichen Regionen elementar. Der oftmals ausgedünnte öffentliche Personennahverkehr wird nur sehr wenig genutzt. Insbesondere im Kontext von Berufstätigkeit und Versorgungen des täglichen Bedarfs werden unflexible Fahrpläne sowie die lange Fahrdauer moniert. Das eigene Fahrzeug hingegen ermöglicht es, individuellen Mobilitätsanforderungen gerecht zu werden. Ein Gesprächspartner führt dazu aus: „N Grund wär' zum Beispiel, wenn wir beide nicht mehr Auto fahren können. Denn erledigt sich das hier auf'm Dorf alles.“ (Hannes, 74, Rentner)
Für jene Personen, die einen weiten Weg zur Arbeitsstelle zurücklegen, besteht eine Strategie darin, alltägliche Fahrtwege mit anderen Verpflichtungen zu verbinden. So ist es für eine Gesprächspartnerin wichtig, dass Ärzt_innen und Einkaufsmöglichkeiten auf dem direkten Arbeitsweg liegen, um den aufwendigen Pendelweg zu kompensieren. Generell wird die Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs hauptsächlich im Kontext von Mobilität thematisiert. Da der Großteil der Gesprächspartner_innen andere Ortschaften gut mit dem eigenen Auto erreichen kann, wird dies nicht als unüberwindbare Herausforderung dargestellt. Personen, die nicht mobil sind, werden auf der einen Seite durch einen wöchentlich durchfahrenden Lebensmittelwagen versorgt, auf der anderen Seite wird informelle Unterstützung von Freund_innen und Nachbar_innen geboten. Sofern es um spezielle Produkte geht, spielt an dieser Stelle für einige auch das Internet eine Rolle.
Zur Nutzung des Internets im ländlichen Raum lassen sich gegenläufige Deutungsmuster nachzeichnen. Eine Gesprächspartnerin berichtet, dass die ausreichende Internetversorgung eine hohe Relevanz für sie hat:
Ohne des würd' ich hier nicht leben […] ich informiere mich fast über Alles über's Internet, ich buche Alles übers Internet, ich kaufe ein […], wenn Sie bestimmte Vorstellungen haben, was Sie kaufen wollen, Sie kriegen's hier nicht. (Mechthild, 70, Rentnerin)
Eine andere Gesprächspartnerin hebt die mangelnde Internetversorgung und den unzureichenden Handyempfang an ihrem Wohnort als positiv hervor: „ich freue mich über das Funkloch“ (Heidemarie, 62, selbstständig). In ihrem Lebensentwurf stehen Ruhe und die Verbundenheit zur Natur im Vordergrund.
Freizeit und Engagement
Freizeitgestaltung und Engagement sind, wie andernorts auch, mit der Motivation verbunden, eigene Vorlieben und Interessen zu verfolgen, sowie – ein in vielen Gesprächen sehr bedeutender Punkt – soziale Kontakte zu pflegen (Tabelle 1).
Tabelle 1: Freizeitaktivitäten und Engagement
Insgesamt sind die Gesprächspartner_innen mit den Angeboten ihrer jeweiligen Wohnorte zufrieden, auch wenn sie sich zum Teil nicht aktiv daran beteiligen. Als besonders positiv wird hervorgehoben, dass diese altersdurchmischt und kostenlos sind.
