Verschwörungsmythen und „digitaler Faschismus“ als gemeinsamer Nenner
Seit Beginn der Ausbreitung des Corona-Virus veröffentlichten Akteur*innen der extremen Rechten zahlreiche Beiträge, mit denen der Versuch unternommen wurde, die Situation zur Ideologieverbreitung und Mobilisierung auszunutzen (vgl. zur Protestdynamik: Virchow/Häusler 2020). Durch die eingeschränkte Versammlungsfreiheit spielte die digitale Welt hier die wichtigste Rolle (vgl. Weiß 2020). Im Frühjahr 2020 wurden die Deutungen extrem rechter Akteur*innen vor allem über die sozialen Medien und Messenger verbreitet. Den zahlreichen verbreiteten Verschwörungsmythen zum Corona-Virus sind vor allem die dahinter liegenden antisemitischen Motive gemein (vgl. den Beitrag von Frindte in diesem Band). Im Verlauf des Jahres kam es aber immer wieder zu einer Anpassung der Erzählungen. Die Strategie der Verbreitung von Verschwörungsmythen und Untergangszenarien über die sozialen Medien beschreiben Maik Fielitz und Holger Marcks als Kern des „digitalen Faschismus“: „Dabei ist es vor allem die Arbeit mit Bedrohungsmythen, die auffällt. Dass etwa ein nationaler Untergang beschworen wird, das war auch charakteristisch für die faschistische Mobilisierung in der Zwischenkriegszeit. Da wird eine existentielle Bedrohung herbeigeredet, um illiberale Maßnahmen zu rechtfertigen und Gewalt als Notwehr erscheinen zu lassen.“ (Rafael 2020) Es geht den extrem rechten Akteur*innen darum, die Logik sozialer Medien zu nutzen, nach der sich negative und spektakuläre Meldungen rasanter verbreiten und durch mehr Klicks und Shares verstärkt werden, um die faschistische Haupterzählung zu verbreiten: Die Erzählung vom Niedergang der Nation (Fielitz/Marcks 2020). Durch die ständige Nutzung der Sozialen Medien und Messengerdienste werden viele Menschen permanent mit dieser Ideologie konfrontiert und durch sie beeinflusst.
Auch Thüringer Neonazis verbreiteten schon zu Beginn der Pandemie antisemitische Verschwörungserzählungen. So beispielsweise Ex-Thügida-Aktivist David Köckert: Er richtete sich bereits im März 2020 in einem Facebook-Video an seine Unterstützer*innen: „Wir kennen den Virus schon seit Jahrzehnten und seit Jahrhunderten sprechen wir ihn an. Und dieser Virus ist der, der die Welt schon immer vergiftet hat.“1 Der Greizer Neonazi ist sich seiner antisemitischen Anspielungen sehr wohl bewusst, so verweist er im Nachgang darauf, dass man ihm nun wieder eine „Volksverhetzung“ anlasten werde, um ihm zu „erklären“, dass er diese Äußerungen „auf irgendeine spezifische ethnische Minderheit reduziere“. Auch die Neonazistin Angela Schaller, die seit Jahren in Südthüringen den „Thing-Kreis“ organisierte, äußerte sich in einem Video zum Corona-Virus. Für Schaller ist klar, dass die Reaktionen der Behörden überzogen seien, da es „noch keinen einzigen Corona-Toten“ gegeben habe, „so wie es immer in der Zeitung steht“. Neben der Verbreitung von Falschinformationen diskreditiert die Neonazi-Aktivistin hier gleichzeitig „die Medien“, um diese als Informationsgrundlage zu delegitimieren.
Neonazi-Nachbarschaftshilfe
Besonders in der ersten Phase der Pandemie inszenierten sich extrem rechte Akteur*innen in Thüringen als „Retter*innen in der Not“. Neonazi-Aktivistin Schaller bot sich bei Ebay-Kleinanzeigen als „Einkaufshilfe“ für „ältere Leute“ im Raum Sonneberg an. Hilfen boten im Frühjahr auch verschiedene Neonazi-Organisationen an. Die Jungen Nationalisten, die Jugendorganisation der NPD, verteilten in mehreren Regionen Plakate und propagierten damit ihre Unterstützung für „ältere Menschen“. In Thüringen war es vor allem die Neonazi-Kleinstpartei Der Dritte Weg, die mit sogenannten Nachbarschaftshilfen warb. Auf zahlreichen Flyern forderte die Partei – gemäß ihrem rassistischen Weltbild – „Solidarität für Deutsche“. Der Dritte Weg bewarb diese Aktion u. a. für Erfurt, Suhl und Gotha. In Gotha wurde diese Nachbarschaftshilfen auch auf den Plattformen des „Bündnis Zukunft Landkreis Gotha“ angeboten und dort über einen Kontakt zum Neonazi Marco Zint organisiert. Ähnliche Angebote wurden auch in den Geraer Neonazi-Netzwerken verbreitet. „In schweren Zeiten“ sei es wichtig, „dass wir als Volk, eine der größten natürlichen Einheiten, zusammenrücken […]“, heißt es dort im Text. Hier handelt es sich ausdrücklich um rassistisch organisierte „Solidarität“. Hilfsangebote werden nach Maßgabe der extrem rechten Ideologie konstruiert.
