Auslöser des Projekts waren die anhaltenden Diskussionen um die vermeintliche ‚Spaltung der Gesellschaft‘, die sich seit Sommer 2015 in der Auseinandersetzung um Zuwanderung und Integration verstärkten. Die kontroversen gesellschaftlichen Debatten rund um die sogenannte ‚Flüchtlingskrise‘ lenkten den Blick innerhalb von Dorfgemeinschaften zugleich auf grundsätzliche Fragen: Wie gehen wir als dörfliche Gemeinschaft mit denjenigen um, die sich nicht in unsere Denk- und Handlungsschemata einordnen lassen? Welche Wertvorstellungen liegen dem zugrunde, was wir befürworten oder ablehnen? Wer sind ‚Wir‘ überhaupt? Diese Fragestellungen hat das Projektteam aufgenommen und daraufhin ein moderiertes Format von Wertedialogen konzipiert, bei dem möglichst unterschiedliche Menschen im Dorf in einen aktiven Austausch treten. Mit diesen Fragestellungen verorteten sich die ‚Dorfgespräche‘ sowohl als Beteiligungsformat als auch als Beitrag zum Erhalt einer offenen Gesellschaft, die aktiv und produktiv mit Vielfalt umzugehen weiß.
Beteiligung, die Kreise zieht
Vor Ort haben wir zunächst zwischen 20 und 40 persönliche Eins-zu-eins-Gespräche geführt, um Schlüsselpersonen zu finden, die als Multiplikator_innen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen des Dorfs ansprechen konnten. Im Sinne des Prinzips „Person vor Institution“ waren dies neben klassischen Vereinsvertreter_innen z. B. ein Getränkemarktinhaber, bei dem viele Informationen ausgetauscht wurden, eine Werklehrerin, die von vielen im Dorf anerkannt wurde oder ein engagierter Neuzugezogener, der in der bisherigen Vereinsstruktur keine Heimat gefunden hatte. Diese Multiplikator_innen wurden im nächsten Schritt eingeladen, gemeinsam spezifische Erfolgskriterien für die Dorfgespräche zu definieren und so aktiv Verantwortung für den weiteren Prozess zu übernehmen. Hier wurde u. a. immer wieder die Gestaltung von neuen Begegnungsmöglichkeiten im Alltag genannt. In drei Dialogabenden, zu denen das gesamte Dorf eingeladen war, haben wir den Dreischritt persönliche Begegnung, produktive Auseinandersetzungen und gemeinsames Handeln in den Mittelpunkt gerückt. Diese Abende im Abstand von vier Wochen wurden niedrigschwellig und interaktiv moderiert und fanden an ungewöhnlichen Orten statt, etwa Bierzelt, Industriebrache oder Scheune. Es nahmen zwischen 25 und 180 Personen teil. Durch moderierte Elemente wie ‚Speed Dating‘, kurze Gruppendialoge über wichtige eigene Wertvorstellungen und Formulierungen von herausfordernden Fragen an das eigene Dorf wurden neue Begegnungen ermöglicht und andere Perspektiven im Austausch sichtbar. Mit dem Dorf als sozialem Nahraum gelang es, damit einen intensiven Austausch aller Beteiligten zu ermöglichen: zwischen alteingesessenen Bürger_innen und Neuzugezogenen, zwischen Vereinsverantwortlichen, nachbarschaftlichen Helferkreisen und Geflüchteten, zwischen engagierten Einzelbürger_innen, Senior_innen, Kindern und Familien sowie allen weiteren ortsansässigen interessierten Personen.
Dieses Vorgehen forderte bestehende (Macht-)Strukturen im Dorf durchaus heraus: Es wurden neue und unerwartete Begegnungen sichtbar, die jenseits eingefahrener Institutionen und Vorgehensweisen Kreativität ermöglichten und sich nicht im Abarbeiten von klassischen Problemfeldern wie Verkehr, Wohnen und Bauen erschöpften. So brachten etwa drei Neubürgerinnen einen von Alteingesessenen lange gehegten, aber nie verwirklichten Wunsch einer regelmäßigen „Dorfzeitung“ in die Umsetzung. Mitarbeiterinnen eines Mutter-Kind-Heims, das im Ort weitgehend tabuisiert war, etablierten ein Veranstaltungsprogramm mit dem Titel „Dorfmitte“. Ein Helferkreis öffnete sich als Ansprechpartner für alle Bürger_innen mit einem regelmäßigen Begegnungscafé. Damit entstanden neben den konkreten Projekten neue Sichtweisen auf die Ressourcen des eigenen Dorfs und auf den produktiven Umgang mit Vielfalt.