Kulturelle und soziale Aktivitäten müssen nicht zwangsweise vor Ort stattfinden, da oftmals Angebote wie Theaterveranstaltungen, Konzerte oder Kino in den nächstgelegenen größeren Städten genutzt werden. Die Freizeitgestaltung außerhalb des Wohnorts unterstreicht nochmals die engen Verflechtungen von Land und Stadt, die nicht hermetisch voneinander abgeriegelt existieren. Hierfür ist jedoch die individuelle Mobilität elementare Grundvoraussetzung. Eine Rentnerin, die selbst nicht mehr Autofahren kann, bewertet die Situation daher auch anders:
Hier ist ja nich nichts weiter. Hier ist der Verein und Gott sei Dank ist der da. Der Verein, der ist das kulturelle Leben eben bisschen, nicht? Und die Menschen kommen zusammen, nicht? (Friedegard, k. A., Rentnerin)
Soziale und zivilgesellschaftliche Strukturen werden in ländlichen Räumen maßgeblich von bürgerschaftlichem Engagement getragen. In den betrachteten Ortschaften sind Freiwillige in Dorf-, Kirchen- und Sportvereinen aktiv. Versammlungen oder Feste bieten Anlässe, um konkrete Anliegen oder Probleme anzusprechen, zu diskutieren und Lösungen zu initiieren. In einem Ort wird beispielsweise die Erneuerung eines maroden Badestegs zum Anlass für Partizipation:
Der alte [Badesteg] war gammlig und dann war so 'ne scheußliche Idee, da so'n Ponton-Ding machen und das will keiner von uns. […] Und ja, da setzen sich jetzt 'n paar sehr ein, dass wir da wieder 'n schönen Holzsteg bekommen. (Mechthild, 70, Rentnerin)
An diesem Beispiel zeigt sich, wie eine Öffentlichkeit vor Ort entsteht, die sowohl Demokratie5 auf lokaler Ebene erleb- und mitgestaltbar macht als auch Solidarität in den Vordergrund stellt. Aus unseren Gesprächen geht hervor: Freiräume für eigene Ideen und Initiativen sind vielerorts potenziell gegeben: „Ich glaube, wenn ich mehr wollte, dann würde ich mich auch mehr einbringen“ (Heidemarie, 62, selbstständig). Zugleich wird deutlich, dass auf Engagement und Eigeninitiative beruhende Strukturen einerseits ein hohes Maß an Freiraum ermöglichen und andererseits sehr fragil sind. Der Möglichkeit, den Wohnort nach eigenen Vorstellungen mit Leben zu füllen, steht mit Blick auf die Dimensionen sozialer Ungleichheit die Frage gegenüber: Wer hat welche zeitlichen, finanziellen und kulturellen Ressourcen zur Verfügung, um sich wie zu engagieren? Diesbezüglich weist Claudia Neu auf den Aspekt des Rückzugs des Wohlfahrtsstaates aus der Fläche hin:
Gerade in ländlichen Räumen wird gerne an die ‚ureigenen Kräfte‘ wie Nachbarschaftshilfe und bürgerschaftliches Engagement appelliert, um die Bürger auf ihre neuen ‚Aufgaben‘, wie etwa die Unterstützung von pflegebedürftigen Nachbarn, vorzubereiten. Die heimeligen Begriffe ‚Nachbarschaftshilfe‘, ‚Solidarität‘ und ‚Gemeinschaft‘ verschleiern aber letztlich nur, dass die Kosten für die wegbrechenden sozialen und kulturellen Daseinsvorsorgeleistungen mehr und mehr privatisiert werden, während die Anforderungen an die individuellen Bewältigungskompetenzen steigen.
(Neu 2016: 8)
Das bedeutet gleichzeitig, dass es in Ortschaften, in denen sich Engagierte für benötigte Alltagserfordernisse nur schwer oder gar nicht finden lassen, kaum möglich ist, gleichwertige Lebensverhältnisse aufrechtzuerhalten – ein ‚Abgehängt-Sein‘ nimmt dann deutliche Ausformungen an. Die derzeit geförderten und häufig zunächst nur temporär finanziell abgesicherten Modellprojekte zur Entwicklung ländlicher Räume vermögen kurzzeitig Abhilfe zu schaffen, jedoch sind in solchen Fällen dauerhafte Unterstützungsstrukturen unerlässlich.
Fazit
Zusammenfassend lassen sich aus unserer bisherigen Analyse folgende Thesen zu Bleibemotiven und Lebensentwürfen sowie Alltagsarrangements von Bewohner_innen ländlicher Räume ableiten:
- Motive zum Verbleiben im ländlichen Raum sind mehrdimensional und abhängig vom jeweiligen Lebensentwurf und der aktuellen Lebenssituation.
- Relevante Aspekte für das Leben in ländlichen Räumen sind das eigene Haus und Hof, die Verbundenheit zum Ort sowie das soziale Netzwerk.
- Ortspezifische Gelegenheitsstrukturen werden abhängig von Lebensentwurf und -situation bewertet. Sofern sich diese als mangelhaft darstellen, werden Handlungsstrategien entwickelt, um sich entlang der eigenen Vorstellungen im Alltag zu arrangieren.
- Mobilsein wird insbesondere vor dem Hintergrund infrastruktureller Defizite als essenziell dargestellt, daher sind Fahrzeug, Führerschein oder informelle Unterstützung von Freund_innen und Nachbar_innen unabdingbar.
- Die Verfügbarkeit von Internet und Handyempfang wird nicht per se als unzureichend bewertet.
- Entsprechend der eigenen Präferenzen werden die Freizeitmöglichkeiten vor Ort als ausreichend wahrgenommen bzw. ist die Bereitschaft vorhanden, spezifischen Vorlieben auch anderenorts nachzugehen und dafür Fahrweg zurückzulegen.