Zudem verbreiteten sich diverse Botschaften extrem rechter Prepper*innen, welche die aktuelle Corona-Krise als Bestätigung ihrer wiederholten Warnungen vor dem „Zusammenbruch“ interpretierten. So wurden beispielsweise Videos zur Vorbereitung auf den angeblich bevorstehenden Ausnahmezustand verteilt, u. a. durch Axel Schlimper aus dem Landkreis Sonneberg, der schon in der Vergangenheit in Vorträgen Tipps zur „Krisenvorsorge“ gab. Der extrem rechte Verein „Deutscher Zivilschutz“ aus Altenburg warb für eine Veranstaltung, um sich auf mögliche Stromausfälle nach dem „Blackout“ vorzubereiten. Gleichzeitig bedauerte der Südthüringer Neonazi Tommy Frenck, dass ein Horten von Waffen, um sich wie in den USA auf „mögliche Probleme bei der Gewährung der öffentlichen Sicherheit ein[zu]stellen“, für „Deutsche“ nicht möglich sei.
Die genannten Beispiele zeigen die zahlreichen ideologischen Anknüpfungspunkte für die extreme Rechte. Deren Akteur*innen können erneut den Untergang des aktuellen politischen Systems propagieren und dies mit der Verbreitung von Angst vor „den Eliten“ verbinden, die die Einführung einer Diktatur planen würden. Damit sollen die aktuellen Regierungen als undemokratisch dargestellt und somit delegitimiert werden. Die Warnung vor der Einführung einer „Corona-Diktatur“ bringt gleichzeitig die Selbstbeschreibung der extremen Rechten als „wahre Demokraten“ mit sich, die auch bei den Pandemie-Leugner*innen zu finden ist. Durch Nachbarschaftshilfen und andere Aktivitäten versucht man präsent zu sein, um sich als Alternative zu dem „nicht funktionierenden“ System zu konstruieren. Dabei spielen der Umfang und der Erfolg der beworbenen Aktionen kaum eine Rolle: Wichtig ist vor allem die Inszenierung in den sozialen Medien.
Protestbewegung gegen die Corona-Schutzmaßnahmen
Mit den Lockerungen im Frühjahr 2020 verlagerten sich die Proteste auf die Straße. Ende April führte die extrem rechte Gruppe „Erfurt zeigt Gesicht“ vor dem Erfurter Rathaus eine medial inszenierte Protestkundgebung gegen die Einschränkungen durch die Corona-Schutzmaßnahmen durch und streamte diese live. Über Social Media und Messengerdienste wurden Aufrufe zum gemeinsamen Eisessen, zu Autokorsos, „hygienischen Spaziergängen“ und öffentlichen Meditationen verbreitet. Dabei war nicht immer klar, welche Organisator*innen hinter den Protesten standen. Waren es zunächst unangemeldete Aktionen, fanden mit der Rücknahme vieler Einschränkungen ab Frühsommer thüringenweit Demonstrationen statt. Die Neonazi-Szene rief von Anfang an zu den Demonstrationen auf und zeigte Präsenz, konnte aber insgesamt keine Führungsrolle übernehmen. Die Strategie, die hinter der Instrumentalisierung der „Hygienedemos“ stand, brachte der Neonazi-Unternehmer Patrick Schröder auf den Punkt. Dieser rief in einem YouTube-Video dazu auf, die Demonstrationen zu nutzen, gerade weil extrem rechte Akteur*innen wie er selbst nicht davon ausgeschlossen seien und man somit den Anschluss an bisher nicht erreichte Milieus finden könne. Konkret riet er, „die ganze Corona-Scheiße einfach mal sein lassen, sondern wirklich hier das als Widerstand gegen die Regierung [zu] sehen. [...] Und dann bringt ihr vielleicht das ein oder andere Weltbild dann zum Einbrechen.“
Entwicklung der Pandemie-Leugner*innen-Szene in Thüringen