- Freiwilliges Engagement trägt soziale und zivilgesellschaftliche Strukturen. Vor allem Vereine und Initiativen bieten über die inhaltlichen Schwerpunkte hinaus Anlässe sich zu treffen, zu kommunizieren sowie Unterstützungsbedarfe und -angebote auszuloten.
- Die Frage über das Gehen oder Bleiben ist immanenter Bestandteil der vorliegenden Erzählungen, in denen sowohl Bleibeorientierungen als auch Abwanderungsneigungen thematisiert werden.
- Ein Wechsel des Wohnorts wird in Betracht gezogen, wenn die Bedürfnisse in der aktuellen Lebenssituation mit vorhandenen Ressourcen nicht mehr unter den ortsspezifischen Möglichkeiten erfüllt werden können und wenn eine Verschiebung von Wohnpräferenzen im Lebensverlauf, unabhängig von vorhandenen Ressourcen, stattfindet.
- Der ländliche Raum ist kein abgeschottetes Biotop. Die Verwobenheit von Stadt und Land zeigt sich vielfältig in den Alltagsarrangements der Gesprächspartner_innen.
Zur Reflexion der Ergebnisse sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: (1) Gängige Differenzierungslinien zur Analyse von Lebensverhältnissen wie Stadt/Land oder Ost/West wurden in den Interviews zwar seitens Gesprächspartner_innen aufgegriffen, bilden in unserer Analyse allerdings keine Vergleichskategorien, da keine entsprechenden Interviews vorliegen. (2) Nicht nur diejenigen Personen, die schon lange oder bereits seit jeher im ländlichen Raum wohnen, prägen die Lebenssituation vor Ort, sondern auch ‚Zugezogene‘ oder multilokal Lebende – diese wurden in unserem Sample nicht berücksichtigt. (3) Jugendliche und junge Erwachsene sind als Gesprächspartner_innen nicht vertreten, dafür viele Rentner_innen. Dies spiegelt in einigen der Ortschaften die tatsächliche Bewohner_innenstruktur wider. Jedoch sehen wir hier eine mögliche Ursache dafür, dass in unseren Gesprächen der eingangs erwähnte Abwanderungsdruck, den ländlichen Raum bei einer sich bietenden Möglichkeit zu verlassen, nicht beschrieben wird.
Festzuhalten ist: Wie in der medialen Darstellung aufgegriffen, finden sich im ländlichen Raum ebenso prosperierende Gemeinden wie zusehends peripherisierte Dörfer und Kleinstädte, die jedoch nicht nur in diesen Idealtypen existieren. Um ein umfassendes Bild der Chancen und Problemlagen ländlicher Lebensverhältnisse und der damit verbundenen Handlungs- und Partizipationsmöglichkeiten zu erhalten, benötigt es Analysen, die neben strukturellen Gegebenheiten auch die Lebensrealitäten der Menschen vor Ort berücksichtigen. Zudem ist es Aufgabe der medialen sowie wissenschaftlichen Debatte, einen sachlich-differenzierten Diskurs zu führen, um stereotypen Etikettierungen entgegenzuwirken, denn: Es gibt nicht die spezifische Lebensweise in dem ländlichen Raum!
1 Qualitative Sozialforschung erlaubt es nach dem Wie sozialer Phänomene zu fragen. So werden Thesen aus dem sozialen Feld heraus generiert und weniger überprüfend an dieses herangetragen.
2 Die Interviews wurden im Rahmen der Dissertationsvorhaben der Autorinnen sowie dem Kooperationsseminar „Das Dorf – Studien im ländlichen Raum“ (A. Knabe/Universität Rostock und D. Kubiak/Humboldt Universität zu Berlin) geführt.
3 Der Fokus auf ‚Zugezogene‘ findet sich beispielsweise bei Rössel 2014 und Dirksmeier 2009.
4 Während des Transkribierens wurden alle Namen pseudonymisiert. Ortschaften werden aufgrund der geringen Bewohner_innenzahl und dem damit verbundenen hohen Identifikationsgrad nicht benannt.
5 Analysen zur demokratischen Kultur vor Ort erfordern es, den jeweils spezifischen Kontext der Regionen wie die sozioökonomische Lage, die politische Kultur sowie demokratische und antidemokratische Angebotsstrukturen zu berücksichtigen. In unseren Interviews bildete dies keinen von uns gesetzten Schwerpunkt, jedoch findet sich das Thema in den Alltagsschilderungen sehr oft wieder. Beispiele für umfängliche Lokalanalysen: Buchstein/Heinrich 2010 (Ländliche Räume in Mecklenburg-Vorpommern); Quent/Schulz 2015 (Mittelstädte in Thüringen).
Literatur
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