Neben der quantitativ gering vertretenden Neonazi-Szene fand sich beim Protest ein breites Spektrum an rechten Teilnehmer*innen. Von Reichsbürger*innen über AfD-Klientel bis hin zu Anti-Moschee-Gruppierungen sammelte sich eine rechte Mischszene der Pandemie-Leugner*innen in Thüringen. Der erste Mobilisierungshöhepunkt der Proteste fand im Mai 2020 statt. Am 18. Mai demonstrierten thüringenweit bei etwa 50 Veranstaltungen rund 2.900 Menschen gegen die Corona-Maßnahmen. Die größte Demonstration fand Anfang Mai in Gera mit 750 Teilnehmer*innen statt. Neben Reichsbürger*innen und Neonazis nahm auch der Vorsitzende des FDP-Landesverbandes und kurzzeitige Ministerpräsident Thomas Kemmerich teil. (Meisner/Starzmann 2020) Zu einer Kundgebung von „Hallo Meinung“ in Schmalkalden am Pfingstsonntag zogen szeneprominente Redner*innen wie Peter Weber („Hallo Meinung“), Vera Lengsfeld und der Kabarettist Uwe Steimle rund 600 Teilnehmende aus ganz Thüringen an (Kellermann 2020). Die Veranstaltung wurde von der extrem rechten Gruppierung „Erfurt zeigt Gesicht“ durch eine Live-Übertragung unterstützt.
Im weiteren Verlauf gründeten sich meist regionale Gruppen wie „Mut zur Wahrheit Meiningen“, „Der Neue Schmalkaldische Bund“, „Sonneberg zeigt Gesicht“ oder die „Salzunger Montagsspaziergänge“, um die Proteste zu organisieren. In Erfurt agierten zeitweise mehrere Gruppen parallel. Nach der Gründung der Erfurter „Querdenker 361“-Gruppe folgten weitere „Querdenker“-Ableger u. a. in Jena, Saalfeld oder Bad Lobenstein. Lokale Gruppen schlossen sich zur gegenseitigen Unterstützung in Netzwerke zusammen und besuchten wechselseitig Veranstaltungen als Teilnehmende und Redner*innen. AfD- Funktionär*innen und Mitarbeitende begleiteten und unterstützten die Proteste in ganz Thüringen. Auch wenn die Partei sich nicht demonstrativ an die Spitze des Protestes stellte, wie etwa 2015 bei den asylfeindlichen Demonstrationen in Thüringen, verstand sich die AfD als Sprachrohr und parlamentarischer Arm des „Widerstands“ (vgl. den Beitrag von Richter und Salheiser in diesem Band).
Ideologie und Radikalisierung
Mit den Lockerungen im Sommer nahmen die Teilnehmendenzahlen bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen ab. Gleichzeitig wurde der Ton auf den Demonstrationen und in den einschlägigen Telegram-Gruppen deutlich radikaler. Antisemitische Verschwörungserzählungen, Aufrufe zum Umsturz und Bedrohungen nahmen zu.
Verschwörungsmythen und der dahinterliegende Antisemitismus waren eine inhaltliche Klammer zwischen den Demonstrant*innen. Wurden Verschwörungsmythen zu Beginn des Protestes noch eher vereinzelt und chiffriert auf Plakaten verbreitet, trat der Antisemitismus im Verlauf des Protestgeschehens immer deutlicher zutage. Sowohl auf Plakaten, Kleidungsstücken und in Reden, wie auf einer Rede des Anmelders einer Demonstration von „Querdenken“ am 08. August in Erfurt, wurden antisemitische Feindbilder geschürt: „Die üblichen Verdächtigen in unserer derzeitigen Welt, diese Psychopathen deren Namen immer wieder auftauchen, heißen Rockefeller, Rothschild, Gates, Soros, Clinton, Obama und Co. [...] Sie müssen aus dem menschlichen Verkehr gezogen werden!“ Auch Umsturzfantasien und Kriegsmetaphorik konnten, ohne Störungen oder Einschreiten, offen geäußert werden wie Mitte September bei einer Veranstaltung des „Neuen Schmalkaldischen Bund“ und später bei „Querdenken“ in Erfurt: „[…] nur wir, als das deutsche Volks selbst, sind in der Lage, uns aus diesem Schlamassel, in dem wir uns befinden, zu befreien. Und deswegen frage ich nicht danach, wer neben mir im Schützengraben liegt und schießt […]. Es ist relevant, dass wir gemeinsam im Schützengraben in die gleiche Richtung schießen […].“ Diese Ausführungen stehen stellvertretend für die Szene der Pandemie-Leugner*innen: Es gab und gibt keine Distanz zu antidemokratischen Ideologien und Gruppierungen.
Nicht nur die Rhetorik verschärfte sich, auch die Aktionsformen wurden radikaler. Nach dem Vorbild der Reichsbürger*innen-Szene wurden beispielsweise Gesundheitsämter, Schulen oder Politiker*innen mit Schriftstücken konfrontiert, mitunter auf Grundlage bundesweit kursierender Vorlagen. In ganz Deutschland agierende Organisationen wie „Freiheitsboten“ oder „Eltern stehen auf“ stellten Material zur Verfügung, damit lokale Gruppen – auch in Thüringen – in ihren Wohnorten Propagandamaterial verteilen konnten. Diejenigen, welche die Hygiene-Maßnahmen verteidigten, gerieten ins Visier der Pandemie-Leugner*innen. Die privaten Daten eines Ilmenauer Schulleiters wurden veröffentlicht, woraufhin er Morddrohungen erhielt (Haak 2020). Es folgten weitere Drohungen gegen Politiker*innen und Journalist*innen (Fromm/Ulrich 2021), die auch in den öffentlichen „Querdenken“-Kanälen bei Telegram verbreitet wurden.
Die bundesweite Vernetzung gegen „das System“
Thüringen war ein Ort bundesweiter Vernetzung der Pandemie-Leugner*innen-Gruppen: Der bekannte HNO-Arzt Bodo Schiffmann aus Baden-Württemberg stoppte bei seiner bundesweiten Bustour Mitte Oktober in Eisenach und November in Suhl. Michael Ballweg, Gründer der Stuttgarter Initiative „Querdenken 0711“ und Führungsfigur von „Querdenken“, sprach am 03.10.2020 in Erfurt und reiste Mitte November zu einem bundesweiten Strategietreffen zwischen der „Querdenken“-Initiative und der Reichsbürger*innen-Szene nach Saalfeld (Berg 2020). Hier traf er u. a. auf den bekannten Reichsbürger Peter Fitzek aus Sachsen-Anhalt, um gemeinsame Strategien zu erörtern (Bergholz 2021). Thüringer Gruppen nahmen auch an bundesweiten Großdemonstrationen in Berlin und Leipzig teil. Am 29.08.2020 filmte sich u. a. ein Mitglied der extrem rechten Gruppe „Patriotischer Widerstand Deutschland – Sachsen/Thüringen“ vor der Treppe des Reichstagsgebäudes, nachdem in den sozialen Medien bundesweit zu dessen „Sturm“ mobilisiert wurde. Der Thüringer NPD-Kader Patrick David Wieschke aus Eisenach, der an zahlreichen lokalen und überregionalen Demonstrationen teilnahm, rief im Vorfeld der großen Querdenken-Demonstration im August 2020 in Berlin in einem Post zur Revolution auf: „DAS SYSTEM MUSS KIPPEN! BERLIN – WIR KOMMEN! [...] Für die Revolution auf nach Berlin.“
Die Erfurter „Querdenken 361“-Gruppe beteiligte sich mit einem eigenen gestalteten LKW an der Demonstration. Für bundesweite Aufmerksamkeit sorgten die Schilder der „Patrioten Ostthüringen“ und des Thüringer AfD-Kreisverbandes Saale-Orla mit Fotos von u. a. Politiker*innen und Journalist*innen in Sträflingskleidung. Auch der Landeschef der Thüringer AfD, Björn Höcke, war in Berlin vor Ort. In einem von der extrem rechten Initiative „Ein Prozent“ verbreiteten Video skizzierte er seine Phantasien einer völkischen Erweckung, auf die er angesichts der Proteste wohl hoffte: „Ich bin heute hier in Berlin, weil ich das Gefühl habe, dass hier und heute in Berlin Geschichte geschrieben wird. [...] Und sie [die Protestierenden] erleben hier heute etwas, das die alten Kräfte in diesem Lande jahrelang und jahrzehntelang nicht zugelassen haben: Sie erleben Gemeinschaft, sie erleben ein Zusammengehörigkeitsgefühl, dass man uns Deutschen viele, viele Jahre jetzt vorenthalten hat. Und das ist das, wovon ich hoffe, dass es nachhaltig wirken wird.“
Wie schon die Neonazis Wieschke und Schröder versuchte Höcke den Protest der Pandemie-Leugner*innen im Sinne der AfD zu instrumentalisieren und als grundsätzlichen Protest gegen „die alten Kräfte“ zu deuten. Nach dem Erfolg bei den Großdemonstrationen in Berlin nahmen Thüringer Gruppen am 7. November an der Demonstration in Leipzig teil. Eine der Führungsfiguren der Gruppe „Querdenken361“ rief per Megaphon dazu auf, die polizeilichen Absperrungen zu durchbrechen. Daneben waren in Leipzig – wie schon in Berlin – auch wieder Neonazis aus Eisenach und Funktionäre der Thüringer AfD vor Ort.
Die Pandemie als Herausforderung für zivilgesellschaftliches Engagement
Neben all den Herausforderungen, mit denen sich zivilgesellschaftliche Akteur*innen im Zuge der Lockdown-Maßnahmen gesamtgesellschaftlich konfrontiert sahen, stieg der Handlungsdruck, aktiv auf Problemlagen hinzuweisen. So war mit den Infektionsschutzmaßnahmen auch das Grundrecht auf Asyl faktisch ausgesetzt. Gleichzeitig lag für den 1. Mai 2020 in Erfurt bereits seit längerem eine Anmeldung für eine Kundgebung der neonazistischen Kleinstpartei Der Dritte Weg mit bundesweiter Mobilisierung vor. Letztlich wurde die Veranstaltung der Neonazis abgesagt. Die Abwägung zwischen der Notwendigkeit demokratischen Protests auf der einen und dem Einhalten der Infektionsschutzmaßnahmen auf der anderen Seite stellte für die demokratische Zivilgesellschaft eine enorme Herausforderung dar. Eine der ersten Initiativen, die das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit einforderte, war die Initiative Seebrücke. Bereits am 21. April 2020 demonstrierten Aktivist*innen in Jena unter dem Motto #LeaveNoOneBehind unter selbst auferlegten Infektionsschutzmaßnahmen, um auf die Situation Geflüchteter aufmerksam zu machen. Es folgten weitere Demonstrationen am 25. April 2020 in Erfurt und Weimar. Während die sogenannten Hygienedemos Anfang Mai trotz anfänglich niedriger Teilnehmendenzahlen sehr präsent in der Berichterstattung auftauchten, fanden die Aktionen demokratischer Akteur*innen, die tatsächlich für Demonstrationsfreiheit und die Einhaltung von Grundrechten stritten, wenig mediale Beachtung. Auch der polizeiliche Umgang mit Demonstrationen während des ersten Lockdowns war unterschiedlich: Während die Ordnungsbehörden bei den Protesten der Pandemie-Leugner*innen von Beginn an auf eine Deeskalationsstrategie setzte, wurde zum Beispiel die Demonstration der Initiative Seebrücke am 21. April aufgelöst (DPA 2020).
Mit den Lockerungen der Einschränkungen und dem flächendeckenden Auftreten der Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen stellte sich spätestens ab Mai zunehmend die Frage der Einordnung dieser Proteste und wirksamer Gegenstrategien. Vor allem die anfängliche Heterogenität des Protests und die unklaren Hintergründe der Initiator*innen erschwerten die Debatte zum Umgang damit. Nachdem im Laufe des Protestgeschehens deutlicher wurde, wie stark die Proteste von Anfang an durch antidemokratische Ideologien und Akteur*innen geprägt waren, fanden vereinzelt Gegenproteste statt. Neben klassischen Gegendemonstrationen unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen wurden auch alternative und künstlerische Protestformen erprobt. Mehrere Thüringer Städte nahmen an der bundesweiten Aktion #SoGehtSolidarisch teil und bildeten Menschenketten um Solidarität mit denjenigen zu üben, die besonders von den Folgen der Pandemie betroffen sind. Mit einer Kunstinstallation in Form von Grabsteinen gedachte das Aktionsbündnis Zaunrüttlär aus Arnstadt der Corona-Toten und blockierte gleichzeitig den Platz, den die Pandemieleugner*innen sonst für ihre nicht angemeldeten Kundgebungen in Arnstadt genutzt hätten. Durch verschiedene Formen von Öffentlichkeitsarbeit machten zivilgesellschaftliche Akteur*innen auf die Radikalisierungstendenzen der Pandemieleugner*innen-Szene aufmerksam. Diese zahlreichen Hinweise und die sich daraus ergebenden Gefahren wurden von den Ordnungs- und Sicherheitsbehörden lange unterschätzt. Beobachter*innen der Proteste berichteten mehrfach davon, dass Ordnungsbehörden die bewussten Verstöße gegen Auflagen toleriert hätten (Carl 2020).
Fazit
Die extreme Rechte in Deutschland war 2020 so aktiv wie lange nicht. Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen, die im Kern nur der Vorwand für den Versuch einer antidemokratischen Revolte sind, haben bundesweit eine extrem rechte Mischszene in der Aktionseinheit auf der Straße zusammengebracht. Die Proteste dieses sehr heterogenen Spektrums aus Pandemie-Leugner*innen hat seine Wurzeln im digitalen Raum, wo zahlreich Fakenews, faschistische Untergangserzählungen und Diktatur-Gleichsetzungen verbreitet werden. Dennoch ist dieser Protest nicht im digitalen Raum verblieben, sondern fand sehr früh seinen Weg auf die Straße. Im Herbst 2020 wurden diese dann durch die Querdenken-Bewegung zentralisiert und mit bundesweiten Kundgebungen in Berlin oder Leipzig zusammengefasst. Das teils inkonsequente Vorgehen der Behörden hat dabei auch ermutigende Effekte auf die Demonstrant*innen gehabt. Die klassische Neonazi-Szene hat keine Führungsrolle bei den Protesten, versucht diese aber zu nutzen. Neben Neonazis finden sich Reichsbürger*innen, Verschwörungsideolog*innen, rechte Esoteriker*innen in der Querdenken-Bewegung wieder. Bedeutender als die Straßenproteste scheint die v.a. digitale Verbreitung extrem rechter Ideologien in der Krise zu sein. Besonders Diktaturvergleiche und Antisemitismus sind weit verbreitet. Zugleich nimmt die gesellschaftliche Polarisierung zu: Die strategischen Diskussionen der Neuen Rechten fokussieren die Ausnutzung einer wirtschaftlichen Krise im Nachgang der Pandemie. Den darauf bezogenen Agitations- und Mobilisierungsversuchen sollte perspektivisch besondere Aufmerksamkeit gelten.
1 Die im Folgenden aufgeführten extrem rechten Primärquellen werden aufgrund der Verbreitung dieser Inhalte nicht verlinkt. Außerdem sind viele der Videos nicht mehr online.
Literatur
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Neue Verschwörungserzählung: „The Great Reset“ – Angst vor digitaler Gesundheitsdiktatur. Online: www.belltower.news/neue-verschwoerungserzaehlung-the-great-reset-angst-vor-digitaler-gesundheitsdiktatur-108059/ [20.03.2020].
Berg, Guido (2020):
Wie „König Peter I.“ Querdenken-Vertreter in Saalfeld trifft. Online: www.otz.de/regionen/saalfeld/koenig-peter-i-peter-fitzek-traf-querdenken-vertreter-michael-ballweg-in-saalfeld-id230927214.html [20.12.2020].
Bergholz, Andreas (2021):
„Querdenken“-Chef Ballweg: Nach Reichsbürger-Treffen jetzt Konto bei Reichsbürgerbank. Online: www.volksverpetzer.de/aufklarer/querdenken-ballweg-reichsbuerger/ [29.03.2021].
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DPA-Meldung (2020):
Anti-Corona-Bestimmungen: Polizei löst Demonstration auf. Online: www.sueddeutsche.de/politik/demonstrationen-jena-anti-corona-bestimmungen-polizei-loest-demonstration-auf-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200422-99-797250 [29.03.2020].
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Unter Druck. Pressefreiheit in Gefahr. Online: taz.de/Pressefreiheit-in-Gefahr/!5758599/ [29.03.2021].
Haak, Sebastian (2020):
Geht gar nicht: Corona-Leugner bedrohen Schulleiter. Online: www.insuedthueringen.de/inhalt.thueringen-geht-gar-nicht-corona-leugner-bedrohen-schulleiter.a764050c-628d-4c9e-8c2d-65d6d4127232.html [20.12.2020].
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Wenn Rechte für die ‚Freiheit‘ kämpfen. Corona-Politik der AfD. Online: www.zeit.de/2020/48/corona-politik-afd-rechtspopulismus-querdenken-positionierung [20.12.2020].